# taz.de -- Rot-grün-gelbe Sondierungen beendet: Die Ampel steht auf Gelb | |
> Die Sondierungen waren erfolgreich. SPD, Grüne und FDP haben sich auf die | |
> Aufnahme von Koalitionsverhandlungen geeinigt. | |
Bild: Annalena Baerbock, Olaf Scholz und Christian Linder gegen Tempolimit | |
BERLIN taz | Früher als gedacht, gegen 13 Uhr, treten die Parteispitzen von | |
SPD, Grünen und FDP am Freitag in Berlin vor die Mikrofone. Das grüne | |
Spitzenduo Annalena Baerbock und Robert Habeck, SPD-Kanzlerkandidat Olaf | |
Scholz und seine beiden Parteivorsitzenden Saskia Esken und Nobert | |
Walter-Borjans sowie FDP-Chef Christian Lindner stellen sich nebeneinander | |
vor eine graue Wand und gucken zufrieden in die Kameras. | |
Sie sehen erstaunlich frisch aus dafür, dass sie nach eigener Aussage | |
letzte Nacht bis in die frühen Morgenstunden gemeinsam gegrübelt haben. | |
Aber am letzten Sondierungstag haben sie eine frohe Botschaft zu verkünden. | |
Sie wollen gemeinsam Koalitionsgespräche aufnehmen. Das heißt: Die erste | |
bundesweite Ampelregierung ist wieder ein Stück wahrscheinlicher geworden. | |
Es müssen aber noch die jeweiligen Parteigremien zustimmen, dann können die | |
Verhandlungen beginnen. | |
Olaf Scholz hat das erste Wort. Mit gewohnt neutraler Miene spricht er von | |
„Aufbruch“ und verkündet, dass die Ergebnisse der Sondierungsgespräche in | |
einem 12-seitigen Papier festgehalten wurden. Einig sind sich alle, die | |
Gesprächsatmosphäre war toll und respektvoll. | |
FDP-Chef Lindner, dem ja lange die Fantasie fehlte für ein Ampelbündnis, | |
ist ganz und gar überzeugt, „dass es lange Zeit keine vergleichbare Chance | |
gegeben hat, Gesellschaft, Wirtschaft und Staat zu modernisieren“. Und | |
Grünen-Chefin Annalena Baerbock betont, dass das Land „eine wirkliche | |
Erneuerung“ brauche und keinen „kleinsten gemeinsamen Nenner“. Bei drei | |
unterschiedlichen Parteien sei es wichtig, „dass jeder auch mal was gibt“. | |
Nehmen und Geben, diese Worte fallen öfter, genauso wie „Fortschritt“. | |
## Einige Punkte noch offen | |
Das klingt alles gut, und nach einer langen Phase der Verschwiegenheit | |
während der Sondierungsgespräche zeigen sich die Politiker:innen | |
wieder gesprächiger. Nur das Papier, auf das alle gewartet haben, lässt | |
dennoch genügend Fragen offen. Aber die Ampelverhandler:innen haben | |
sich bereits auf ein paar Kernpunkte verständigt. | |
Ein zentraler Deal: Die SPD bekommt die Erhöhung des Mindestlohnes auf 12 | |
Euro – und zwar im ersten Jahr der Ampelregierung. Die FDP hat das | |
akzeptiert und dafür bei Mini- und Midijobs Flexibilisierungen heraus | |
gehandelt. Die Midijob-Grenze soll auf 1.600 Euro erhöht werden. Die | |
Minijobgrenze soll mit der Anhebung des Mindestlohns bei 520 Euro liegen. | |
Der Mindestlohn war eine rote Linie der SPD. Für die FDP waren | |
Steuererhöhungen ein No-go. Und so wird eine Vermögensteuer auch nicht | |
kommen. Der Spitzensteuersatz wird für Superreiche ebenfalls nicht | |
angehoben. Im Gegenzug ist aber auch von dem Lieblingsprojekt der FDP – der | |
Abschaffung des Soli für Reiche, die 10 Milliarden kosten würde – nicht die | |
Rede. | |
Ein Kompromisslinie zeichnet sich bei der Rente ab. Die Rente mit 67 | |
bleibt, ebenso das Rentenniveau von 48 Prozent. Bei beidem hatte die SPD im | |
Wahlkampf Stein und Bein geschworen. Die FDP, die schon lange mehr Aktien | |
in der Rente haben will, hat sich indes bei der Zusatzversicherung | |
teilweise durchgesetzt. Lindner verkündete entsprechend stolz in der | |
Pressekonferenz, dass damit der Einstieg in die „Kapitaldeckung der | |
Gesetzlichen Rentenversicherung“ beschlossen sei. Allerdings mit der | |
Betonung auf „Einstieg“. | |
## Dubioses Bürgergeld | |
Eher diffus liest sich, was die Ampel bei Hartz IV vorhat. Das soll fortan | |
Bürgergeld heißen – aber ob es einen neuen Namen verdient, bleibt noch | |
abzuwarten. Vielleicht sollen die während der Coronakrise geltenden | |
Regelungen zu Schonvermögen und zur Wohnungsgröße bleiben. Und, ein | |
FDP-Wunsch, vielleicht sollen die Empfänger des Bürgergeldes mehr nebenbei | |
jobben dürfen.Was auch nach einer FDP-Note riecht: Die drei Parteien | |
erwägen eine begrenzte Möglichkeit zur Abweichung von den derzeit | |
bestehenden Regelungen des Arbeitszeitgesetzes hinsichtlich der | |
Tageshöchstarbeitszeit. | |
Beim Thema Modernisierung werden sich die Parteien wohl schnell einig | |
geworden sein: Alles soll flotter und digitaler werden. Konkret heißt das: | |
Die Verfahrensdauer von Verwaltungs-, Planungs und Genehmigungsverfahren | |
soll sich halbieren. | |
Beim Streitpunktthema Klimaschutz sieht es komplizierter aus. Was wird aus | |
dem von den Grünen so vehement geforderten Tempolimit auf Autobahnen? | |
Nichts: mal eine klare Ansage: „Ein generelles Tempolimit wird es nicht | |
geben.“ | |
Dafür wird aber ein beschleunigter Ausstieg aus der Kohleverstromung für | |
nötig befunden. „Idealerweise gelingt das schon bis 2030“, heißt es im | |
Papier. Die Errichtung moderner Gaskraftwerke und der Ausbau der | |
erneuerbaren Energien sollen den steigenden Strom- und Energiebedarf | |
decken. 2 Prozent der Landesflächen sollen für Windkraft ausgewiesen | |
werden. Solaranlagen sollen auf alle Dächer, bei gewerblichen Neubauten | |
verpflichtend, bei privaten Neubauten soll es die Regel werden. Das sei | |
auch ein Konjunkturprogramm für Mittelstand und Handwerk. | |
Dennoch fällt beim Thema Klimaschutz auf, dass das Wording der Grünen | |
übernommen wurde: Deutschland soll „auf den 1,5-Grad-Pfad“ gebracht werden. | |
Noch im Jahr 2022 soll das Klimaschutzgesetz weiterentwickelt werden und | |
ein Sofortprogramm entstehen. Berücksichtigt werden sollen alle Sektoren: | |
Verkehr, Bauen und Wohnen, Stromerzeugung, Industrie und Landwirtschaft. | |
Das Brennstoffemissionshandelsgesetz soll im Sinne des EU-Programms „Fit | |
for 55“ überarbeitet werden. Um die Stromkosten für private Haushalte und | |
Betriebe zu senken, soll im Laufe der Legislaturperiode die Finanzierung | |
der EEG-Umlage über den Strompreis so schnell wie möglich beendet werden. | |
Was namentlich aber nicht auftaucht: das [1][sogenannte Energiegeld, mit | |
dem die Grünen eigentlich einen sozialen Ausgleich geplant haben]. Das wird | |
bei den Koalitionsverhandlungen noch ein strittiger Punkt werden. | |
## Pflege soll in Augenschein genommen werden | |
Die in der Corona-Krise viel beklatschten Pfleger:innen kommen im Papier | |
auch vor. Aber es bleibt luftig: Geplant ist eine „Offensive für mehr | |
Pflegepersonal“, „angemessene Löhne“ und „gute Arbeitsbedingungen. Das | |
System der Krankenhausfinanzierung soll weiterentwickelt werden, Ziel ist | |
mehr Vernetzung von Gesundheitseinrichtungen. Die Bürgerversicherung, mit | |
der SPD und Grüne noch Wahlkampf gemacht hatten, ist hingegen beerdigt: | |
„Die gesetzliche und die private Kranken- und Pflegeversicherung bleiben | |
erhalten.“ | |
Dafür sollen Familien künftig mehr Unterstützung erhalten. Die Kinder, die | |
insbesondere Baerbock im Wahlkampf immer wieder erwähnte, werden im Papier | |
gewürdigt. „Wir wollen mehr Kinder aus Armut holen“, heißt es darin. In | |
einem „Neustart der Familienförderung“ sollen Leistungen in einer | |
„Kindergrundsicherung“ gebündelt und automatisiert ausgezahlt werden. Und: | |
Kinderrechte sollen im Grundgesetz verankert werden. | |
Kompromisse gibt es beim Thema Wohnen, wo die Vorstellungen zwischen SPD, | |
Grünen und vor allem FDP weit auseinander liegen. Es soll auf jeden Fall | |
gebaut werden: 400.000 neue Wohnungen sollen pro Jahr entstehen, davon | |
100.000 öffentlich geförderte. Dazu soll es ein „Bündnis bezahlbarer | |
Wohnraum“ mit allen Akteuren geben. Für angespannte Märkte sollen geltende | |
Mieterschutzregelungen evaluiert und verlängert werden. Von einem | |
Mietenmoratorium, mit dem Mieten begrenzt werden könnten, ist nicht die | |
Rede. Überraschend ist das nicht. FDP und Unionsabgeordnete hatten schon | |
gegen den Berliner Mietendeckel in Karlsruhe geklagt. Dafür soll eine neue | |
Wohngemeinnützigkeit bezahlbaren Wohnraum schaffen – da haben SPD und Grüne | |
ihre Punkte gemacht. | |
Gesellschaftspolitisch ist mit einer Modernisierung zu rechnen, auch wenn | |
die [2][viel diskutierte Cannabislegalisierung] keine Erwähnung findet. Ins | |
Grundgesetz soll ein Verbot der Diskriminierung wegen der sexuellen | |
Identität kommen, der Begriff „Rasse“ soll ersetzt werden. Ein modernes | |
Staatsbürgerschaftsrecht soll her, ebenso ein Demokratiefördergesetz. Und: | |
Das Alter für Bundestagswahlen und Europawahlen soll von 18 auf 16 Jahre | |
sinken. Beim Thema Flucht wird die „humanitäre Verantwortung“ betont. | |
„Daraus leiten wir die Aufgabe ab, mit den europäischen Partnern | |
Anstrengungen zu unternehmen, das Sterben auf dem Mittelmeer genauso wie | |
das Leid an den europäischen Außengrenzen zu beenden“ heißt es im Papier. | |
Asylverfahren und Familienzusammenführungen sollen beschleunigt werden, | |
Abschiebungen aber auch. | |
Wer welche Ministerposten bekleiden wird, ist noch offen. Aber wenn alles | |
gut läuft, soll die neue Regierung laut Olaf Scholz bis Weihnachten stehen. | |
Bei den Grünen wird sich am Samstag ein kleiner Parteitag mit dem Ergebnis | |
der Sondierungen befassen. Die FDP-Unterhändler:innen wollen den | |
Parteigremien am Montag die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen | |
empfehlen. Der SPD-Parteivorstand segnete die Entscheidung noch am | |
Freitagnachmittag ab. | |
15 Oct 2021 | |
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[1] /Hoehere-Kosten-fuer-Heizung-und-Strom/!5807803 | |
[2] /Debatte-ueber-Cannabis-Legalisierung/!5804552 | |
## AUTOREN | |
Jasmin Kalarickal | |
Stefan Reinecke | |
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