| # taz.de -- Grüne Jugend über Koalitionsgespräche: „Die Ampel ist kein Aut… | |
| > Ohne sozialen Ausgleich funktioniere die ökologische Wende nicht, sagen | |
| > die Bundessprecher der Grünen Jugend, Sarah-Lee Heinrich und Timon | |
| > Dzienus. | |
| Bild: Die Grüne Jugend möchte dem Koalitionsvertrag nur zustimmen, wenn sich … | |
| taz: Frau Heinrich, Herr Dzienus, die Koalitionsverhandlungen laufen seit | |
| vergangener Woche. Aber schon jetzt ist erkennbar, wie die Ampel-Politik | |
| aussehen wird. Gefällt Ihnen, was Sie sehen? | |
| Sarah-Lee Heinrich: Wenn ich mir das Sondierungspapier anschaue, ist für | |
| eine Gruppe ganz klar, dass für sie gesorgt wird: nämlich vermögende und | |
| sehr reiche Menschen. Sie brauchen keine Steuererhöhungen zu fürchten. | |
| Andere Gruppen, etwa arme Menschen, müssen zittern. Die Ideen, die ihnen | |
| nutzen, sind nicht konkret genug. Das muss sich ändern. Wir erwarten von | |
| den Koalitionsverhandlungen, dass endlich auch Politik im Interesse all | |
| jener Gruppen gemacht wird, die in den letzten Jahren immer wieder | |
| vergessen wurden. | |
| Timon Dzienus: Für uns ist klar: Es darf niemand unter die Räder kommen. | |
| Auch für Menschen mit geringerem Einkommen muss es deutliche Verbesserungen | |
| geben. Sonst macht die Ampel keinen Sinn. | |
| Fangen wir mit dem Klimaschutz an. Fridays for Future sagt, dass das | |
| Sondierungspapier für das 1,5-Grad-Ziel nicht reicht. Haben die | |
| AktivistInnen recht? | |
| Dzienus: Ein paar erste gute Maßnahmen sind drin. Der Kohleausstieg bis | |
| 2030, das Aus für den Verbrennungsmotor, das Bekenntnis, Deutschland auf | |
| den 1,5-Grad-Pfad zu bringen. Das ist eine Abkehr von der Groko-Politik. | |
| Aber an einigen Punkten muss nachgeschärft werden. | |
| Wo genau sollte nachgebessert werden? | |
| Dzienus: Es reicht nicht, den Kohleausstieg bis 2030 anzukündigen. Die | |
| Koalition muss den Weg dorthin präzise beschreiben, also: Bis wann müssen | |
| wie viele Gigawatt vom Netz? Dabei gilt die Maßgabe: Wenn anfangs schnell | |
| viel Kohlekraft stillgelegt wird, sind wir hinten raus entspannter. Wir | |
| fordern den sofortigen Stopp des Baus aller Autobahnen. Das hilft dem Klima | |
| sofort. Das gesparte Geld muss 1:1 in den ÖPNV und den Ausbau des | |
| Bahnnetzes gesteckt werden. | |
| Robert Habeck findet es okay, der FDP das Tempolimit zu schenken, weil es | |
| für den Klimaschutz vernachlässigbar sei. Wie sehen Sie das? | |
| Dzienus: Das Tempolimit wäre eine „low hanging fruit“ gewesen, also ein | |
| sehr einfach umzusetzendes Projekt. Es spart zwei Millionen Tonnen CO2 im | |
| Jahr und hätte für niemanden eine ernsthafte Einschränkung bedeutet. Wenn | |
| die FDP unbedingt Politik für Autofahrer will, soll sie es an dem Punkt | |
| machen. Aber dafür müssen andere Maßnahmen verschärft werden. | |
| Welche Maßnahmen meinen Sie? | |
| Dzienus: Die Erneuerbaren müssen so massiv ausgebaut werden, dass sich | |
| Kohlekraftwerke schnell von selbst erledigen. Der Ausbau des öffentlichen | |
| Nahverkehrs ist extrem wichtig. 55 Millionen Menschen in Deutschland steht | |
| kein ausreichender ÖPNV zur Verfügung. Da ist es nur logisch, dass die | |
| Leute auf dem Land weiter Autos kaufen. Hier ist mir das Papier zu | |
| unambitioniert. | |
| Auffällig ist, dass der CO2-Preis im Sondierungspapier fehlt – und das | |
| Energiegeld, das die Grünen als Ausgleich für steigende Energiekosten an | |
| die Menschen zurückzahlen wollten. Werden Sie auf diesem Ausgleich | |
| bestehen? | |
| Dzienus: Ohne sozialen Ausgleich funktioniert die ökologische Wende nicht. | |
| Wir wollen die Einnahmen aus dem CO2-Preis an die BürgerInnen zurückzahlen. | |
| Jeder bekäme einmal im Jahr eine automatische Zahlung. Diese Maßnahme ist | |
| entscheidend, um alle bei der ökologischen Wende mitzunehmen. | |
| Heinrich: Man kann es noch schärfer formulieren: Eine CO2-Preiserhöhung | |
| ohne sozialen Ausgleich tragen wir als Grüne Jugend nicht mit. Klimaschutz | |
| darf nicht auf dem Rücken der arbeitenden Bevölkerung ausgetragen werden. | |
| Vertrauen Sie Olaf Scholz beim Klimaschutz? Das Thema hat ihn früher nicht | |
| sonderlich interessiert. | |
| Heinrich: Wenn man Klimakanzler plakatiert, muss man auch Klimakanzler | |
| sein. Olaf Scholz kann sich nicht mehr herausreden. | |
| Das neue Bündnis verspricht eine Kindergrundsicherung, die Kinder aus der | |
| Armut holt. Wie hoch muss sie sein? | |
| Heinrich: Eins ist entscheidend: Kinder sind arm, weil ihre Eltern arm | |
| sind. Und die Eltern sind arm, weil sie viel zu wenig verdienen. Armut ist | |
| keine individuelle Schuldfrage, und man kann Kinderarmut nicht isoliert | |
| betrachten. Ich bin selbst mit Hartz IV aufgewachsen – und durfte mir als | |
| Jugendliche zum Beispiel nichts dazuverdienen. | |
| Welche Summe halten Sie bei der Kindergrundsicherung für angemessen? | |
| Heinrich: Nach dem Konzept der Grünen gäbe es einen Garantiebetrag von 290 | |
| Euro im Monat für jedes Kind, der automatisiert ausgezahlt würde. Dazu gäbe | |
| es einen variablen Betrag, je nach Bedürftigkeit. Kinder in armen Familien | |
| bekämen so bis zu 547 Euro im Montag. An dieser Summe muss sich die Ampel | |
| orientieren. | |
| Die Koalition will Hartz IV durch ein Bürgergeld ersetzen. Welche | |
| Forderungen haben Sie hier? | |
| Heinrich: Die Sanktionen für Arbeitslose müssen weg, und zwar komplett. Ein | |
| System, das bei der Grundsicherung auf Zwang und Strafen setzt, ist | |
| menschenfeindlich. Die Jobcenter müssen wertschätzend und auf Augenhöhe mit | |
| den Menschen umgehen. Die Hinzuverdienstgrenzen müssen deutlich angehoben | |
| werden. Und die Regelsätze müssen steigen. Ein Erwachsener bekommt im | |
| Moment 446 Euro im Monat. Damit ist ein würdiges Leben nicht möglich. | |
| Sozialverbände sagen, dass der Regelsatz bei mindestens 600 Euro liegen | |
| müsste, um das soziokulturelle Existenzminimum zu gewährleisten. Sehen Sie | |
| das auch so? | |
| Heinrich: Ja. Der aktuelle Regelsatz ist künstlich kleingerechnet. Wir | |
| brauchen eine ganz neue Berechnung. Die Berechnungen von der | |
| Grünen-Bundestagsfraktion und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband liegen | |
| zwischen 600 bis 650 Euro im Monat. | |
| Halten Sie das in der Ampel für durchsetzbar? Die Leidenschaft der SPD für | |
| höhere Regelsätze ist begrenzt, die der FDP sowieso. | |
| Heinrich: Wir erwarten von SPD und FDP, dass sie Menschen nicht mehr | |
| wissentlich unter dem Existenzminimum leben lassen. Sie müssen sich hier zu | |
| einem Kurswechsel bekennen, wenn sie mit den Grünen regieren wollen. | |
| Im Grünen-Wahlprogramm wird ein Aufschlag von nur 50 Euro gefordert. Das | |
| läge ja auch unter dem Existenzminimum, das Sozialverbände und Sie | |
| definieren. | |
| Heinrich: Die 50 Euro wären ein erster Schritt. Weitere Schritte müssten in | |
| dieser Legislaturperiode folgen, bis das echte Existenzminimum erreicht | |
| ist. | |
| Warum müssen die Sanktionen komplett weg? | |
| Heinrich: Die allermeisten Menschen sind unfreiwillig arbeitslos. Viele | |
| finden einfach keinen Job, der zu ihnen passt. Es geht also um ein | |
| strukturelles Problem. Individuen dafür zu bestrafen, ist nicht hinnehmbar. | |
| Der Ausgangspunkt sollte immer sein,sich zu fragen, was diejenigen in | |
| Arbeitslosigkeit gerade brauchen. Das kann ein passendes Jobangebot, eine | |
| gute Weiterbildung sein. Manchmal ist es vielleicht auch eine Therapie, | |
| weil es ihnen psychisch schlecht geht. Gerade geht es aber vor allem darum, | |
| Menschen so schnell wie möglich auf den Arbeitsmarkt zu bringen, auch wenn | |
| das 1-Euro-Job und Niedriglohnsektor bedeutet. | |
| Glauben Sie, dass die SPD da mitmacht? Gerhard Schröders Denken, es gebe | |
| kein Recht auf Faulheit, steckt tief drin in der Sozialdemokratie. | |
| Heinrich: Arbeitslose sind auch ArbeiterInnen, sie haben nur gerade keinen | |
| Job. Eine Partei, die von sich sagt, sie vertrete die ArbeiterInnen, sollte | |
| sich das zu Herzen nehmen. Für Arbeitslose zu kämpfen gehört zu linker | |
| Politik dazu. | |
| Auf die Frage, ob Jobcenter angesichts steigender Energiepreise die | |
| Heizkosten komplett übernehmen sollten, hat Robert Habeck gesagt: | |
| „Vollständige Übernahme lädt immer dazu ein, dass man dann die Heizung | |
| aufdreht und das Fenster aufmacht sozusagen.“ Wie finden Sie das? | |
| Heinrich: Wir als Grüne Jugend sind für die vollständige Übernahme der | |
| Heizkosten durch die Jobcenter. Sie sorgt dafür, dass die Menschen am Ende | |
| des Monats noch genug Geld haben, um über die Runden zu kommen. Menschen in | |
| Hartz IV handeln nicht per se unverantwortlich oder unvernünftig. | |
| Habeck hat also Unfug erzählt? | |
| Dzienus: Wir teilen seine Position nicht. | |
| Sie vertreten die junge Generation. Welches Thema kommt Ihnen in der | |
| bisherigen Debatte zu kurz? | |
| Heinrich: Die Ausbildung fehlt uns. Junge Menschen, die eine Ausbildung | |
| machen wollen, können nicht in Unsicherheit gelassen werden, ob sie einen | |
| Ausbildungsplatz finden, ob die Vergütung zum Leben reicht. Die nächste | |
| Regierung muss deshalb eine umlagefinanzierte Ausbildungsplatzgarantie | |
| einführen. Alle Unternehmen würden in einen Fonds einzahlen, der diese | |
| Garantie finanziert. | |
| Dzienus: Bei der Mietenpolitik ist das Sondierungspapier viel zu | |
| vorsichtig. Da steht nur, dass bisherige Maßnahmen evaluiert und | |
| fortgesetzt werden sollen. Aber die derzeitige Mietpreisbremse ist zahnlos. | |
| Studierende und junge Familien können jetzt schon in vielen Städten die | |
| Mieten nicht mehr bezahlen. Wir wollen ein Mietpreismoratorium oder eine | |
| massive Verschärfung der Mietpreisbremse, Maßnahmen also, die die | |
| explodierenden Mieten stoppen. | |
| Was tun Sie, wenn Sie Ihre Forderungen nicht durchsetzen können? | |
| Dzienus: Alle Grünen-Mitglieder werden am Ende über den Koalitionsvertrag | |
| abstimmen. Die Grüne Jugend hat fast 20.000 Mitglieder. Wir stimmen dem | |
| Koalitionsvertrag nur zu, wenn sich für die Menschen spürbar etwas | |
| verbessert – und das Klima geschützt wird. Die Ampel ist kein Automatismus. | |
| Sie drohen der Grünen-Spitze? | |
| Heinrich: Uns ist klar, dass die Grüne Partei und die Grünen | |
| Verhandler*innen hinter vielen dieser Anliegen stehen. Das heißt, der | |
| öffentliche Druck muss sich auch auf FDP und SPD richten. Die öffentliche | |
| Meinung ist bei vielen Themen auf unserer Seite, etwa bei der Mietenfrage. | |
| Wir brauchen soziale Verbesserungen, die Menschen in ihrer Lebensrealität | |
| spüren. Unser Ziel ist, zu einer Vereinbarung zu kommen, der man zustimmen | |
| kann. Aber wenn am Ende ein Bündnis steht, dass im Kern Groko-Politik | |
| macht, ist eine weitere Groko ehrlicher. | |
| Würden Sie einen Finanzminister Christian Lindner mittragen? | |
| Heinrich: Zunächst geht es uns darum, dass sich im Koalitionsvertrag sowohl | |
| die Investitionen als auch die sozialen Verbesserungen wiederfinden. Daran | |
| wird sich dann jeder zukünftige Finanzminister halten müssen. Dass wir die | |
| finanzpolitischen Vorstellungen der FDP nicht teilen, ist bekannt und damit | |
| sind wir nicht allein, wie man ja letztens im Artikel des | |
| Wirtschaftsnobelpreisträgers lesen konnte. | |
| 1 Nov 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Schulte | |
| André Zuschlag | |
| ## TAGS | |
| IG | |
| Schwerpunkt Armut | |
| Schwerpunkt Klimawandel | |
| Hartz IV | |
| Koalitionsverhandlungen | |
| Grüne Jugend | |
| Grüne Jugend | |
| Annalena Baerbock | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| Ampel-Koalition | |
| Ampel-Koalition | |
| Ampel-Koalition | |
| cancel culture | |
| Ampel-Koalition | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Parteinachwuchs zur Ampel: Die Stimmungskiller | |
| Die Freude von Jusos und Grüner Jugend über die Ampelkoalition ist | |
| begrenzt. Ihren Frust laden sie beim Koalitionspartner FDP ab. | |
| Soziale Gerechtigkeit mit der Ampel: Haben Kinder nun Priorität? | |
| Die Ampel will mit einer Kindergrundsicherung armen Familien helfen. Vor | |
| allem den Grünen war das wichtig. Ob es klappt? | |
| Streit in Koalitionsverhandlungen: Ampelfrust bei den Grünen | |
| Nach der ersten Euphorie zieht bei Robert Habecks Leuten Ernüchterung ein. | |
| Zweifel wachsen, ob es gelingt, 1,5-Grad-taugliche Politik zu formulieren. | |
| Olaf Scholz und die Ampel-Koalition: Klimakanzler oder gar nicht | |
| Es ist ein falscher Reflex, nur die Grünen für mäßigen Klimaschutz in der | |
| Ampel zu verhaften. Verantwortlich ist vor allem auch der Chef, Olaf | |
| Scholz. | |
| Ampelkoalition und Menschenrechte: Grüne Staatsraison | |
| Einige verstehen unter radikalem Klimaschutz neue Weltbürgerlichkeit und | |
| Abbau weißer Privilegien. Die werden von der Ampel frustriert sein. | |
| Bürgergeld in Koalitionsverhandlungen: Es geht ums Geld | |
| Das Bürgergeld soll Hartz IV ersetzen. Trotz Streit um das soziale | |
| Kernversprechen der neuen Koalition zeichnet sich allmählich ab, was | |
| geplant ist. | |
| Shitstorm gegen Sarah-Lee Heinrich: Rechtsextreme „Cancel Culture“ | |
| Kampagnen wie die gegen Heinrich zielen auf Unsichtbarmachung und | |
| Verdrängung. Dafür müssen wir Gegenstrategien entwickeln. | |
| Rot-grün-gelbe Sondierungen beendet: Die Ampel steht auf Gelb | |
| Die Sondierungen waren erfolgreich. SPD, Grüne und FDP haben sich auf die | |
| Aufnahme von Koalitionsverhandlungen geeinigt. |