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# taz.de -- Ampelkoalition und Menschenrechte: Grüne Staatsraison
> Einige verstehen unter radikalem Klimaschutz neue Weltbürgerlichkeit und
> Abbau weißer Privilegien. Die werden von der Ampel frustriert sein.
Bild: Die Ampel im Regierungsviertel
Dieser Tage habe ich einen neuen Begriff gelernt: Erwartungsmanagement.
Gemeint ist damit, die Wähler und Wählerinnen der Grünen darauf
vorzubereiten, welchen Verdruss ihnen die künftige Regierung bereiten wird.
Ich will mich hier ein wenig am Management beteiligen, und zwar in einem
Bereich, über den wenig gesprochen wird, die internationale Politik.
Die Regierungsgrünen werden eine transatlantische Pro-Nato-Partei sein, die
Nato ist ihnen unverzichtbar, so steht es im [1][Sondierungspapier], dem
Vorvertrag der Koalitionäre. Wer das unterschreibt, der weiß natürlich,
dass die Allianz dabei ist, sich neu auszurichten; sie steht künftig nicht
nur wie bisher gegen Russland, sondern auch gegen China. Und zu einer
atomwaffenfreien Welt möchte das Bündnis keinesfalls beitragen.
[2][Bewaffnete Drohnen:] Die Sozialdemokraten haben sich zum Umfallen viel
Zeit gelassen. So viel Zeit haben die Grünen nicht. Ich las in einem
Zeitungskommentar, wer diese Drohnen nicht wolle, sei als Minister:in
bei der Truppe untragbar. Das stellt zwar das Prinzip der zivil geführten
Armee auf den Kopf, aber ähnlich schallt es nun von allen Seiten. Die
Weichen sind längst gestellt, Personal wird in den USA und Israel
ausgebildet.
Die Regierungsgrünen sehen also einer Zukunft als Killerdrohnen-Partei
entgegen, verbitten sich aber ebenso wie die SPD solche Polemik. Denn
gezielte Tötungen von Menschen dürfe es nicht geben. Nun waren die
sogenannten gezielten Tötungen vonseiten der US-Kriegsführung derart
ungezielt, dass Tausende Unbeteiligte dabei ums Leben kamen, und gerade
dies war Teil der Niederlage in Afghanistan.
## Unschuldige Opfer bei gezielten Tötungen
Womöglich ist das Falsche an der Drohne nicht (allein) die Waffe, sondern
der Einsatz, für den sie verlangt wird: nicht gewinnbare Kriege gegen
irreguläre, diffuse Feinde. Warum ist es so schwer, dazu Nein zu sagen?
„Die Sicherheit Israels ist für uns Staatsraison.“ Da macht sich die
Ampelkoalition das Merkel’sche Postulat [3][vom März 2008] zu eigen, um zu
signalisieren: Alles weiter wie bisher!
Tatsächlich ist der Merkel-Satz erratisch, denn zur Sicherheit, wie Israel
sie definiert, gehört eben jene Besatzungspolitik, die von der Europäischen
Union verurteilt wird. Dieser Tage flog die Luftwaffe bei einer
deutsch-israelischen Übung, den veröffentlichen Fotos zufolge, über
besetztes Gebiet. Eine gemäß der offiziellen deutschen Position
völkerrechtlich nicht erlaubte Handlung wurde von der Bundeswehr als
Zeichen der Freundschaft beworben, deutsche und israelische Jagdflugzeuge
„Flügel an Flügel“.
Habe ich die Kritik der Grünen überhört? Die Angelegenheit, später eilig
zum „Kulturaustausch“ herabgestuft, wäre eine Gelegenheit gewesen, für ei…
neue, an Bürgerrechten orientierte Nahostpolitik zu werben. Zumal sich die
US-Regierung gerade besorgt über den erneuten Siedlungsausbau im
Westjordanland äußert. Und Siedlungsbau heißt: noch weniger Land,
weniger Wasser für Palästinenser, weniger Straßen, die sie benutzen können
– heißt: die Zwei-Staaten-Lösung unmöglich machen.
## Zweistaatenlösung ist Illusion
Der Philosoph Omri Boehm schreibt, nicht wahrhaben zu wollen, dass dieses
Modell nur noch eine Illusion sei, ähnele dem Leugnen der globalen
Erwärmung. Warum also nicht mehr Mut zu Realismus? Das Problem mit den
Erwartungen an die Grünen ist: Sie selbst haben sie hochgejazzt, als sie
eine Kanzlerkandidatin aufstellten und den Eindruck erweckten, in einem
neuen, diversen und klimabesorgten Deutschland seien sie die
Gestaltungsmacht der Stunde.
Und dann gelingt es ihnen noch nicht einmal, ein Tempolimit durchzusetzen?
Und dabei immer schön cool und elegant vor den Mikrofonen stehen, als
brauche hier um nichts gekämpft zu werden, als sei Leidenschaft keineswegs
am Platze und als messe der Abstand zum aus der Zeit gefallenen
Ordoliberalismus des Herrn Lindner kaum eine halbe Armlänge. Dabei ist ohne
die Grünen keine Regierung möglich. Warum also so wenig Debatte? Woher
rührt die Ruhe, die Vorsicht, der Kleinmut?
Die Organisation „Seebrücke“ stellt immerhin ein Mailtool bereit, damit wir
die Verhandelnden daran erinnern, dass Menschenrechte von Geflüchteten
„unverhandelbar“ seien. Sonst kaum öffentlicher Druck, kaum Begleitmusik
durch die Zivilgesellschaft. Wir haben uns angewöhnt, die Grünen als Partei
der Menschenrechte anzusehen; das ist ja auch nicht falsch – Menschen wie
Claudia Roth haben diesem Anliegen in schwierigen internationalen Kontexten
ein Gesicht gegeben.
Aber die Grünen in der Regierung werden uns das Gleiche wie alle anderen
Regierungen lehren: Menschenrechte sind eine relative Größe. Grüne Minister
und Ministerinnen werden sich künftig Demonstrationen gegenübersehen, wie
es sie gerade in Rom und Glasgow gab, und sie werden dem Vorwurf ausgesetzt
sein, dass sie als Deutsche – global betrachtet – das eine Prozent
vertreten und nicht die Neunundneunzig.
Olaf Scholz sagte beim [4][G20-Gipfel], die Länder Europas hätten sich
bisher darauf verlassen, leistungsfähiger zu sein als andere, aber das
werde sich in 30 Jahren geändert haben. Ignorieren wir an dieser Aussage,
dass es historisch nicht ganz state of the art ist, die Stellung Europas
allein auf „Können“ zurückzuführen. Interessanter ist: Man versteht hier,
was der Kern der Scholz’schen „Fortschrittskoalition“ sein wird: den
Abstand aufrechterhalten.
Durch einen technokratischen Modernisierungsschub dafür sorgen, dass die
deutsche Wirtschaft, die deutsche Gesellschaft und damit unsere Lebensweise
ihre privilegierte Stellung nicht verliert. Das ist nun auch grüne
Staatsraison – und damit ziemlich weit entfernt von dem, wie radikaler
Klimaschutz von anderen gedacht wird: Als undoing dominance. Weil alle das
gleiche Recht an dieser Erde haben.
3 Nov 2021
## LINKS
[1] /Rot-gruen-gelbe-Sondierungen-beendet/!5805657
[2] /Ampel-Koalition-und-bewaffnete-Drohnen/!5806447
[3] https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-von-bundeskanz…
[4] /G20-Gipfeltreffen-in-Rom/!5811888
## AUTOREN
Charlotte Wiedemann
## TAGS
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Drohnenkrieg
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