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# taz.de -- Soziale Gerechtigkeit mit der Ampel: Haben Kinder nun Priorität?
> Die Ampel will mit einer Kindergrundsicherung armen Familien helfen. Vor
> allem den Grünen war das wichtig. Ob es klappt?
Bild: Mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland ist armutsgefährdet
„Die 219 Euro Kindergeld reichen natürlich nicht annähernd, um die Kosten
für die Kinder zu decken“, sagt eine zweifache Mutter aus Köln. „Allein d…
Kita kostet doppelt so viel.“ Zwar helfe der Kinderzuschlag ein bisschen,
aber der sei ziemlich kompliziert zu beantragen. „Es wäre schön, wenn es
diesen ganzen bürokratischen Schnickschnack nicht mehr gäbe.“
So wie der Kölner Mutter geht es in Deutschland vielen Familien mit wenig
Geld. Die Hilfen, die der Staat für Kinder gewährt, sind vielfältig und
unübersichtlich, oft sind sie zu niedrig – und um sie zu bekommen, muss man
einen bürokratischen Wust überwinden. All das könnte bald ein Ende haben,
wenn man dem Versprechen der Ampel-VerhandlerInnen glaubt. SPD, Grüne und
FDP wollen eine Kindergrundsicherung einführen, um Kinder aus der Armut zu
holen.
Vor allem für Annalena Baerbock und die Grünen ist das Projekt ein
Herzensanliegen, sie hatten es im Wahlkampf hochgezogen – und als Priorität
bezeichnet. Aber auch Olaf Scholz hatte sich kurz vor der Wahl entschieden
für eine armutsfeste Kindergrundsicherung ausgesprochen, während die FDP
der Idee gleichgültiger gegenüberstand.
## Das Wirrwarr wird aufgelöst
Die Leidenschaften sind also in der Ampel unterschiedlich verteilt,
dennoch: Der Handlungsdruck ist groß. Mehr als jedes fünfte Kind
beziehungsweise mehr als 2,8 Millionen der unter 18-Jährigen sind laut
einer [1][Studie der Bertelsmann-Stiftung] in Deutschland von Armut
bedroht – das heißt, sie leben in Haushalten, deren Einkommen weniger als
60 Prozent des mittleren Einkommens beträgt.
Aktuell sind die Zuwendungen für Heranwachsende in Deutschland zerstückelt.
Jugendliche in Hartz-IV-Bezug bekommen je nach Alter zwischen 283 und 373
Euro Sozialgeld. Zusätzlich gibt es eine Heizkostenübernahme, und die
Jobcenter zahlen die Mietkosten. Außerdem gibt es Bildungs- und
Teilhabeleistungen, etwa für Schulausflüge oder die Mitgliedschaft in
Sportvereinen.
Eltern mit geringem Einkommen, aber ohne Hartz-IV-Leistungen können
Wohngeld und einen Kinderzuschlag beantragen. Den meisten Familien steht
unabhängig vom Einkommen ein Kindergeld in Höhe von 219 Euro zu.
Gutverdiener bekommen stattdessen einen Kinderfreibetrag. So weit, so
kompliziert und unübersichtlich.
Dieses Wirrwarr soll nun die Kindergrundsicherung auflösen, die Grüne, FDP
und SPD bereits in ihrem Sondierungspapier vereinbart haben. Kindergeld,
Sozialgeld und Kinderzuschlag sollen in einer Leistung zusammengefasst
werden, für die es eben keine komplizierten Anträge braucht. [2][„Das neue
Kindergeld bündelt diese Leistungen und soll automatisiert und
unbürokratisch ausgezahlt werden“, versprach SPD-Chefin Saskia Esken im
taz-Interview.]
## Der Armutsforscher ist skeptisch
Ein Knackpunkt ist die Höhe der Kindergrundsicherung. Sie muss so bemessen
sein, dass sie das Ziel einlöst, Kinder aus der Armut zu holen. Die Grünen
haben bereits 2020 ihr Konzept vorgestellt. Demnach sollen alle Kinder
einen Garantiebetrag von 290 Euro erhalten, der bereits um 71 Euro höher
liegt als das aktuelle Kindergeld. Es profitieren, folgte man dem Konzept,
also alle Familien.
Zusätzlich wollen die Grünen einen variablen GarantiePlus-Betrag einführen,
der vom Einkommen der Eltern abhängig ist und das Hartz-IV-Sozialgeld und
den Kinderzuschlag ersetzt. Ähnlich wie bei Hartz IV ist der maximale
GarantiePlus-Betrag nach Altersgruppen gestaffelt und beträgt zwischen 409
Euro (Kinder von 0 bis 6 Jahren) und 547 Euro (Jugendliche von 14 bis 17
Jahren).
Aber würde eine derartige Neuordnung der Familienförderung das Phänomen
Kinderarmut tatsächlich eindämmen? Der Politikwissenschaftler Christoph
Butterwegge, der seit 25 Jahren zum Thema Kinderarmut forscht, ist
skeptisch und rechnet vor: Ein 14- bis 17-Jähriger im Hartz-IV-Bezug hat
einen Regelbedarf von 373 Euro. Dazu kommen anteilige Miet- und Heizkosten,
aber auch Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket. „Zusammen ergibt
das in einer Stadt mit hohen Mieten locker 500 Euro.“
Die Kindergrundsicherung mit 547 Euro als Höchstbetrag stelle daher für
Kinder im Hartz-IV-Bezug keine große Verbesserung dar, wenn sie etwa in
einer Stadt wie Stuttgart, Wiesbaden oder München wohnten. Denn dort sei
der Differenzbetrag relativ klein. Kinder, die in einem Dorf in
Mecklenburg-Vorpommern leben, hätten hingegen mehr davon. „Eine
Pauschalierung bei den Wohnkosten schafft also neue Ungerechtigkeiten“,
sagt Butterwegge.
## Chefarztkindern geht es materiell ohnehin gut
Ob es zu einer derartigen Pauschalierung kommt, ist ungewiss. Die SPD
spricht in ihrem Programm von einer „Wohnkostenpauschale“, die Grünen
nennen es ebenfalls so. Allerdings wollen Baerbock und Co auf Antrag auch
Mehrbedarf auszahlen. Sollten die Grünen sich durchsetzen, würde die
Grundsicherung in der Tat eine deutliche Verbesserung darstellen. Es kommt
auf die Ausgestaltung an.
Das gilt im Übrigen auch für den künftigen Umgang mit dem Kinderfreibetrag,
der aktuell 2.586 Euro pro Elternteil und Jahr beträgt. Die FDP will diesen
Betrag sogar anheben, was vor allem für gut verdienende Familien einen
Vorteil böte. Christoph Butterwegge empört das.
Er sieht auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum
Kinderfreibetrag kritisch. Karlsruhe habe geurteilt, dass einem Chefarzt
finanzielle Nachteile ausgeglichen werden müssten, die ihm gegenüber
Kinderlosen dadurch entstünden, dass er Kinder habe. „Das ist ein
antiquiertes Gerechtigkeitsverständnis“, sagt der Politikwissenschaftler.
Chefarztkindern gehe es materiell ohnehin gut. „Aber es muss endlich auch
den 2,85 Millionen armen Kindern in Deutschland bessergehen“, so
Butterwegge.
Sowieso ist alles Schall und Rauch, bevor nicht die Frage der
Gegenfinanzierung gelöst ist. Nicht ohne Grund verzichteten die
Ampel-VerhandlerInnen in ihrem Sondierungspapier darauf, eine konkrete
Summe für die Kindergrundsicherung zu nennen. Die Kosten sind hoch. Die
Grünen veranschlagen für ihr Konzept 10 Milliarden Euro im Jahr, aber es
gibt auch deutlich höhere Schätzungen: Das Ifo-Institut rechnet mit Kosten
von 27 bis 33 Milliarden Euro im Jahr.
## Am Hartz-IV-System wird sich nichts ändern
Das Problem: SPD, Grüne und FDP haben sich darauf verständigt, auf
Steuererhöhungen und eine Lockerung der Schuldenbremse zu verzichten. Sie
berauben sich damit wichtiger Geldquellen.
Auch bei der Kürzung umweltschädlicher Subventionen gibt es große
Differenzen zwischen den Parteien. Wie viel Geld der Staat dadurch mehr
einnehmen würde, ist offen. Für zweistellige Milliarden-Mehrausgaben gibt
es deshalb eigentlich keinen Spielraum im Haushalt, zumal die
VerhandlerInnen weitere teure Ideen haben, etwa einen Anstieg der
Rüstungsausgaben.
Eines ist allerdings jetzt schon klar: An der seit Jahren umstrittenen
Gesamtkonstruktion des Hartz-IV-Systems ändert auch eine
Kindergrundsicherung nichts, weil Armut stets ganze Familien betrifft und
nicht nur Kinder. „Wenn die Eltern die Miete nicht zahlen können, droht
trotzdem die Zwangsräumung, bei der auch die Kinder ihre Wohnung
verlieren“, sagt Armutsforscher Christoph Butterwegge.
## Aufgeweichte Versprechen
Er fürchtet zudem, dass man politisch womöglich gar nicht mehr die
Notwendigkeit sehe, auch die Eltern aus Hartz IV herauszuholen. Zwar
verspricht das Dreierbündnis ein neues Bürgergeld, das Hartz IV ersetzen
soll, aber von höheren Regelsätzen ist bisher keine Rede – auch hier ist
die Gegenfinanzierung offen.
Die Grünen haben ihre in der Vergangenheit großspurig formulierten
Forderungen nach deutlichen Verbesserungen beim Arbeitslosengeld II bereits
aufgeweicht. Aus der Forderung nach 603 Euro Grundsicherung (aktuell 446
Euro) wurde beim Parteitag im Juni – vermutlich in Antizipation einer
schwarz-grünen Regierung – ein Aufschlag von lediglich mindestens 50 Euro
„in einem ersten Schritt“.
Das Versprechen einer sozialen Verbesserung wurde von den Grünen also
bereits vor der Wahl eingedampft. Der Kindergrundsicherung könnte in den
laufenden Verhandlungen ein ähnliches Schicksal blühen.
14 Nov 2021
## LINKS
[1] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2020/juli/…
[2] /Saskia-Esken-ueber-Koalitionsgespraeche/!5806367
## AUTOREN
Jörg Wimalasena
Ulrich Schulte
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