# taz.de -- Saskia Esken über Koalitionsgespräche: „Bürgergeld muss auskö… | |
> Menschen Teilhabe zu ermöglichen, statt sie zu disziplinieren, sei Ziel | |
> der geplanten Hartz-IV-Reform, sagt SPD-Chefin Saskia Esken. | |
Bild: Will den Koalitionsverhandlungen mit einer Summe für eine Kindergrundsic… | |
taz: Frau Esken, viele haben den Eindruck, dass sich die FDP in den | |
Sondierungen in wesentlichen Punkten durchgesetzt hat. Stimmt das? | |
Saskia Esken: Da sitzen drei unterschiedliche Parteien am Tisch, die | |
gemeinsam den für Deutschland notwendigen Aufbruch schaffen wollen. Alle | |
Partner haben die für sie wesentlichen Punkte geklärt – das ist der Sinn | |
von Sondierungen. Unsere zentralen Wahlkampfthemen, der Mindestlohn von 12 | |
Euro, stabile Renten, 400.000 neue Wohnungen pro Jahr, der Kampf gegen die | |
Kinderarmut und der Klimaschutz als zentrale Mission dieses Staates, sind | |
alle in dem Sondierungspapier enthalten. | |
Ein Projekt, das der SPD in der neuen Regierung wichtig ist, ist die | |
Kindergrundsicherung. Wie soll sie funktionieren? | |
Unser Konzept gegen die Kinderarmut hat zwei Säulen. Schulen, Kitas und | |
Jugendhilfeeinrichtungen sollen gestärkt werden, damit sie den Kindern | |
beiseite stehen können, die das besonders brauchen. Beim Bildungs- und | |
Teilhabepaket müssen die Eltern Unterstützung für jeden einzelnen | |
Schulausflug oder für Nachhilfe einzeln und aufwändig beantragen. Deshalb | |
nutzen viele das gar nicht. Das werden wir ändern. | |
Und zweitens? | |
Derzeit können Familien aus verschiedenen Töpfen Geldleistungen beantragen: | |
Kindergeld, Kinderzuschlag, die Regelsätze für Kinder in Hartz IV und | |
vieles mehr. Das neue Kindergeld bündelt diese Leistungen und soll | |
automatisiert und unbürokratisch ausgezahlt werden. Damit und mit starken | |
Institutionen holen wir Kinder aus der Armut. | |
Wie hoch soll das sein? | |
Das neue Kindergeld wird sich am Einkommen orientieren: je höher der | |
Bedarf, desto höher die Unterstützung. Über die Höhe werden wir noch zu | |
verhandeln haben. Am Ende müssen wir eine Leistung verabreden, die wirkt | |
und die finanzierbar ist. | |
Ohne konkrete Zahl wird die Kindergrundsicherung unglaubwürdig, oder? | |
Wir stehen am Anfang der Verhandlungen. Es wäre nicht seriös, jetzt Zahlen | |
in den Raum zu stellen. | |
Ein weiteres SPD-Thema ist das neue Bürgergeld, das Hartz IV ersetzen soll. | |
Wie hoch soll es sein? | |
In unserem Zukunftsprogramm steht, dass wir die Berechnung überarbeiten | |
wollen. Gleichzeitig gilt das Lohnabstandsgebot. Wer Vollzeit arbeitet, | |
muss mehr in der Tasche haben als BezieherInnen einer Lohnersatzleistung. | |
Wenn die Löhne steigen, kann das entsprechend höher sein. | |
Aber eine Zahl sagen Sie nicht? | |
Ich werde den Koalitionsverhandlungen nicht vorgreifen. Das Bürgergeld muss | |
auskömmlich sein, das ist klar. Noch gibt es viele Aufstocker, die Geld vom | |
Jobcenter brauchen, obwohl sie arbeiten. Bei einem Mindestlohn von 12 Euro | |
werden wir hoffentlich keine Dumpinglöhne mehr staatlich unterstützen | |
müssen. | |
Im SPD-Konzept steht, dass das soziokulturelle Existenzminimum jederzeit | |
gesichert sein müsse. Gilt das noch? | |
Das gilt. | |
Laut Sozialverbänden müssten Hartz-IV-BezieherInnen mindestens 600 Euro im | |
Monat bekommen statt wie derzeit 449, um dieses Existenzminimum zu | |
garantieren. Haben sie recht? | |
Die Lebenshaltungskosten müssen Basis dieser Berechnungen sein, und die | |
ändern sich. Aktuell zum Beispiel durch die Entwicklung der Energiepreise. | |
Wir müssen uns daher an den Lebensrealitäten orientieren. | |
Die Sätze müssten also höher liegen als 600 Euro? | |
Die Sätze müssen auf die aktuelle Lohn- und Preisentwicklung Rücksicht | |
nehmen. | |
Im Moment kürzen Jobcenter säumigen Arbeitslosen die Grundsicherung, um sie | |
zu disziplinieren. Müssen die Sanktionen weg? | |
Es geht nicht um Disziplin, sondern um das gemeinsame Ziel einer besseren | |
Teilhabe. Der Staat muss ein menschenwürdiges Existenzminimum garantieren. | |
Wer staatliche Leistungen erhält, der hat auch Verantwortung und muss daran | |
mitwirken, seine Situation zu verbessern. Aber Augenmaß ist wichtig. | |
Das heißt? | |
Wir wollen eine wertschätzende, die Selbstbestimmung stärkende Kultur in | |
den Jobcentern. Wer alters- oder gesundheitsbedingt geringe Chancen auf dem | |
Arbeitsmarkt hat, braucht andere Maßnahmen als die alleinerziehende Mutter. | |
Wenn wir sie beide mit denselben Erwartungen konfrontieren, müssen wir uns | |
nicht wundern, wenn die Motivation schwindet. | |
Also fallen die Sanktionen für manche Arbeitslose, aber nicht für alle? | |
Wir müssen zu einer wesentlichen Entbürokratisierung beim Bürgergeld | |
kommen, aber auch zu einer passgenaueren Unterstützung. | |
Bleibt die Frage nach dem Geld. Die Ampel will die Schuldenbremse | |
einhalten, 50 Milliarden jährlich investieren, aber keine Steuern erhöhen. | |
Das erinnert an das Voodoo-Finanzkonzept der FDP, das die SPD scharf | |
angegriffen hatte. | |
So haben wir Konzepte genannt, die zwischen 30 und 90 Milliarden Euro | |
Mindereinnahmen des Staates ergeben hätten. | |
Macht die Ampel jetzt Voodoo light? | |
Es ist kein Geheimnis, dass die Partner in der Steuerpolitik | |
unterschiedliche Auffassungen haben. Eine Regierung Scholz wird eine solide | |
Haushaltspolitik verfolgen und gleichzeitig die notwendigen | |
Zukunftsinvestitionen auf den Weg bringen. Um öffentliche und private | |
Investitionen in die Infrastruktur zu erhöhen und zu beschleunigen, | |
brauchen wir vereinfachte Verfahren bei Genehmigung und Planung. | |
Also brauchen wir gar nicht mehr staatliches Geld in den nächsten vier | |
Jahren? | |
Dank des Coronakonjunkturpakets haben wir schon wieder eine starke | |
Entwicklung in der Wirtschaft und bei den Steuereinnahmen. In der | |
mittelfristigen Finanzplanung sind 50 Milliarden Investitionen vorgesehen. | |
Bei den Sondierungen haben wir zudem vereinbart, endlich wirksam gegen | |
Steuervermeidung, Steuerhinterziehung und Geldwäsche vorzugehen. Und wir | |
gehen davon aus, dass die globale Mindeststeuer kommt. | |
Vielleicht sechs Milliarden aus der globalen Mindeststeuer, vielleicht | |
bessere Maßnahmen gegen Steuervermeidung. Sind das nicht ungedeckte | |
Schecks? | |
Durch Steuerhinterziehung entgehen dem Staat jährlich hohe zweistellige | |
Milliardenbeträge. Für Investitionen gibt es das Modell, öffentliche | |
Einrichtungen zu nutzen. Und die globale Mindeststeuer wird kommen. | |
Christian Lindner hat bei Maybrit Illner gesagt: Es gibt mit der FDP keinen | |
Schattenhaushalt, also kein Modell öffentlicher Einrichtungen, wie Sie | |
sagen. Wie bewerten Sie das? | |
Ich halte nicht so viel davon, die Koalitionsverhandlungen in Talkshows zu | |
verlagern. Wir werden das in den nächsten Wochen gemeinsam klären. | |
Aber die FDP tut das. Das halten Sie für schwierig? | |
Alle drei Parteien haben sich darauf verständigt, strittige Punkte | |
konstruktiv und vertraulich zu verhandeln. Ich muss Christian Lindner ja | |
nicht in jedem Punkt zustimmen. | |
Der wird doch der künftige Finanzminister … | |
Wer in der Regierung welche Aufgabe übernimmt, war bisher nicht Gegenstand | |
der Gespräche. Es gibt nur eine Personalie, die klar ist: Olaf Scholz wird | |
Bundeskanzler. | |
Trotzdem muss es Sie interessieren, was Lindner sagt. | |
Klar interessiert mich das. | |
Wie haben Sie Lindner in den Sondierungen wahrgenommen? Anders als in der | |
Talkshow? | |
Ich habe Christian Lindner auch bei gemeinsamen Talkshow-Auftritten so | |
erlebt, dass wir einander zuhören und miteinander reden konnten. Bei den | |
Sondierungen sind wir uns alle mit Neugierde und Offenheit begegnet. Wir | |
wollen diesen gemeinsamen Aufbruch, das kann man spüren. | |
Das war der Honeymoon. Jetzt kommt echter Streit. | |
Ich kann verstehen, dass Sie Widersprüche spannend finden. Wir | |
konzentrieren uns lieber auf die Gemeinsamkeiten und lösen kritische Fragen | |
einvernehmlich. | |
Die Ampel will die Dauer von Planungs- und Genehmigungsverfahren mindestens | |
halbieren. Beschleunigung von Verfahren und Entbürokratisierung sind alte | |
Forderungen von BDI und FDP. Wieso macht die SPD da mit? | |
Zur Bewältigung von Herausforderungen wie dem Klimaschutz oder der | |
Digitalisierung müssen Politik und Staat endlich schneller und wirksamer | |
handeln. Das ist erst mal ganz ideologiefrei. Entbürokratisierung heißt ja | |
auch, bei 60 Seiten Antrag für Hartz IV zu fragen: Geht das nicht | |
einfacher? Wir wollen viele Förderungen und Unterstützungen direkt und | |
antragslos auszahlen. | |
Für die Verfahrensbeschleunigung etwa bei Stromtrassen muss die | |
Bürgerbeteiligung eingeschränkt werden. | |
Nein, wir müssen die Verfahrensschritte nur parallelisieren, vernetzen und | |
digitalisieren, um schneller voranzukommen. In einer frühen Beteiligung | |
können wir den Argumenten und Widerständen auch früher begegnen, das führt | |
zu mehr Akzeptanz. | |
Bei Windparks, die massiv ausgebaut werden sollen, wird es Widerstand vor | |
Ort geben. Wie kriegen Sie das gelöst? | |
Die Menschen in einer Kommune müssen auch etwas davon haben, wenn bei ihnen | |
solche Anlagen entstehen. Mit Windstrom wird Geld verdient. Das sollen | |
nicht nur die Betreiber der Windanlagen einstreichen, sondern eben auch die | |
Kommunen, auf deren Gemarkung sie stehen. | |
Das ist ja schon seit 20 Jahren klar. Wie wollen Sie das jetzt erreichen? | |
Nur wenn Kommunen eigene Flächen für Windparks zur Verfügung stellen, | |
können sie Pacht erheben. Die Steuern werden aber am Sitz der Unternehmen | |
entrichtet – und nicht da, wo die Windkraftanlage steht. | |
Das wollen Sie ändern? | |
Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen vor Ort profitieren. | |
Ist das ein konkretes Vorhaben oder ein Wunsch? | |
Ein Wunsch, der noch konkretisiert werden muss. | |
Treten Sie im Dezember als SPD-Vorsitzende noch mal an? | |
Gemeinsam mit Norbert Walter-Borjans habe ich mir vorgenommen, die Partei | |
zusammenzuführen, sie zu modernisieren, digitaler aufzustellen und | |
Mitglieder besser zu beteiligen. Vieles haben wir erreicht: Wir haben die | |
Partei geeint, ein Zukunftsprogramm gemeinsam erarbeitet, einen | |
erfolgreichen Wahlkampf geführt. Das ist eine ganze Menge. Und doch gibt es | |
noch viel zu tun. | |
Wollen Sie Ministerin werden? | |
Ich bin in die Politik gegangen, um die Welt jeden Tag ein kleines bisschen | |
besser zu machen. Das tue ich an dem Platz, wo es am besten geht. | |
24 Oct 2021 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
Ulrich Schulte | |
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