| # taz.de -- Bürgergeld in Koalitionsverhandlungen: Es geht ums Geld | |
| > Das Bürgergeld soll Hartz IV ersetzen. Trotz Streit um das soziale | |
| > Kernversprechen der neuen Koalition zeichnet sich allmählich ab, was | |
| > geplant ist. | |
| Bild: Wütend auf die Agentur für Arbeit? Dabei kürzt doch das Jobcenter die … | |
| Berlin taz | Wenn man mit Katja Mast, der stellvertretenden Vorsitzenden | |
| der SPD-Fraktion, über das neue Bürgergeld reden will, ruft nach kurzer | |
| Bedenkzeit ein sehr freundlicher Pressesprecher zurück. Leider stehe Frau | |
| Mast nicht für ein Gespräch zur Verfügung. Man bitte um Verständnis, aber | |
| im Moment sei eben Zurückhaltung angebracht. | |
| Die kleine Szene ist durchaus typisch. Am Mittwoch starten offiziell die | |
| Verhandlungen über die Koalition aus SPD, Grünen und FDP. Und es gibt im | |
| Moment zwei Arten von Antworten, wenn es um die wichtigen Themen geht. Die | |
| einen sind so verschwurbelt, dass man sie sehr genau interpretieren muss. | |
| Die anderen sind: vielsagendes Schweigen. Beim Bürgergeld, das Hartz IV | |
| ersetzen soll und ein soziales Kernversprechen der neuen Koalition ist, | |
| zeichnet sich aber in Umrissen ab, was geplant ist. | |
| Im Moment bekommt ein alleinstehender Erwachsener monatlich 446 Euro Hartz | |
| IV. Die Sätze steigen ab Januar 2022 um 3 Euro. Diese Minierhöhung wird | |
| von Sozialverbänden scharf kritisiert. Sie sei „zynisch und | |
| verfassungswidrig“, sagt Ulrich Schneider, Chef des Paritätischen | |
| Wohlfahrtsverbandes. „Um Hartz IV zu überwinden, zählen zwei Dinge: Man | |
| muss mit dem Geld über den Monat kommen“, sagt er. Außerdem müssten die | |
| Sanktionen komplett gestrichen werden. | |
| Der Paritätische hält mindestens 600 Euro im Monat für angemessen, weil | |
| dies das soziokulturelle Existenzminimum abbilde. Wegen der stark | |
| steigenden Energie- und Lebenshaltungskosten müsse die neue Koalition | |
| schnell handeln, fordert Schneider. | |
| ## „Höher, einfacher und unterstützender“ | |
| Klar ist: Das Ampelbündnis will die Sätze für das neue Bürgergeld anheben | |
| und die Sanktionen für Arbeitslose abschwächen. Dafür macht sich auch die | |
| künftige Kanzlerpartei SPD stark, die Hartz IV unter Gerhard Schröder | |
| seinerzeit erfand. Die Vorsitzende Saskia Esken sagte [1][am Montag im | |
| taz-Interview], das Bürgergeld müsse „auskömmlich“ sein – und neu bere… | |
| werden. Ihr Co-Chef Norbert Walter-Borjans betonte kurz zuvor: „Für das | |
| neue Bürgergeld wird die Formel gelten: Höher, einfacher und | |
| unterstützender.“ | |
| Auch die Grünen wollen Arbeitslosen mehr Geld geben – und Druck aus dem | |
| rigiden System nehmen, das auf Zwang setzt. „Wir haben die Situation, dass | |
| die Inflation derzeit hoch ist und Energiepreise steigen“, sagt der grüne | |
| Sozialpolitiker Sven Lehmann. „Deswegen werden wir dafür Sorge tragen | |
| müssen, dass Menschen mit wenig Einkommen besser über den Monat kommen, | |
| etwa arme Rentner oder Erwerbslose.“ Das Existenzminimum solle „angehoben | |
| werden und auskömmlich sein“. | |
| Wie gesagt, es kommt auf den Wortlaut an. Auskömmlich – das kann alles | |
| heißen und nichts. Lehmann formuliert maximal vorsichtig. Eigentlich fände | |
| der Sozialpolitiker, der das Thema für die Grünen verhandeln wird, einen | |
| satten Aufschlag richtig. Im Wahlkampf forderten die Grünen 50 Euro mehr | |
| und den Wegfall der Sanktionen. | |
| Lehmanns Zurückhaltung folgt der Verhandlungslogik. Keiner aus SPD und | |
| Grünen will die FDP mit allzu forschen Vorstößen verärgern. Selbst | |
| Juso-Chefin Jessica Rosenthal, die leidenschaftlich für die Überwindung von | |
| Hartz IV warb, will sich auf taz-Anfrage im Moment lieber nicht äußern. | |
| Aber intern machen die Jusos dem Vernehmen nach Druck. Sie sind ein | |
| Machtfaktor in der Ampel, weil sie in der [2][SPD-Fraktion 49 Abgeordnete | |
| stellen]. Nur die Grüne Jugend sagt offen, was sie wirklich will. | |
| Die Vorsitzende Sarah-Lee Heinrich kritisiert, dass die Regelsätze | |
| künstlich kleingerechnet und nicht armutsfest seien. „Das ist nicht weiter | |
| hinnehmbar“, betont sie. „Was die Höhe angeht, gibt es ja schon einige | |
| Berechnungen, aber unter 600 Euro für Erwachsene wird es sicher nicht | |
| liegen.“ Das ist eine optimistische und vermutlich unrealistische Prognose. | |
| Der Knackpunkt sind die Finanzen. Die Regelsätze für das Bürgergeld gehören | |
| – anders als Investitionen in Brücken, Schulen oder Windräder – zu den | |
| sogenannten konsumtiven Ausgaben, zu jenen Ausgaben also, die Jahr für Jahr | |
| anfallen – und jeweils im laufenden Jahr Wirkung entfalten. Eine ernst | |
| gemeinte Hartz-IV-Reform würde einen zweistelligen Milliardenbetrag im Jahr | |
| kosten. | |
| Der Paritätische Wohlfahrtsverband schätzte die jährlichen Kosten für einen | |
| armutsfesten Hartz-IV-Regelsatz 2020 auf 14,5 Milliarden Euro. Die Grünen | |
| kalkulieren für einen 50-Euro-Aufschlag auf die derzeitigen Sätze einen | |
| einstelligen Milliardenbetrag. Verschärfend kommt hinzu, dass in der | |
| Ampelplanung mehrere sehr teure Projekte gegeneinander stehen. | |
| Eine Kindergrundsicherung, die ihren Namen verdient, kostet ebenfalls gut | |
| 10 Milliarden Euro. Die Einhaltung des Zwei-Prozent-Ziels bei den | |
| Verteidigungsausgaben schlüge gar mit einem Mehrfachen dieser Summe zu | |
| Buche. | |
| ## Welche Regelsatzhöhe lässt sich noch als Erfolg verkaufen? | |
| Die Ampel-VerhandlerInnen müssen also harte Entscheidungen treffen. Was | |
| macht man, was lässt man weg? Ist es richtig, die Kindergrundsicherung | |
| zulasten des Bürgergeldes zu priorisieren? Oder umgekehrt? Ab welcher | |
| Regelsatzhöhe lässt sich ein Bürgergeld noch als Erfolg verkaufen? Solche | |
| Fragen könnten erst nach dem 10. November geklärt werden, wenn die | |
| ChefInnen sich über Ergebnisse der Arbeitsgruppen beugen – und Themen | |
| gegeneinander tauschen. | |
| Ein höheres Bürgergeld würde aus zwei Gründen gut in die Systematik der | |
| Ampel passen. Erstens hat sich die Koalition in spe bereits auf einen | |
| Mindestlohn von 12 Euro verständigt. Ein höheres Existenzminimum wäre also | |
| möglich, ohne dass das sogenannte Lohnabstandsgebot verletzt würde. Auf | |
| jenes hatte Esken in der taz verwiesen. [3][„Wer Vollzeit arbeitet, muss | |
| mehr in der Tasche haben als BezieherInnen einer Lohnersatzleistung“], | |
| sagte sie. Wenn die Löhne stiegen, könne Letztere entsprechend höher sein. | |
| Zweitens gibt es auch für die skeptische FDP ein gutes Argument, eine | |
| Regelsatzerhöhung mitzutragen. Das Existenzminimum, das das neue Bürgergeld | |
| markieren würde, darf nicht besteuert werden. Durch einen Aufschlag würde | |
| deshalb automatisch der Grundfreibetrag in der Einkommensteuer angehoben. | |
| Dies bedeutet faktisch eine Steuersenkung für alle Einkommensgruppen – und | |
| könnte von Christian Lindners Freidemokraten entsprechend beworben werden. | |
| Auch bei den Sanktionen für Arbeitslose wird es Veränderungen geben. Im | |
| Sozialstaatskonzept der SPD steht, dass das soziokulturelle Existenzminimum | |
| „jederzeit gesichert“ sein müsse. Nimmt man diese Formel ernst, die Esken | |
| hervorhebt, müsste mit der Praxis Schluss sein, dass Jobcenter Arbeitslosen | |
| die Geldleistungen kürzen, wenn diese nicht alle Vorgaben einhalten. | |
| ## Sanktionen kleinverhandeln | |
| Im [4][Sondierungspapier des Bündnisses] steht, dass an den | |
| „Mitwirkungspflichten“ von Arbeitslosen festgehalten werde. Jene sind | |
| vielfältig, Arbeitslose müssen fürs Jobcenter erreichbar sein, ihre | |
| Vermögensverhältnisse offenlegen, Termine wahrnehmen und so weiter. Und: | |
| Was passiert, wenn die Pflichten nicht eingehalten werden, bleibt im Papier | |
| offen. | |
| Bei den Grünen heißt es, sie wollten nun im Kampf um Spiegelstriche die | |
| Sanktionen Schritt für Schritt kleinverhandeln. In den Jobcentern wolle man | |
| zu einer „neuen Kultur der Augenhöhe“, sagt der Sozialpolitiker Sven | |
| Lehmann. Vor allem müsse man sich anschauen, wo Bürokratie | |
| überhandgenommen habe. „Während Corona haben vor allem Selbstständige kaum | |
| Grundsicherung beantragt, obwohl sie es gebraucht hätten.“ | |
| Auch das ist ein zarter Wink in Richtung FDP. Deren Parteichef Christian | |
| Lindner macht sich bekanntlich an anderer Stelle gerne für die Interessen | |
| von Selbstständigen stark. | |
| 27 Oct 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Saskia-Esken-ueber-Koalitionsgespraeche/!5806367 | |
| [2] /49-Jusos-im-Bundestag/!5807201 | |
| [3] /Saskia-Esken-ueber-Koalitionsgespraeche/!5806367 | |
| [4] https://cms.gruene.de/uploads/documents/Ergebnis-der-Sondierungen.pdf | |
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| Ulrich Schulte | |
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