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# taz.de -- Sozialstaat in der Coronakrise: Es wird immer knapper
> Einige Tafeln können kaum noch neue Kunden aufnehmen. In Trier kommt
> selbst eine ehrenamtliche Helferin, die von Hartz IV lebt, nicht zum Zug.
Bild: Nora Werk sammelt Lebensmittel für die Tafel in Trier
Bei Netto ist an diesem Mittwoch wenig zu holen. Nur ein paar Packungen
Bio-Joghurt hat der Supermarkt-Mitarbeiter mit dem langen geflochtenen Bart
für Nora Werk.
„Hier ist heute ein bisschen Chaos“, sagt er. Werk packt die Milchprodukte
trotzdem in den weißen Transporter und bedankt sich freundlich. Dann geht
es zum nächsten Supermarkt. „So einen Joghurt könnte ich mir auf keinen
Fall leisten“, sagt Werk, 49, während der Kleintransporter [1][der Trierer
Tafel] rappelnd durch die alte Römerstadt mit ihren historischen Ruinen
rollt. Im Kofferraum stapeln sich Kisten mit Lebensmitteln. Seit September
ist die alleinerziehende Mutter zweier Jugendlicher, die eigentlich anders
heißt, ehrenamtlich für die Tafel tätig.
Alle zwei Wochen fährt sie von halb acht bis zehn Uhr [2][morgens die
Supermärkte der Gegend ab], um unverkaufte Waren, die ungewollten Reste der
Überflussgesellschaft, einzusammeln und an jene zu verteilen, die kaum über
die Runden kommen. Einer Gruppe von Menschen, zu denen sie eigentlich
selbst gehört. Werk ist Hartz-IV-Betroffene – und dennoch bekommt sie keine
Lebensmittel von der Tafel – der Joghurt geht an andere.
„Mehrere Monate bis ein Jahr“ werde es dauern, bis sie an der Reihe sei,
habe man sie wissen lassen, als sie nach einem Berechtigtenausweis fragte.
Denn es mangelt an ausreichenden Kapazitäten für die vielen Bedürftigen in
der Stadt. Bis zu dreihundert Bedürftige stehen ständig auf der Warteliste
der Tafel.
## „Es hatte ja alles dicht“
Regina Bergmann, Geschäftsführerin des örtlichen Sozialdiensts katholischer
Frauen (SkF), der die Tafel betreibt, versucht zu erklären, warum. Die Frau
mit den kurzen Haaren und dem Trierer Dialekt führt durch die Räume der
Tafel in der Innenstadt, wo ein halbes Dutzend ehrenamtliche Mitarbeiter
hinter Spuckschutz-Scheiben die Lebensmittelverteilung vorbereitet. Vier
Mal pro Woche öffnet die Tafel ihre Pforten, jeweils fünfzig Bedürftige
werden dann versorgt. Aber nur, wenn sie nach einer Bedarfsprüfung einen
Tafelausweis bekommen.
Und das ist gerade wirklich schwer. „Unsere Warteliste ist nicht länger
geworden, nur die Fluktuation ist praktisch zum Erliegen gekommen“, sagt
Regina Bergmann. Während der Coronapandemie habe es immer mehr Anfragen von
Menschen gegeben, die nie zuvor Hilfe gesucht hätten. Menschen, die
eigentlich strukturell oft nur kurzfristig auf Hilfe angewiesen seien,
„bekommen wir gar nicht mehr raus“. Denn wer seinen Job verlor, bekam ihn
häufig nicht zurück.
„Es hatte ja alles dicht“, erinnert sich Bergmann. „Wir hatten Familien d…
die ihre Hypotheken nicht mehr abbezahlen konnten, und Arbeitnehmer, die
ihren Job verloren haben.“ Nicht nur in Trier ist das Phänomen bekannt.
Laut [3][einer Erhebung] des Dachverbands der deutschen Tafeln aus dem
Frühjahr haben knapp 40 Prozent der Tafeln während der Covid-Krise mehr
„Kunden“ verzeichnet – vor allem Bezieher von Arbeitslosengeld II und
Kurzarbeiter.
Um trotz mangelnder Kapazitäten helfen zu können, verschickte Bergmann
während des Lockdowns Lebensmittelgutscheine. Obwohl das eigentlich nicht
vorgesehen ist, geben die Freiwilligen in Trier auch immer wieder Menschen,
die keinen Tafelberechtigungsschein haben, ein paar Lebensmittel mit. Man
improvisiert eben. Während die Bundesregierung im Verlauf der Pandemie
lange mit Hilfen auf sich warten ließ, halfen in Trier die sozialen Träger.
Der SkF verteilte FFP2-Masken, führte Beratungsgespräche im Freien durch.
Die Tafeln agierten als Ausputzer für einen Sozialstaat, der seine Ärmsten
in Krisenzeiten offenbar nur unzureichend versorgt. Regina Bergmann regt
das auf. „Menschen in prekären Verhältnissen wurden in der Krise weiter an
den Rand gedrängt.“ Die Pandemiepolitik richte sich zu sehr an die
Mittelschicht.
Was die Mittelschicht übrig lässt, sammelt an diesem Mittwoch Nora Werk
ein. Der Kleintransporter der Trierer Tafel ist nun am Hintereingang eines
Rewe-Markts in der Innenstadt angekommen. Im Hintergrund kann man die Türme
des [4][Trierer Doms] erkennen. Bei der letzten Station des Tages gibt es
Warenkisten im Überfluss. Orangen, Lauch und sogar ein paar Hühnchen-Wraps
verbergen sich in den Kisten, die die Supermarktmitarbeiter nach draußen
bringen. Mit ihren schwarzen Arbeitshandschuhen und geübtem Blick sortiert
Werk die Waren in verschiedene Körbe ein.
Was würde sich für sie ändern, wenn sie den ersehnten Berechtigungsausweis
für die Tafel bekommen würde? Nun, dann könne sie ihre Kinder endlich
ausgewogener ernähren, sagt die rundliche Frau mit den leicht ergrauten
Haaren. Viel zu häufig gebe es Nudeln, und trotzdem reiche das Geld oft
nicht. „Manchmal sagt man dann einfach, Mama hat keinen Hunger“, wenn das
Essen wieder zu knapp werde. Eine Vorzugsbehandlung bei der Tafel will sie
trotzdem nicht, „das wäre ja scheinheilig“. Sie will den Eindruck
vermeiden, bei der Tafel aufgrund ihrer ehrenamtlichen Arbeit eine
Vorzugsbehandlung zu erwarten. Die Arbeit mache ihr auch so Spaß. „Man
kommt raus und hat zu tun“ erzählt Werk.
Mit ihrer Arbeit will sie auch das Klischee der faulen Arbeitslosen
widerlegen. Nora Werk hat Pech gehabt im Leben. Der Vater ihrer Kinder
machte sich früh aus dem Staub, nach einem Burn-out 2013 musste sie ihre
kleine Werbeagentur aufgeben, weitere Gesundheitsprobleme kamen hinzu.
Wirklich Fuß gefasst hat sie seit Jahren nicht. Und durch Corona ist das
Leben noch schwerer geworden. Die hohen Benzinpreise machen ihr das Leben
schwer. In dem Vorort von Trier, in dem Werk wohnt, geht ohne Auto wenig.
Der Nudelpreis sei ihr als erste große Preissteigerung der Coronakrise im
Gedächtnis geblieben. Bis zu 20 Cent mehr würde Pasta kosten. „Normalen
Leuten fällt so was gar nicht auf“, sagt Werk.
Ein paar Euro sparen die Besucher der Tafel an diesem Tag. Mit Trolleys und
großen Taschen arbeiten sie sich an den Ausgabetischen vorbei. Es gibt
Paprika, Gurken, Champignons – eigentlich alles, was man auch an einer
normalen Gemüseauslage finden würde. Eine Seniorin in Grundsicherung, die
alle Sonderangebote der Supermärkte in der Umgebung mit genauem Preis
auswendig aufsagen kann, hat sich unter anderem mit Brot und Gemüse
versorgt. Wie vielen hier machen ihr die steigenden Gas- und Strompreise
Sorgen. Heizen und elektrisches Licht versucht sie zu Hause weitgehend zu
vermeiden. „Abends sitze ich mit Kerze im Wohnzimmer und heize mit einem
Holzofen“, sagt sie.
Regina Bergmann fürchtet, dass der zweite Coronawinter für Arme noch
schlimmer werden könnte als der letzte. Vor allem die Möglichkeit eines
neuen Lockdowns macht der Erziehungswissenschaftlerin Sorgen. Denn wer zu
Hause eingesperrt sei, „der verliert die Kraft, die Dinge im Leben in die
Hand zu nehmen und das eigene Leben zu gestalten“. Viele Bedürftige wüssten
nicht, worauf sie aktuell noch hinarbeiten sollen. „Man wird sehen, ob ein
zweiter Lockdown nicht noch größeren Schaden anrichtet.“ Wenn etwa die
Gastronomie in der Touristenstadt Trier erneut schließen müsse, würden
viele Betriebe womöglich dauerhaft geschlossen bleiben und noch mehr
Menschen müssten die Tafel in Anspruch nehmen. „Bei uns laufen eben alle
sozialen Fäden zusammen“, sagt Bergmann, halb stolz, halb wehmütig.
Die Hilfsanfragen an den SkF würden schon jetzt steigen, erzählt Bergmann.
Menschen mit knappem Budget kämen wegen der steigenden Preise nicht mehr
zurecht. „Wie soll jemand sich eine doppelt so hohe Stromrechnung
leisten?“, fragt Bergmann mit Erregung in der Stimme. Jene, die bislang mit
Erspartem zurechtgekommen seien, würden jetzt spüren, dass das Geld knapp
wird. Und auch die Tafeln würden bald an ihre Grenzen kommen. „Wenn es
nicht reicht, dann reicht es nicht.“
Für Nora Werk hat es an diesem Tag nicht gereicht. Mit leeren Händen
verlässt sie die Tafel. Zum Abendessen gibt es für sie und ihre Kinder zwei
Dosen Ravioli.
21 Nov 2021
## LINKS
[1] /Tafel/!t5029781
[2] /Mehr-Beduerftige-weniger-Angebot/!5717539
[3] https://www.tafel.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen-2021/tafe…
[4] https://www.dominformation.de/
## AUTOREN
Jörg Wimalasena
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
Tafel
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Schwerpunkt Armut
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