# taz.de -- Zu elft ein Bankkonto teilen: „Gemeinschaft üben“ | |
> Die Initiative Common Wallet teilt sich mit elf Personen ein Bankkonto. | |
> Zwei von ihnen erzählen über persönliches Glück und Solidarität. | |
Bild: Weniger existentielle Ängste durch gesellschaftliches Teilen? Sehnsuchts… | |
taz: Christophe Meierhans, Tiziana Penna, ein Bankkonto gehört zum | |
Privatesten, was es gibt. Wie kommt es, dass Ihr zu elft eines teilt? | |
Christophe Meierhans: Am Anfang bestand unsere Gruppe ausschließlich aus | |
Leuten, die im Kunstbereich arbeiteten, und die Frage war, wie wir unsere | |
Zusammenarbeit solidarischer gestalten könnten. So kam die Idee eines | |
gemeinsamen Bankkontos. Nicht alle fanden das gut, aber letztlich wollten | |
es 10 von uns ausprobieren. Wir begannen mit einer dreimonatigen Testphase | |
und einer Regel: ein Treffen einmal die Woche, um sich auszutauschen. | |
Inzwischen nutzen wir das Konto seit fast 4 Jahren, und aus dem Experiment | |
wurde ein Lebensstil. | |
Drei Eurer Mitglieder behaupteten bei einem öffentlichen Gespräch, dieser | |
Lebensstil mache glücklicher? | |
Tiziana Penna: Es ist vielleicht nicht dieselbe Art Glück, die andere dafür | |
halten. Unsere Beziehung zum Geld neu zu denken, ist eine sehr tiefe, | |
wesentliche Erfahrung. Common Wallet schafft Vertrauen und Empathie und | |
dadurch mehr existentielle Sicherheit. Dieser emotionale Teil ist wichtig. | |
Meierhans: Selbstverständlich hat Common Wallet auf jede:n einzelne:n | |
von uns einen unterschiedlichen Effekt, je nach der eigenen Situation, die | |
auch viel mit der Familienherkunft zu tun hat. Ein Mitglied hat die Gruppe | |
bereits verlassen, Glück ist also nicht für alle gleich. Was mich glücklich | |
macht, ist der Gedanke, dass der Lebensstil, den wir ausprobieren, genau | |
das ist, was wir für eine immer unsicherer werdende Zukunft brauchen. Wir | |
sind als Individuen nicht unabhängig, sondern leben in starken | |
Abhängigkeiten. Ein wichtiges Mittel, um unseren Lebensstandard zu | |
verbessern, ist es daher, Gemeinschaft und Solidarität zu üben. | |
Warum ist ein Mitglied ausgestiegen? | |
Meierhans: Das war hauptsächlich persönlich. Eine Rolle spielte aber auch, | |
dass die Person, die einen „Status“ als Geflüchtete hatte, ihrer Situation | |
entsprechend durchgängig die geringsten Beiträge einzahlte. Das führte bei | |
ihr zu permanenten Schuldgefühlen. Wir haben versucht, darüber zu sprechen, | |
wie man diese Gefühle loswerden kann, und die Gelegenheit, die die Gruppe | |
bietet, gerade in so einer Situation nutzen. Aber es hat leider nicht | |
geholfen. | |
All Eure Verdienste, auch Stipendien und Kindergeld, werden auf das | |
gemeinsame Konto eingezahlt. Regeln, wer was davon verwendet, gibt es | |
nicht. Welche Art von Transparenz setzt das voraus? | |
Penna: Transparenz ist eine Errungenschaft: Was möchte man mit der Gruppe | |
teilen, was nicht, was fühlt sich gut an zu sagen, was nicht? Ehrlich mit | |
meiner eigenen Situation umzugehen, ist für mich der Boden für das | |
Funktionieren der Gruppe. | |
Meierhans: Eine wichtige Komponente ist, dass wir uns kein Urteil darüber | |
erlauben, wofür die Mitglieder das Geld ausgeben. Die einzige Person, die | |
darüber urteilen kann, ob eine Ausgabe nötig war, ist die Person selbst. | |
Darauf vertrauen wir. | |
Seid Ihr einfach so oder musstet Ihr es lernen, so zu empfinden? | |
Meierhans: Ich glaube, wir sind so. Mich überrascht das auch. | |
Was ist, wenn jemand zum Beispiel zwei Monate lang nichts einzahlt, aber | |
sich ein neues Handy kaufen will? | |
Meierhans: Solche Situationen kommen selten vor. Es gibt zwei Arten von | |
Bedürfnissen: akute und welche, mit denen auf den richtigen Moment gewartet | |
werden kann. Wenn größere Ausgaben anstehen, besprechen wir den besten | |
Zeitpunkt dafür. Wenn zum Beispiel eine Heizung eingebaut werden muss, | |
gleichzeitig aber Honorarzahlungen ausbleiben, wird es knapp. Dann müssen | |
wir auf Erspartes zurückgreifen. Die Gelder werden dann, wenn gewünscht, | |
vom gemeinsamen Konto zurückgezahlt. | |
Die Soziologin Eva Illouz sagte einmal, in Zukunft käme es darauf an, | |
welche sozialen Netzwerke geschaffen werden können, um die Isolation, die | |
von den gegenwärtigen Ansprüchen an eine Kleinfamilie ausgeht, zu | |
durchbrechen. Seht Ihr euch als eine Art erweiterte Familie? | |
Meierhans: Durchaus. Unsere Art Wahlverwandtschaft hat viel mit Liebe und | |
Vertrauen zu tun. Die waren nicht unbedingt von Anfang an da, weil einige | |
sich noch gar nicht kannten. Das Interessante aber ist, dass diese | |
Qualitäten anfangen zu wachsen, wenn man füreinander sorgt. | |
In der Freundschaftsphilosophie, ausgehend von Aristoteles und Platon, | |
heißt es, dass viele zu lieben kaum möglich sei. Wie viele Mitglieder kann | |
eine Gruppe wie Eure haben? | |
Meierhans: Wesentlich ist, dass alle zu allen eine persönliche Beziehung | |
haben können. Dass wir uns über das, was wir durchmachen, auf dem Laufenden | |
halten. Es gab einen Sommer, in dem wir uns für zwei Monate nicht sahen. | |
Das war eine Zeit, in der Spannungen entstanden, ich denke, weil wir uns | |
nicht mehr fühlten. | |
Penna: Auch während der pandemisch bedingten Kontaktsperren hat sich | |
Ähnliches gezeigt. [1][Wir brauchen die Qualität des Zusammenseins.] Die | |
erweiterte Familienstruktur ist für mich definitiv wichtig. | |
Meierhans: Wir sind eine kleine Gruppe, aber gleichzeitig Teil eines | |
größeren gesellschaftlichen Zusammenhangs. Wie nutzen wir, auch wenn wir | |
alle meist in recht prekären finanziellen Situationen leben, unser | |
Privileg, mit guten Ausbildungen in sozial relativ gut abgefederten | |
Gesellschaften zu leben? Wie kann unser Leben gesellschaftlich inspirierend | |
werden? Das sind für uns wesentliche Fragen. | |
Wie oft trefft Ihr euch und was sind aktuell die Diskussionspunkte? | |
Meierhans: Es gibt ein wöchentliches Frühstück. Normalerweise besprechen | |
wir praktische Dinge wie den Cashflow und tauschen uns über unsere Leben | |
aus. Für wesentliche Fragen planen wir ganztägige Arbeitstreffen. | |
Wie geht Ihr mit der No-go-Frage, der nach dem Erbe, um? | |
Meierhans: Dieser Punkt war Thema eines von einem Experten begleiteten | |
Arbeitstreffens, aber es gibt noch keine Lösung dafür. Das Thema bezieht | |
sich auf einen viel größeren Zeitraum als unsere aktuelle Arbeitsrealität. | |
Aber je länger wir zusammen sind, desto wichtiger wird es. Was wir bisher | |
geschafft haben, ist, unsere finanziellen Hintergründe offen zu legen. | |
Natürlich spielen sie eine Rolle, und sobald jemand vom Girokonto Gelder | |
für das Abbezahlen eines Hauses verwendet, das er oder sie zur Hälfte aus | |
einem Erbe erworben hat, wird es komplex. An die Frage dieser Asymmetrien | |
kommen wir aber wahrscheinlich ohne gesellschaftliche Bewegungen in dieser | |
Beziehung nicht ran. Eher versuchen wir durch Offenlegung eine gewisse | |
Solidarität zu ermöglichen. So gleichen Mitglieder mit finanziellem Backup | |
manchmal Kontorückstände aus. | |
Gibt es gesellschaftliche oder ökonomische Modelle, die euch in dieser | |
Beziehung inspirieren? | |
Meierhans: Viele von uns sind auch Teil anderer Kooperativen in Bezug auf | |
Housesharing, Agrikultur, Räume des Zusammenseins oder auch Modelle des | |
gesellschaftlichen Ressourcensharings. Die Pandemie hat die Bewegungen | |
verstärkt. In Bezug auf die Finanzströme gibt es für mich noch wenig, was | |
effektiv umgesetzt wird. | |
Auf der griechischen Insel Ikaria gibt es eine der höchsten europäischen | |
Lebensalterserwartungen. Eine Erklärung, die mir die Menschen vor Ort dafür | |
gaben, ist, dass es durch gesellschaftliches Teilen weniger existentielle | |
Ängste gäbe. | |
Meierhans: Ja, ich denke, der Konkurrenzdruck in der Gesellschaft der | |
letzten 30 oder so Jahre hat uns sehr viel Angst sowohl voreinander als | |
auch in Bezug auf uns selbst eingebracht. Finanzielles Teilen nimmt diese | |
Angst ein wenig. [2][Zu elft kein Geld mehr zu haben, ist etwas anderes, | |
als allein keines mehr zu haben]. Wir erfahren uns selbst mehr durch unsere | |
Präsenz in der Gruppe als durch die Höhe des Einkommens, das wir | |
generieren. Dieses Entkoppeln von Selbstwert und Einkommen ist vielleicht | |
unsere größte Errungenschaft. | |
2 Dec 2021 | |
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## AUTOREN | |
Astrid Kaminski | |
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