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# taz.de -- „Glücklichsein um jeden Preis“ auf Arte: Lächle und das Leben…
> Eine Arte-Doku hinterfragt den Trend zur Persönlichkeitsentwicklung.
> Menschliches Bedürfnis oder zwanghafte Selbstoptimierung?
Bild: Glücklichsein eh nur eine Frage der Einstellung – oder?
Helmut Dietls Fernsehserie „Der ganz normale Wahnsinn“ von 1979 war
visionär. Denn über etliche Folgen schreibt sein Protagonist Glanz an einem
Buch mit dem Titel „Woran es liegt, dass der Einzelne sich nicht wohlfühlt,
obwohl es uns allen so gut geht“.
Damit hätte Glanz fraglos als Gesprächspartner in dem Arte-Dokumentarfilm
[1][„Glücklichsein um jeden Preis“] von Jean-Christophe Ribot auftreten
können – und zwar als Vordenker. Denn die große Wende in der Psychologie,
von der der Film handelt, hat Martin Seligman, der Begründer der Positiven
Psychologie, erst in den 90er Jahren angestoßen.
Er war zu der Erkenntnis gelangt, dass „Freud und Schopenhauer uns
eingetrichtert [hatten], wir könnten bestenfalls vom Leben erwarten, nicht
unglücklich zu sein. Tatsächlich ist es mir als klinischem Psychologen
teilweise gelungen, Leid zu lindern. Aber bekam ich dadurch glückliche
Menschen? Nein. Ich bekam leere Menschen.“
Der Psychiater Christophe André stellt fest: „Wir haben, zumindest in
unserer westlichen Gesellschaft, das Glück, dass Frieden herrscht. In dem
Moment, in dem das physische, materielle Überleben nicht mehr bedroht ist,
kann man sich mit Fragen der Persönlichkeitsentwicklung befassen.“
## Einfach mal die Sau rauslassen
Gesagt, getan: „Glück ist kein Ziel, sondern eine Reise / Lächle, und das
Leben lächelt zurück“. Solche Sinnsprüche gibt es schon lange –
beispielsweise von Selbsthilfegurus wie Anthony Robbins, der für eine
Seminarwoche 6.000 bis 8.000 Dollar in Rechnung stellt. Seligman hat die
wissenschaftliche Grundlage gewissermaßen nachgeliefert, indem er
Labormäuse zum vergleichenden Ertrinken in Gläser gesetzt hat: Die
glücklichere Maus hatte den größeren Überlebenswillen.
„Ist der Trend zur Persönlichkeitsentwicklung Ausdruck einer Gesellschaft,
in der das Streben nach Glück endlich im Mittelpunkt steht? Oder maskiert
er im Gegenteil das depressive Syndrom einer Gesellschaft, die sich einem
zwanghaften Optimismus unterwirft?“, fragt also die Doku, deren Verdienst
es ist, das, was die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz als
„Happycratie“ bezeichnet, sehr plausibel aus der US-Geschichte und
Mentalität abzuleiten.
Das Recht auf [2][„Streben nach Glück“] haben die USA sich gleich in die
Verfassung geschrieben, es ist seit jeher mit harter Arbeit verbunden. Die
– europäische – Antithese findet die Doku in der französischen Filmkomöd…
„Les Bronzés“ (1978) über Menschen, die beim Strandurlaub die Sau
rauslassen: „Ein hedonistisches Glück, das weit entfernt ist vom
amerikanischen Leistungsprinzip.“
Einem Leistungsprinzip, demzufolge das Glück einfach nur eine Entscheidung
ist und jedes Individuum frei, sie für sich zu treffen. Eva Illouz: „Ob man
arm ist oder nicht. Ob man vergewaltigt wurde oder nicht. Ob man ein
Kriegstrauma erlitten hat oder nicht. Angeblich hat man es immer selbst in
der Hand, über seine psychische Situation zu bestimmen.“
Ob Eva Illouz’ unverhohlenes Genervtsein vielleicht auch damit
zusammenhängt, dass nicht wenige der Vertreter der Positiven Psychologie
ihr eigenes Glück mit dem gleichen penetranten Dauergrinsen in die Welt
ausstrahlen wie die in ihrem Kielwasser Reichtümer anhäufenden
Selbsthilfegurus?
Der Film lässt beide Seiten ausgiebig zu Wort kommen. Dass er nicht
unparteiisch ist, wird allerspätestens in den letzten Minuten deutlich.
Wenn er nämlich der vom Soziologen Nicolas Marquis konstatierten
„schrittweisen Entwertung des kollektiven Handelns“ kommentarlos genau das
entgegenhält: Bilder von jungen Menschen, die gemeinsam demonstrieren; die
Fridays-for-Future- oder Black-Lives-Matter-Parolen in die Welt tragen;
die statt ihres individuellen Glücks lieber den Ausdruck im Kollektiv
suchen.
30 Aug 2022
## LINKS
[1] https://www.arte.tv/de/videos/099779-000-A/gluecklichsein-um-jeden-preis/
[2] /Glueck-als-Ideologie/!5821920
## AUTOREN
Jens Müller
## TAGS
Selbstoptimierung
Glück
Doku
Psychologie
Arte
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Finanzen
Sexualität
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