# taz.de -- Therapeut über die Psyche nach der Flut: „Es trifft immer die Ar… | |
> Christian Falkenstein lebt im von der Flut zerstörten Ahrtal. Der | |
> Psychotherapeut spricht über selbstlose Helfer, gute Nachbarschaft und | |
> das Tal der Tränen. | |
Bild: Die Zerstörungen haben ein ganzes Tal verwüstet. Das Ahrtal bei Dernau … | |
taz: Herr, Falkenstein, Sie sind selbst massiv betroffen? | |
Christian Falkenstein: Ja, unsere Familie wohnte unten im Tal in Dernau, | |
alles ist größtenteils weg, das Haus überschwemmt, verwüstet bis zur ersten | |
Etage, auf unabsehbare Zeit unbewohnbar. Aber wir haben in der Nacht noch | |
den Keller räumen können; Werkzeug, Fahrräder, Computer, Papiere. Das haben | |
wir im Dachgeschoss auf dem Schlafzimmerbett verteilt und drum herum. Im | |
Gegensatz zu vielen anderen konnten wir ein paar persönliche Sachen retten, | |
nur weil wir eine Etage mehr haben. Ansonsten geht es uns, ja: relativ gut. | |
Wir sind weitgehend unverletzt, haben überlebt und sind jetzt in einer | |
Ferienwohnung oberhalb der Ahr untergebracht. | |
Fühlen Sie sich als Opfer oder Betroffener? | |
Opfer sind immer Menschen, die nach einer Katastrophe völlig hilflos | |
zurückbleiben. Meine Frau und ich sind zumindest handlungsfähig geblieben. | |
Es blieb das Handy, das irgendwann wieder funktionierte, eine Bankkarte. | |
Opfer ist, wer sein Leben verloren hat oder, wie ein lieber Nachbar, der | |
bis auf die kurze Hose und das Hemd am Leib alles verloren hat, alles. | |
Vereinzelt haben sich Menschen danach das Leben genommen: Ein älterer Herr | |
von 95, der hat gesagt, ich hab den Krieg durchgestanden, jetzt kann ich | |
nicht mehr. Der hat sich erhängt. | |
Gleich nach der Flut kam die große Hilfsbereitschaft. Hat Sie die | |
Solidarität überrascht, gerade als Kenner der menschlichen Seele? | |
Das Ausmaß konnte einen wirklich nur staunen lassen und wie schnell. Am Tag | |
danach kam ein Anruf zu uns durch, von Fremden, ob wir ein Bett für die | |
nächsten Nächte brauchen. Dann waren Menschen in einer solchen Masse im | |
Dorf! Rübenbauern kamen mit großen Traktoren und Baggern einfach den Berg | |
runter und fingen, ohne groß zu fragen, einfach an, Schutt abzuräumen. | |
Selbst aus Norddeutschland kam einer, Traktor auf dem Hänger, abladen und | |
los. Die Jungs von der Freiwilligen Feuerwehr Kirchheimbolanden haben drei | |
Tage am Stück gearbeitet, die haben sich geweigert aufzuhören. | |
Es gibt viele Menschen, die reagieren auf Krisen, ob selbst- oder | |
fremderlebt, mit Zupacken, mit Anpackreflexen. Die sagen, ich kann nicht | |
anders, ich muss jetzt angreifen. Sonst kann ich dieses Trauma nicht | |
überwinden. Etwas, wofür ich stehe, ist ins Ungleichgewicht geraten, und | |
dann muss ich etwas tun, um das zu beseitigen. Und sie helfen einfach los. | |
Sie haben in einem Facebook-Post geschrieben, Hilfsbereitschaft habe | |
geholfen, den Mut nicht zu verlieren und die Würde zu bewahren. | |
Die Art des Helfens! Leute haben intimste Dinge aus dem Schlamm gerettet, | |
Kleidung, Erinnerungsfotos; einer hatte im Dreck ein altes Hochzeitsbild | |
gefunden und herumgefragt: Das ist doch bestimmt wichtig, wem kann das | |
gehören? Man kann Dinge, neue Möbel zum Beispiel, so oder so aus dem | |
Fenster werfen. Ich habe viele Menschen erlebt, die das mit Feingefühl | |
gemacht haben. Gerade die ersten Helfer sind sehr taktvoll vorgegangen. | |
Ob manche nur ihr Glück gefeiert haben, dass sie nicht betroffen waren? | |
Oder mit Spenden ihr schlechtes Gewissen erleichtert? | |
Ich würde mir nicht anmaßen, über die Motivation zu spekulieren. Ich habe | |
viel Betroffenheit erlebt, Klarheit und Ehrlichkeit. Die Anrufe von | |
Halbfremden: Was braucht ihr, sollen wir kommen oder wollt ihr zuerst Geld? | |
Nun bin ich ja wahrlich kein Schlechtverdiener, aber wenn alles erst mal | |
weg ist, musst du lernen, Geld auch anzunehmen. Manche haben privat | |
gesammelt und einen Briefumschlag mit tausend Euro darin abgegeben. Und | |
gesagt: Verteilt es, wo es am nötigsten ist. | |
Es gab zu wenige Warnungen, Behörden hätten alles verschlafen, heißt es | |
überall. Hätte das geholfen? Wie war das bei Ihnen? | |
Ich weiß es nicht. Es ist wie an der Börse: Nachher sind immer alle | |
schlauer. Nachher habe ich einen Bericht über die riesige Flut von 1804 | |
gelesen. Vorher kannte ich das nicht und wohl auch kein Landrat. Menschen | |
vergessen gern. Die Aufarbeitung ist wichtig, damit es das nächste Mal | |
hilft. Ja, man hätte besser warnen können. Es sind Menschen gestorben, und | |
das ist ganz, ganz schlimm. Jetzt fragen wir: Wie bauen wir wieder auf und | |
wo? | |
Ich bin an dem Abend aus der Klinik die [1][Ahr] heruntergefahren und sah | |
schon, das wird aber ein ganz schön kräftiges Hochwasser. Zu Hause hieß die | |
Prognose Pegel dreimeternochwas; da weiß ich, das gibt ein paar Zentimeter | |
Wasser im Keller wie damals 2016. Als dann abends im Radio kam, in Altenahr | |
ginge der Pegel in der Nacht wohl bis über sechs Meter, da wusste ich als | |
logisch denkender Mensch: Das wird richtig mies, Keller voll, Straßen unter | |
Wasser. Dass dann Wasser auf vier Meter Höhe durchschießen würde, hätte ich | |
niemandem geglaubt. Ich weiß nicht, ob ich gegangen wäre. Das | |
Unvorstellbare ist dadurch gekennzeichnet, dass es unvorstellbar ist, weil | |
wir keine Blaupause hatten. Die Flutlage war zu komplex. Vor Tschernobyl | |
hat auch keiner Warnungen geglaubt. | |
Oder was die Klimakatastrophe noch machen wird!? | |
Genau, wir hatten ja [2][Klimakatastrophe] en miniature. Dann über Schuld | |
vor Ort zu urteilen, wie es manche tun, das ist jetzt würdelos. Aber es | |
tangiert mich nicht, denn wer in dieser Nacht nicht im Tal war, der wird es | |
nicht bis ins Mark spüren und verstehen, was mit uns passiert ist. Und wie | |
gleichgültig uns das Wie, das Weshalb und Warum in Anbetracht der | |
Unfassbarkeit der Geschehnisse noch ist. Das kommt später. | |
Sie haben am Anfang das Wort „traumatisiert“ gebraucht. Inwieweit sind wie | |
viele Menschen traumatisiert? | |
Ich glaube wirklich, dass jeder im Ahrtal traumatisiert ist. Es ist ja | |
alles weg. Auch wer zum Glück höher lebt, ist traumatisiert, weil alle ihre | |
Heimat verloren haben. Jetzt ist die Frage, wie die Menschen darauf | |
reagieren. Wer vorher ein gutes soziales Netz hatte, einen sicheren Job, | |
kann am Ende gut rauskommen, auch ohne Therapeuten. Wer schlechter dran | |
ist, hat weniger Ressourcen, um das zu bewältigen. Es ist wie bei Corona: | |
Es trifft immer die Armen! | |
Ist die Verwurzelung denn so stark, dass die Menschen zurückwollen? Gehen | |
Sie zurück? | |
Ja, aber ein, zwei Jahre wird das dauern. Viele Leute sagen mal so, mal so: | |
Ja, nein, oder doch? Das hängt von vielem ab: Heute bekommst du noch eine | |
Gänsehaut, wenn es nur kurz etwas mehr regnet. Ändert sich das mit der | |
Zeit? Wird es wieder eine Infrastruktur geben? Wird mich je wieder jemand | |
versichern? Manche müssen auch bleiben, weil sie sich bei einem nicht | |
abbezahlten Haus nichts anderes leisten können. Sie wohnen jetzt auf dem | |
Speicher, bauen unten, und die Kinder spielen im vergifteten Boden. Da wird | |
mir ganz anders. Wieder trifft es die ohne große Ressourcen. | |
Jetzt kommt der [3][30-Milliarden-Rettungsfonds] für Häuser, Infrastruktur | |
und anderes. Wäre nicht so etwas wie ein Fonds für Seeleninfrastruktur | |
sinnvoll? Wer will: zehn Stunden beim Therapeuten? | |
Generell geht das ja, theoretisch, in unserem Gesundheitssystem auch so | |
schon. Das Problem ist aber gar nicht das Geld. Wenn Sie in der Gemeinde | |
Altenahr in zehn Kilometer Umkreis suchen, wie viele kassenzugelassene | |
Verhaltenstherapeuten es gibt … | |
… dann findet man mit Glück zwei? | |
… es sind sogar vier oder fünf. Alle haben Wartelisten von mindestens einem | |
halben Jahr, schon vor der Flut. Wenn Sie das auf hausärztliche Versorgung | |
übertragen, würde jeder lauthals schreien: Skandal! Für akute Fälle ist | |
viel passiert, Hotlines, Helfernetzwerke, auch von Kirchen und Seelsorgern, | |
wirklich beeindruckend. Aber das ist kein Sprint, sondern ein Marathon. | |
Menschen werden über Jahre Hilfe brauchen. | |
Jetzt betäuben viele ihre Schmerzen mit Arbeit ohne Ende – kommt dann | |
irgendwann Hoffnungslosigkeit? Ein Sisyphos-Gefühl? | |
Es gibt eine bekannte Kurve bei Schockereignissen: zuerst die Fantasie des | |
Verneinens, dann dagegen ankämpfen. Wie beim Klimawandel, da lehnen sich | |
zunächst alle dagegen auf und verneinen ihn, dann soll viel Technik helfen | |
oder neue Kraftstoffe, von denen unser Verkehrsminister faselt. Jetzt | |
werden auch im Ahrtal Riesenenergien hineingesteckt, um zu retten, was zu | |
retten ist. Irgendwann gehen diese Energien aus. Dann kommt das Tal der | |
Tränen. Dieses Tief werden wir bei den Menschen in den nächsten Wochen | |
stark erleben. | |
Und dann? Wie ist der Mensch gestrickt – bald wieder jeder für sich? Oder | |
bleibt da Gemeinschaft? | |
Das hängt von der persönlichen Betroffenheit ab. Und vom kollektiven | |
Gedächtnis. Es bleiben Symbolbilder, die sich einbrennen, etwa der | |
Straßentunnel bei Altenahr, der älteste Deutschlands: Statt der Straße ist | |
hinter dem Tunnel jetzt ein 15 oder 20 Meter tiefes Loch von blankem Fels. | |
Das wird nie wieder sein, wie man es Generationen lang gekannt hat: So viel | |
Erde und Bagger gibt es gar nicht, dass man das reparieren könnte. | |
Menschen lernen im Kleinen. Niemand hier, der nach sechs Wochen noch durch | |
die stinkenden Öllachen im ganzen Ort tapst, kauft sich wieder eine | |
Ölheizung. | |
Der Zusammenhalt mit der Nachbarschaft war nie so toll wie jetzt. Wir | |
hatten kleine Mauern zwischen den Grundstücken. Die sind alle von der Flut | |
weggerissen. Alle sagen jetzt: Die bauen wir nie wieder auf! Jetzt haben | |
wir einen großen gemeinschaftlichen Garten. Das schweißt sehr zusammen, und | |
das wird bleiben. | |
Ist das ein Trost, diese Zukunftszuversicht? | |
Trost ist vielleicht nicht das richtige Wort … Es stimmt mich | |
hoffnungsfroh. Kollektives Ertragen hilft. Ob unsere Katastrophe im | |
kollektiven Gedächtnis bleibt, als Mahnmal zum Klimaschutz? Jetzt ist | |
längst Afghanistan im Fokus, das ist viel schlimmer, da redet keiner mehr | |
über die Ahr, völlig verständlich. Man darf Leid nie vergleichen, das ist | |
immer individuell. Ich kenne das als Therapeut: Ich akzeptiere, wenn ein | |
Patient traumatisiert ist, weil seine Katze gestorben ist. | |
Was wir verloren haben, ist bloß viel Geld, Materie. Jetzt schmeckt die | |
Bratwurst mit dem Nachbarn besser, als wenn ich in ein Sternerestaurant | |
gehen würde. Und für den Sommer 2023 ist schon ein großes Helferfest | |
geplant. | |
26 Aug 2021 | |
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[1] /Nach-der-Flutkatastrophe-im-Ahrtal/!5790732 | |
[2] /Warnung-des-Weltklimarats-IPCC/!5792170 | |
[3] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/flut-wiederaufbaufonds-101.html | |
## AUTOREN | |
Bernd Müllender | |
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