# taz.de -- Ertrunkene Menschen mit Behinderung: Wie konnte das passieren? | |
> Trotz aller Warnungen vor der Flut: In einem Sinziger Wohnheim ertranken | |
> zwölf Menschen mit Behinderung. Viele Details sind noch immer unklar. | |
Bild: Das Haus der Lebenshilfe in Sinzig nach der Flut: Zwölf Bewohner:innen k… | |
SINZIG taz | Dort, wo die Augen wären, hat die Statue nur zwei klaffende | |
Löcher. Der Mund ist weit aufgerissen. Veronika Wiertz (60), die die Statue | |
aus dem Garten ihres überfluteten Hauses gerettet hat, setzt den Kopf | |
vorsichtig auf eine Kommode. Die Kommode ist durch das Wasser unbrauchbar | |
geworden. Die Statue scheint erst durch die Verwüstung zu ihrem | |
eigentlichen Ausdruck gefunden zu haben. „Die klagt jetzt für mich“, sagt | |
Veronika Wiertz. | |
Sie und ihr Mann Uli Martin wohnen in der Sinziger Pestalozzistraße. Hier | |
steht ein Wohnheim für Menschen mit Behinderung. Es heißt | |
„Lebenshilfehaus“. Veronika Wiertz und Uli Martin mussten mitverfolgen, wie | |
12 der 36 Bewohnerinnen und Bewohner in der Flut der Ahr ertranken. Zwölf | |
Menschen, die körperlich und geistig beeinträchtigt waren. | |
Am Mittwoch, dem 14. Juli 2021 geschah es. „Gegen 22.30 Uhr war ich noch | |
mit dem Hund unterwegs. Als ich mich so um 23.30 Uhr ins Bett legte, war | |
noch nichts zu sehen von der Flut.“ Aber etwas stimmte nicht. Wiertz und | |
Martin erzählen, dass sie gegen Mitternacht aufwachten. | |
Wiertz trat vor die Tür. Das Wasser stand bereits bis zur Treppe. Sie | |
hörten Hilfeschreie aus dem Lebenshilfehaus. Wiertz traute sich nicht mehr, | |
über die Straße zu gehen. Zu tief war das Wasser im Garten des Wohnheims, | |
aus dem die Schreie kamen, und zu stark die Strömung des reißenden Flusses. | |
Martin versuchte die Feuerwehr zu erreichen: „Da schreit jemand drüben im | |
Wohnheim um Hilfe.“ | |
## Wann kam das Signal zur Evakuierung? | |
Zwei junge Feuerwehrmänner tauchten unvermittelt in der Straße auf. Sie | |
versuchten über die Straße zu dem Wohnheim zu kommen, aber Veronika warnte | |
sie: „Da vorne geht es sehr tief runter. Das ist zu gefährlich.“ | |
Zu dieser Zeit befanden sich 36 Menschen mit geistiger und körperlicher | |
Beeinträchtigung im Wohnheim. Die Feuerwehr hatte nach Informationen des | |
SWR die Nachtwache im Heim– bestehend aus einem einzigen Mitarbeiter – | |
gewarnt und zur Evakuierung der Bewohner*innen aufgerufen. Doch das | |
Wasser sei innerhalb von Minuten so hoch gestiegen, dass eine Rettung nicht | |
mehr möglich war. | |
In der Nachbarschaft erzählt man, als das Wasser das Erdgeschoss | |
überflutete, sei der Mitarbeiter gerade damit beschäftigt gewesen, Menschen | |
aus einem anderen Gebäude herauszuhelfen. Der Bewohner, der sich am | |
Lebenshaus ans Fenster klammerte, wurde nach etwa 30 Minuten von einem | |
Rettungsboot der Feuerwehr aufgenommen und in Sicherheit gebracht. Zwölf | |
der Bewohnerinnen und Bewohner des Wohnheims starben in der Flut. | |
Die Staatsanwaltschaft Koblenz hat das Todesermittlungsverfahren, wie das | |
in diesen Fällen üblich ist, aufgenommen. Es wird außerdem geprüft, ob sich | |
eine der beteiligten Personen strafbar gemacht hat. Kreisverwaltung und | |
Lebenshilfe möchten zu dem genauen Ablauf noch keine Angaben machen. | |
Deshalb lässt sich der genaue Hergang noch nicht mit Sicherheit | |
rekonstruieren. Unklar ist zum Beispiel, wann genau die Feuerwehr das | |
Signal zur Evakuierung des Wohnheims gegeben hatte. | |
## Acht Meter Flut | |
Grundsätzlich gab es frühzeitig [1][Warnungen vor den schweren Unwettern.] | |
Die Europäische Flutwarnbehörde warnte schon vier Tage vor der Flut vor | |
möglichen Überschwemmungen. Der Deutsche Wetterdienst hatte für die Region | |
„extrem ausgiebigen Dauerregen“ und Hochwasser angekündigt. Die | |
Konsequenzen dieser Warnungen sind allerdings Sache der Zuständigen vor | |
Ort. Der Katastrophenschutz ist aus rechtlicher Sicht Sache der Kommunen | |
und Kreise. | |
Am Dienstag, den 13. Juli wurden nach Angaben des Kreises Ahrweiler alle | |
Feuerwehrleiter im Kreis über die Wetterprognose informiert. So auch der in | |
Sinzig. Die Feuerwehr dort besteht ausschließlich aus Ehrenamtlichen, so | |
wie 95 Prozent der Feuerwehren in ganz Deutschland. | |
„Für jede Art von Notfall gibt es klar vorgegebene Notfallmaßnahmen“, so | |
Silvia Oestreicher, Pressesprecherin beim Deutschen Feuerwehrverband. „Aber | |
die örtlichen Feuerwehren müssen selbst einschätzen, wie hoch die | |
Gefahrenstufe vor Ort ist.“ Sie müssen die vorgegebenen Musterpläne | |
entsprechend anpassen. | |
Und das ist nicht so leicht, denn „2016 war die bislang höchste Flut an der | |
Ahr bei etwa 2,8 Metern“ erzählt der ehrenamtliche Feuerwehrmann, Alex | |
Reich (50) aus Hönningen, einem anderen Ort an der Ahr. „Wir haben viele | |
Lehren aus der damaligen Flut gezogen und Maßnahmenpläne aufgestellt. Ich | |
habe mich also darauf eingestellt, etwa zehn Keller im Dorf leerpumpen zu | |
müssen. Aber was dann kam, damit hat keiner von uns gerechnet.“ Die Flut | |
war diesmal mehr als doppelt so hoch in Hönningen. In Sinzig war sie sogar | |
acht Meter hoch. | |
## Erste Warnungen am 13. Juli | |
Reichs Frau Beate ist selbst fast in den Fluten umgekommen. Sie wollte im | |
Kindergarten Spatzennest, der am Ufer der Ahr liegt, Sandsäcke füllen und | |
zum Schutz der Häuser ins Dorf bringen. Hier wurden sie und ihre beiden | |
Kinder von der Flut überrascht. „Ich kam mir vor wie diese Frau aus dem | |
Film ‚Titanic‘, die ihre beiden Kinder noch in den Schlaf singt, bevor sie | |
alle drei mit dem Schiff im Wasser versinken“, sagt sie. Erst am nächsten | |
Morgen konnten sie und ihre beiden Kinder lebend aus dem wasserumspülten | |
Kindergarten geborgen werden. | |
„Wir bei der Feuerwehr können nicht einschätzen, welche konkreten Maßnahmen | |
es braucht, um auf eine so abstrakte Prognose wie ‚50 Milliliter | |
Niederschlag pro Quadratmeter‘ zu reagieren“, sagt Reich. „Dazu brauchen | |
wir Experten, die erklären, was konkret zu tun ist.“ | |
Die Stadt Sinzig hatte die Bevölkerung erstmals am 13. Juli gewarnt. Auf | |
ihrer Facebook-Seite kündigte sie „heftigen Regen“ an und riet | |
„insbesondere den Anliegern in Straßenzügen im unmittelbaren Einzugsbereich | |
der Ahr, entsprechende Vorkehrungen zu treffen“. Am Abend des 14. Juli | |
mahnte sie dann, den Uferbereich „unbedingt“ zu meiden. | |
Noch später am Abend wurde in Sinzig der Katastrophenschutzalarm | |
ausgerufen. In dieser Situation können auch Einsatzkräfte aus umliegenden | |
Kreisen und Kommunen herangezogen werden. Die Feuerwehr in Sinzig entschied | |
sich dazu, alle Gebäude, die bis zu 50 Meter von der Ahr entfernt liegen, | |
zu evakuieren. | |
## „So viel Trauer, Verluste, Betroffenheit“ | |
Das Gebäude der Lebenshilfe liegt aber mehr als 250 Meter vom Ufer | |
entfernt. „Eine Hauswirtschaftskraft der Lebenshilfe wurde nachts um 2 Uhr | |
von ihrer Tochter über das Hochwasser in Walporzheim Ahr-aufwärts | |
informiert“, erzählt Kerstin Laubmann. Sie ist Pfarrerin der Evangelischen | |
Gemeinde Remagen-Sinzig. „Sofort versuchten sie und ihr Mann, Kontakt | |
aufzunehmen zu den Bewohnenden. Als das nicht klappte, versuchte ihr Mann, | |
in die Pestalozzistraße zu fahren, um dort zu helfen. Aber er kam schon gar | |
nicht mehr hin: Zwei Straßen oberhalb der Pestalozzistraße sah er im | |
Dunkeln schon das Wasser schimmern.“ | |
Als Pfarrerin bekommt Laubmann in den Tagen nach dem Hochwasser unmittelbar | |
mit, wie die Menschen im Ort mit der Katastrophe umgehen. Die Anteilnahme | |
in Sinzig sei groß. „So einen intensiven Gottesdienst wie diesen nach der | |
Flut habe ich, glaube ich, noch nie gefeiert“, erzählt sie. „So viel | |
Trauer, Verluste, Betroffenheit. Viele hat es so zerrissen. Ich habe noch | |
nie erlebt, dass Menschen noch eine Stunde nach dem Gottesdienst | |
zusammenstanden, um miteinander sprechen zu können. Und das in Anbetracht | |
der schwierigen Umstände, die die Pandemie bereitet.“ | |
Gleichzeitig sind viele Gemeindemitglieder aber noch ganz anders gefordert. | |
Viele Häuser sind nach wie vor unbewohnbar. Die Aufräumarbeiten überlagern | |
vieles. „Die Menschen sind noch nicht bereit für Seelsorge“, sagt Laubmann. | |
„Jetzt arbeiten sie erst in ihren Häusern. Viele haben ihre Kinder zu | |
Freunden und Verwandten gegeben, damit sie hier in Ruhe die Häuser wieder | |
herrichten können.“ Erst wenn der Alltag zurückkomme, werde Zeit sein für | |
intensive Gespräche und die Seelsorge. | |
Bei anderen hat die Aufarbeitung des Erlebten schon begonnen. Matthias | |
Mandos ist Geschäftsführer der Lebenshilfe Rheinland-Pfalz. Er richtet den | |
Blick auf die Zurückgebliebenen: „Die Mitarbeitenden der Lebenshilfe sind | |
leicht bis schwer traumatisiert. Sie werden aktuell psychologisch betreut. | |
Die Menschen hier vor Ort haben ganze Arbeit geleistet. Davor kann man nur | |
den Hut ziehen“, sagt er. | |
Kurz nach der Katastrophe hat er sich mit dem Sozialminister, dem | |
Opferbeauftragten und dem Landesbeauftragten für die Belange von Menschen | |
mit Behinderung getroffen. Gemeinsam haben sie beraten, was jetzt für die | |
Menschen aus dem Wohnheim und deren Angehörige zu tun ist. Auf der | |
Tagesordnung stand zunächst die Frage, wo sie zeitweilig untergebracht und | |
betreut werden können. Bewohnbar ist ihr bisheriges Zuhause schließlich | |
nicht mehr. Ein Teil der Bewohner*innen wohnt vorübergehend in einer | |
Einrichtung im Westerwald. | |
Für [2][konkrete Lehren aus dem Unglück] ist es für die Verantwortlichen | |
vor Ort noch zu früh. Fragen stellen sich zu Genüge: Was muss sich in | |
Zukunft ändern? Wie können Warnungen schneller ankommen? Kann eine einzige | |
Nachtwache überhaupt die ganze Einrichtung beschützen? Auf solche Fragen | |
gibt es in Sinzig noch keine Antworten. In der Region ist man noch zu | |
beschäftigt: mit Aufräumen, der Suche nach Vermissten und dem Bergen von | |
Leichen. | |
27 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Lena von Seggern | |
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