# taz.de -- Eurokolumne: Der Patient aus Paris | |
> Frankreich fehlt eine Strategie, um dem Dilemma der Deindustrialisierung | |
> zu entkommen. Standard & Poor’s stuft die Bonität erneut herab. | |
Bild: Studentenproteste in Paris: Viele Franzosen sind ganz schön furieux übe… | |
Die Bretonen sind in Aufruhr geraten, und manch einer fragt sich, ob und | |
wann die aufgeladene Stimmung auf andere Regionen in Frankreich | |
überschwappen könnte. Immerhin hat es der Protest in der Bretagne in sich: | |
Straßenblockaden und Demontagen von Mautanlagen an den Autobahnen. Dabei | |
wirft der Protest nur ein Schlaglicht auf die Krise in Frankreich – und | |
darauf, dass Reformen jahrelang verschlafen wurden. | |
In der Bretagne sind Schlachthöfe geschlossen und Tausende Arbeiter vor die | |
Tür gesetzt worden. In Frankreich wird einem Schlachthofarbeiter ein | |
Mindestlohn für schwere Arbeit in Höhe von 14 Euro gezahlt; in Deutschlands | |
größtem Schlachthof sind es 5,50 Euro. In der ohnehin schon | |
strukturschwachen Region am Atlantik war dies der Tropfen, der das Fass zum | |
Überlaufen gebracht hat. Der zweite Grund war die Erhöhung der regionalen | |
„Straßensteuern“, die vor allem für Laster gelten. | |
Die soziale Anspannung in Frankreich ist mit Händen zu greifen – und mit | |
ihr die täglich größer werdende Schwäche von Präsident Hollande und seiner | |
Regierung. Deindustrialisierung ist das Unwort der Stunde: La Redoute, | |
Alcatel-Lucent, Peugeot, Tilly-Sabco, Michelin – die Liste der Unternehmen, | |
die Entlassungen und Sozialpläne angemeldet haben, ist lang. Mehr als 1.000 | |
waren es im vergangenen Jahr, und für dieses Jahr sind bereits 736 | |
Meldungen eingegangen. | |
Da verwundert es kaum, dass Standard & Poor's die Kreditwürdigkeit des | |
Landes am Freitag erneut herabgestufte. Die Ratingagentur bewertet die | |
Bonität Frankreichs nur noch mit "AA" - und damit eine Stufe niedriger als | |
zuletzt mit "AA+". | |
## Zu viel Arbeitslose - zu wenig Reformen | |
Die hohe Arbeitslosigkeit schwäche den Willen für signifikante Reformen, | |
hieß es zur Begründung. Und: Die von der Regierung eingeleiteten Maßnahmen | |
reichten nicht, um die Wachstumsaussichten des Landes mittelfristig | |
deutlich zu verbessern. | |
Besonders fatal für die zweitgrößte Industrienation der Eurozone: Gerade | |
mal 13 Prozent des BIP werden in Frankreich noch im industriellen Sektor | |
erarbeitet. Vor zehn Jahren waren es noch 18 Prozent. In Deutschland - | |
natürlich noch mit dem Spitzenrating "AAA" - liegt de Quote bei rund 30 | |
Prozent. 400.000 Arbeitsplätze sind im produzierenden Gewerbe in Frankreich | |
seit 2007 verloren gegangen, weitere 53.000 sind bedroht – und der | |
französische Staat zeigt sich unfähig, die Tendenz zu stoppen. | |
Reindustrialisierung ist die politische Losung, aber sie wird eine | |
Generation brauchen. Für heute, morgen und übermorgen hat Frankreich keine | |
plausible Strategie, wie es die ökonomische und soziale Krise überwinden | |
will. | |
Das Hexagon ist daher seit Wochen und Monaten schon in einer Art | |
politischem Ausnahmezustand, und keine Hoffnung scheint in Sicht. Jetzt | |
rächt sich die jahrelange Vertagung von Reformen. Zum Beispiel die | |
öffentliche Hand: Die Staatsquote beträgt über 50 Prozent, entsprechend | |
bedeutend ist der Beamtenapparat, dem Kenner eine strukturelle | |
Reformunfähigkeit attestieren. | |
Gerade mal 14 Prozent Vertrauen in der Bevölkerung genießt François | |
Hollande. Das reicht nicht für drastische Strukturreformen. Auch nicht für | |
eine weitsichtige politische Modernisierung, die längst überfällig ist, | |
etwa eine klare Trennung von Exekutive und Legislative. Es reicht erst | |
recht nicht für mutige Schritte in Europa - wie die Vollendung der | |
Bankenunion. | |
Kein Wunder auch, dass von Europa in Frankreich nicht viel die Rede ist, | |
zumal Brüssel und die Sparpolitik für die Misere mitverantwortlich gemacht | |
werden. Gerade deshalb schaut Frankreich dieser Tage auch besonders genau | |
auf die deutschen Koalitionsverhandlungen und das, was die SPD dort | |
verhandeln kann: Geld für europäische Infrastrukturprogramme, einen | |
gesetzlichen Mindestlohn - oder gar einen europäischen | |
Schuldentilgungsfonds? | |
Mitten in die Koalitionsverhandlungen hinein veröffentlichte das | |
französische Finanzministerium ein Papier, in dem es ein gemeinsames Budget | |
für die Eurozone fordert. Damit soll eine europäische | |
Arbeitslosenversicherung finanziert werden. Ob die SPD sich mit solchen | |
Ideen anfreunden kann? | |
8 Nov 2013 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Guérot | |
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