| # taz.de -- Pressefreiheit in Gefahr: Unter Druck | |
| > Gewalt gegen Journalist:innen hat massiv zugenommen. Vor allem auf | |
| > Querdenker-Demos kommt es immer wieder zu Übergriffen. Woher rührt der | |
| > Hass? | |
| Bild: Demonstration in Berlin gegen die „Coronamaßnahmen“, rechte Teilnehm… | |
| Leipzig, am Abend des 7. November 2020. Es ist dunkel, die Menschen sind zu | |
| einer Masse geworden. Sie schreien, fuchteln mit den Armen. Flaschen | |
| fliegen, Feuerwerkskörper explodieren. Plötzlich durchbricht eine Gruppe | |
| aggressiver Demonstrant:innen die Polizeikette. Die Beamt:innen sind | |
| überfordert, die Masse am Toben. Mittendrin stehen Journalist:innen – | |
| von Zeitungen, von öffentlich-rechtlichen Sendern, freischaffend. | |
| Einige von ihnen pressen sich mit dem Rücken gegen einen Polizeiwagen, der | |
| den einzigen Schutz im Chaos zu bieten scheint. Sie suchen einen Ausweg, | |
| aber sind umzingelt: In allen Richtungen sammelt sich der Mob, die Polizei | |
| schaut zu, wie er grölend über die Straße zieht. Die Journalist:innen | |
| werden beschimpft, als „GEZ-Huren“ oder „Volksverräter.“ Sie werden | |
| geschubst, bespuckt, bedroht. | |
| [1][Es ist eine Demonstration der selbsternannten Querdenker], einer | |
| Mischung aus Hippies in Pluderhosen, Esoteriker:innen, Reichsbürger:innen, | |
| Familien und Senior:innen, aber auch Führungskadern rechter Parteien, | |
| Jungnazis, Hooligans, organisierter Rechtextremer aus ganz Deutschland. Sie | |
| eint der Hass auf die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung. | |
| Vor den Augen der Polizei werden an diesem Tag [2][zahlreiche | |
| Medienvertreter:innen angegriffen], später berichten sie von | |
| Schlägen ins Gesicht, Griffen in die Kamera, physischen und verbalen | |
| Bedrohungen. Mindestens ein Journalist wurde zu Boden geprügelt und am | |
| Boden liegend auf den Kopf geschlagen. | |
| Mittendrin steht an diesem Abend Andrea Röpke. Röpke, 56, ist mehrfach | |
| ausgezeichnete freie Journalistin und schreibt seit Jahren über die extreme | |
| Rechte, auch für die taz. Sie kennt die Netzwerke, Organisationen und | |
| Personen wie kaum eine andere in Deutschland. Und sie kennt die Arbeit auf | |
| Demonstrationen, die Anfeindungen, die Bedrohungen. | |
| Doch auch sie steht an diesem Abend fassungslos vor der Masse – „in der | |
| Falle sitzend“, wie sie es zwei Monate später beschreibt. „Es war kurz | |
| davor, dass der gesamte Mob prügelt und nicht nur Einzelne“, sagt Röpke. | |
| Die unvorbereitete und unterbesetzte Polizei habe die Journalist:innen | |
| „zum Freiwild“ werden lassen. An ein Wunder grenze es, dass nicht mehr | |
| passiert sei. | |
| 43 Angriffe auf Medienvertreter:innen zählt die Deutsche Journalistinnen- | |
| und Journalisten Union (dju) allein für diesen Tag. Ein | |
| Gewerkschaftssekretär, der die Demo miterlebt hat, sagt, die Gewalt und | |
| Bedrohungen gegen Journalist:innen hätten an diesem Abend eine neue | |
| Qualität bekommen. | |
| Der Abend in Leipzig fügt sich ein in einen Trend: Die Gewalt gegen | |
| Journalist:innen hat 2020 massiv zugenommen. Die Bundesregierung hat im | |
| Januar auf eine Kleine Anfrage der Grünen geantwortet: 252 Angriffe auf | |
| Journalist:innen habe es im Jahr 2020 gegeben. Das sind mehr als | |
| doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Darunter waren Beleidigung, Bedrohung, | |
| Sachbeschädigung, Körperverletzung, Brandstiftung, Raub. 144 der Angriffe | |
| waren rechts motiviert, 42 links. Die meisten passierten in Sachsen, | |
| gefolgt von Berlin und Nordrhein-Westfalen. | |
| Auch andere Organisationen beobachten, dass die Zahl der Angriffe | |
| zugenommen hat. Reporter ohne Grenzen zählte so viele Angriffe wie nie | |
| zuvor. Bei ihrer Gewerkschaft meldeten sich mittlerweile fast wöchentlich | |
| Journalist:innen, um von Übergriffen zu berichten, sagt Monique Hofmann, | |
| die Bundesgeschäftsführerin der dju, der Deutschen Journalistinnen- und | |
| Journalisten-Union innerhalb der Großgewerkschaft Verdi. | |
| Am vergangenen Wochenende passierte das in [3][Kassel], [4][Würzburg] und | |
| [5][Dresden]. Am Wochenende davor in Hannover und München – immer am Rande | |
| von Coronademos. Man kann fast sagen: Da, wo derzeit gegen Coronamaßnahmen | |
| demonstriert wird, werden Journalist:innen bedrängt. | |
| Was bedeuten diese Zahlen? Warum wächst die Feindseligkeit gegenüber Medien | |
| in Deutschland? Und welche Auswirkungen hat das auf die Demokratie, für die | |
| die freie Presse unverzichtbar ist? | |
| ## Aufstieg eines Begriffs | |
| Es gibt noch eine Zahl aus dem Jahr 2020, die überraschend ist. Sie | |
| beschreibt das [6][Vertrauen in die Medien]. Rund zwei Drittel der | |
| Deutschen halten die Berichterstattung der Qualitätsmedien für glaubwürdig. | |
| Das ist so viel wie nie seit 2015. Damals begann Infratest Dimap im Auftrag | |
| des Westdeutschen Rundfunks, regelmäßig das Vertrauen in Medien zu erheben. | |
| Die jüngste repräsentative Studie dazu aus dem vergangenen Herbst ergab | |
| Rekordwerte: 80 Prozent der Deutschen halten den Öffentlich-Rechtlichen | |
| Rundfunk für sehr vertrauenswürdig, Tageszeitungen werden von 74 Prozent | |
| als glaubwürdig eingestuft. Vier von fünf Befragten finden die | |
| Coronaberichterstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks „gut“ oder | |
| „sehr gut“. | |
| Wie kann es sein, dass mehr Menschen denn je den Medien vertrauen, | |
| Journalist:innen aber gleichzeitig auf so viel Gewalt und Ablehnung | |
| stoßen wie noch nie? | |
| Um das zu verstehen, muss man genauer dahin schauen, wo die Gewalt | |
| tatsächlich passiert: auf Demonstrationen und im Netz. | |
| „Lügenpresse“ ist dafür der zentrale Begriff. Er hat seinen Ursprung im 1… | |
| Jahrhundert. Damals waren es vor allem erzkonservative Katholiken, die mit | |
| dem Wort jene liberal, demokratisch gesinnte Presse denunzieren wollten, | |
| die im Zuge der März-Revolution entstanden war. Schon damals hatte der | |
| Begriff einen antisemitischen Grundton. Das Wort trug sich weiter durch die | |
| zwei Weltkriege, verschwand nach 1945 aber weitgehend, zumindest aus der | |
| bundesrepublikanischen Debatte. | |
| Seit den 2000er Jahren haben vor allem neonazistische Kreise das Wort | |
| wieder entdeckt. Im Oktober 2014 riefen hunderte Neonazis und Hooligans bei | |
| einer gewalttätigen Demonstration der [7][„Hooligans gegen Salafisten“] | |
| immer wieder: „Lügenpresse auf die Fresse“. In der breiten Bevölkerung fa… | |
| der Begriff aber kaum Verwendung – bis Januar 2015. Eine Auswertung der | |
| Google-Anfragen zeigt, dass die Suche nach dem Wort „Lügenpresse“ in diesem | |
| Monat sprunghaft anstieg. Gesucht wurde er vor allem in Thüringen, Sachsen | |
| und Sachsen-Anhalt. Es war der Beginn der Pegida-Proteste und ihrer | |
| Ableger. | |
| Der vorbestrafte Pegida-Chef Lutz Bachmann, der sich selbst damit brüstete, | |
| „Leser-Reporter“ der Bild-Zeitung gewesen zu sein, war einer derer, der den | |
| Begriff Ende 2014 in Dresden säte. Pegida machte die Ablehnung der | |
| etablierten Medien zu einem ihrer großen Themen. „Lügenpresse“ stand auf | |
| Plakaten, an Wänden und auf Aufklebern, schallte durch die Straßen. Die | |
| Behauptung, die Medien wären staatsgeleitet oder würden Lügen verbreiten, | |
| fand Anklang, der Hass auf Journalist:innen wuchs. | |
| Der Hass heute ist ein anderer als zur Zeit der 68er, in der der | |
| Axel-Springer-Verlag im Fokus von Angriffen stand: Springer kontrollierte | |
| damals mehr als 70 Prozent der Tageszeitungen in Westberlin und hatte eine | |
| Meinungsmacht, die viele heftig kritisierten. Springer-Journalisten nannten | |
| die Protestierenden in ihren Kommentaren und auf den Titelseiten | |
| „Polit-Gammler“, „langbehaarte Affen“ und „Rote SA“. Die Bild-Zeitu… | |
| schrieb, man solle die „Drecksarbeit“ gegen den „Terror der Jung-Roten“ | |
| nicht allein der Polizei überlassen, und illustrierte den Artikel mit einem | |
| Foto von Rudi Dutschke. Kurz danach wurde Dutschke niedergeschossen. | |
| Mehrere tausend Demonstrant:innen riefen daraufhin zum Boykott und zur | |
| Enteignung von Springer auf, sie blockierten den Vertrieb der Bild-Zeitung | |
| und verbrannten einzelne Ausgaben. Vier Jahre später deponierten Mitglieder | |
| der Roten Armee Fraktion eine Rohrbombe im Axel-Springer-Hochhaus in | |
| Hamburg. | |
| In den Jahren nach 1968 entstand auch die taz, als ein Versuch, dem | |
| Springer’schen Meinungsmonopol etwas entgegen zu stellen. „Die TAZ wird | |
| Säure werden müssen, um gesellschaftliche, politische und persönliche | |
| Verkrustungen wegätzen zu können“, [8][stand in der ersten Ausgabe im April | |
| 1979] – ein Duktus, den man heute eher auf den Blogs und in den Chats von | |
| Rechten und organisierten Neonazis findet. | |
| Die Gewalt gegen Medienschaffende heute ist anders als die der 68er | |
| Bewegung. Sie richtet sich nicht mehr gegen ein konkretes Medium, einen | |
| Verlag oder Sender. Sie kann alle treffen, die mit Kamera oder Mikro als | |
| Journalist:innen erkennbar am Rande einer Demo stehen. | |
| Und auch das ist anders als in den Jahren nach 1968: Heute geht die Gewalt | |
| gegen die Presse vor allem von rechts aus. Rund 60 Prozent der Angriffe auf | |
| Journalist:innen im vergangenen Jahr waren rechts motiviert, nur etwa | |
| 15 Prozent links. Das zeigen die Zahlen der Bundesregierung. Andere | |
| Erhebungen kommen auf einen noch höheren Anteil von rechtsmotivierten | |
| Angriffen auf Medien. | |
| Andrea Röpke sagt, seit den Anti-Asyl-Demos von Pegida und ähnlichen | |
| Bewegungen sei eine andere Mischung an Menschen auf der Straße. Die | |
| bürgerlichen Demonstrant:innen würden sich von rechtsextremen Hooligans | |
| nicht distanzieren. „Die finden es anscheinend okay, wenn sich Gewalttäter | |
| aus der rechten Hooliganszene an ihre Spitze stellen und sind sich nicht zu | |
| schade, nachzurücken und selbst Gewalt auszuteilen.“ Das konnte man auch | |
| auf den großen Anti-Corona-Demos im vergangenen Jahr beobachten. Da mischte | |
| sich die organisierte Rechte mit einem vermeintlich bürgerlichen Milieu. | |
| Auch Röpke wird immer wieder von Menschen bedroht, die sich außerhalb einer | |
| organisierten Neonazi-Szene bewegen. 2019 hat sie gemeinsam mit Andreas | |
| Speit das Buch „Völkische Landnahme“ herausgebracht. Sie schreibt darin | |
| über die nicht klassischen rechtsextremen Hooligans, eher „fest verankerte | |
| Bildungsbürger“ wie Röpke sagt, „junge Siedler, rechte Ökos“. | |
| Es gibt ein Video eines rechten Youtubers von einer Buchvorstellung Speits | |
| im Oktober 2020. Etwa zehn Menschen stehen im Kreis vor dem | |
| Veranstaltungsort, sie singen alte deutsche Volkslieder. Das Video blendet | |
| über, eine Hand hält das Buch von Röpke und Speit, die andere zündet es an. | |
| Etwa eine Minute lang sieht man dabei zu, wie das Buch langsam verbrennt, | |
| im Hintergrund der Gesang der Völkischen. Bücherverbrennung im Jahr 2020. | |
| „Das ist eine Ansage“, sagt Röpke. Mit über einem Dutzend Abmahnversuchen | |
| und diversen Klagen von einer umstrittenen Kanzlei sollte die öffentliche | |
| Diskussion erschwert werden – bislang ohne Erfolg. Die Post der rechten | |
| Kläger kam teilweise sogar an ihre Privatadresse. Für Röpke ein gezieltes | |
| Vorgehen. „Sie wollen zeigen: Wir wissen, wo du wohnst.“ | |
| Solche Ansagen bekommen auch andere Journalist:innen, die zu rechten | |
| Netzwerken recherchieren, nach Hause geschickt. Einen vergammelten | |
| Schweinekopf im DHL-Paket, eine Drohung mit roter Farbe an die Haustür | |
| geschrieben, Erpresserbriefe, unterschrieben mit „Staatsstreichorchester“ | |
| oder „NSU 2.0“. | |
| Das Europäische Zentrum für Presse- und Medienfreiheit, das ECPMF in | |
| Leipzig, dokumentiert die Entwicklung der Pressefreiheit in Deutschland. | |
| Bereits vergangenes Jahr kamen die Forscher:innen in einer | |
| Fünf-Jahres-Bilanz zu dem Schluss: „Angriffe auf die Presse sind inzwischen | |
| der Normalzustand.“ Demonstrationen, zeigt die Studie, sind in Deutschland | |
| der gefährlichste Ort für Journalist:innen. | |
| Auch die in dieser Woche erschienene [9][Studie „Feindbild Journalist“ des | |
| ECPMF] zeigt einen neuen Rekord im Hinblick auf die Zahlen der politisch | |
| motivierten Übergriffe auf Journalist:innen. 69 Angriffe zählen sie im Jahr | |
| 2020 – ein Anstieg um das Fünffache im Vergleich zum Vorjahr und so viel | |
| wie nie zuvor seit Beginn der Erhebung vor sechs Jahren. 71 Prozent der | |
| Angriffe erfolgten auf „pandemiebezogenen Veranstaltungen.“ | |
| Die Studie zählt 31 Angriffe mit rechtem Tatzusammenhang, fünf mit linkem | |
| und 33, die politisch nicht eindeutig anhand der Rechts-Links-Skala | |
| verordnet werden können. Ein Effekt der „breiten Allianz aus | |
| Verschwörungsgläubigen, Reichsbürger:innen, Neonazis und Esoteriker:innen.“ | |
| Lutz Kinkel ist Geschäftsführer des ECPMF und selbst Journalist. Er | |
| beobachtet die Entwicklungen mit Sorge. Kinkel sagt, er sei „fassungslos, | |
| mit welchem eliminatorischen Elan“ der radikalisierte Diskurs und | |
| insbesondere die Hetze im Netz passiert. Will er beschreiben, was da | |
| passiert, zitiert er einen polnischen Journalisten: „The pleasure to hate.“ | |
| – Die Lust am Hass. Die Presse, so Kinkel, werde zunehmend nicht mehr als | |
| demokratisches Element gesehen. | |
| „Durch die digitale Transformation sind Journalistinnen und Journalisten | |
| keine Gatekeeper mehr“, sagt Kinkel. Jeder könne sich im Netz äußern, | |
| Journalist:innen entschieden nicht mehr über die Auswahl und | |
| Aufarbeitung von Informationen für die Öffentlichkeit, stattdessen würden | |
| von allen Seiten Informationen verbreitet. „Das ist zwar erstmal | |
| begrüßenswert, fördert aber auch eine massive Ausbreitung von | |
| Desinformation.“ | |
| Fake News, also bewusst hergestellte Falschnachrichten, haben zunehmend | |
| auch einen Anteil an der Meinungsbildung in Deutschland. | |
| Verschwörungsideologien, Hetze gegen Minderheiten, das „System“ und die | |
| Presse sowie NS-Verherrlichung erreichen durch Chatgruppen immer mehr | |
| Menschen. | |
| Und dort bleiben sie nicht. Ein Beispiel: Am 2. Februar postet ein Nutzer | |
| in einer Gruppe des [10][Messengerdienstes Telegram] namens | |
| „Verschwörungen“ den Link zu einem Artikel von infranken.de. Das | |
| Onlineportal gehört zur Mediengruppe Oberfranken. In dem Artikel geht es um | |
| einen 48-Jährigen, der an Corona gestorben ist. Auf Facebook hatte ein | |
| Nutzer bezweifelt, dass der Mann an Corona gestorben sei. | |
| Screenshots dieser Aussagen werden in der Telegram-Gruppe geteilt. Dazu | |
| kommentiert ein Mitglied der Gruppe: „ZUR HÖLLE MIT EUCH IHR ELENDEN | |
| SCHMIERFINKEN VON DER LÜGENPRESSE! ZUR HÖLLE.“ Darunter postet er die | |
| Anschrift, Telefonnummer und Mailadresse der Redaktion und schreibt: „Lasst | |
| das Bombardement beginnen Freunde!“ (Zeichensetzungsfehler im Original). | |
| Die Telegram-Gruppe hat mehr als 50.000 Mitglieder. In den Tagen nach dem | |
| Aufruf erreichen die Redaktion sehr viele Anrufe und Mails, schreibt der | |
| Redaktionsleiter von infranken.de auf taz-Anfrage. Persönliche Besuche und | |
| „Bombardements“ erreichen die Redaktion nicht. Woher die vielen Anrufe | |
| kommen, das weiß die Redaktion zunächst nicht. Erst durch die taz-Anfrage | |
| erfährt der Redaktionsleiter von dem Aufruf in der Telegram-Gruppe. | |
| Beispiele wie diese gibt es viele in den vergangenen Monaten, überall in | |
| Deutschland. Sie stehen nicht für die große Gewalt, aber für einen Anfang. | |
| Sie sind eine Art Gift, das langsam in die Redaktionen hinein läuft. Die | |
| Gegner:innen der freien Presse finden Wege, die Mitarbeiter:innen | |
| der Medien zu beschäftigen, sie von ihrer Arbeit abzuhalten, subtile | |
| Drohungen auszusenden. | |
| Dass das gerade in den vergangenen Monaten passiert, ist kein Zufall, | |
| glaubt Lutz Kinkel vom ECPMF. Corona und die Querdenkenbewegung wirkten als | |
| „Brandbeschleuniger“ für die Hetze gegen Journalist:innen. Das bestätigen | |
| auch die offiziellen Zahlen: Von den 252 Straftaten gegen Journalist:innen, | |
| die die Bundesregierung 2020 gezählt hat, fand ein großer Teil am Rande der | |
| Anticoronademos statt, wie in Leipzig im November 2020. | |
| Warum gerade dort, dafür gibt es mehrere Erklärungen. Anne Renzenbrink von | |
| Reporter ohne Grenzen sagt, ein wichtiger Mobilisierungsmoment gegen die | |
| Presse seien für die organisierte Rechte die Neonazi-Aufmärsche in Chemnitz | |
| gewesen, im August 2018. „Diese Brutalität, diese krasse | |
| Medienfeindlichkeit hat mit den Demos gegen die Corona-Maßnahmen ein neues | |
| Ventil gefunden.“ | |
| Lutz Kinkel vom Europäischen Zentrum für Presse- und Medienfreiheit sagt, | |
| Corona verunsichere viele Menschen stark. Sie suchten nach einfachen | |
| Erklärungen für die komplexe Krise. Die könnten Medien aber nicht bieten, | |
| und sie würden auch deshalb zum Feindbild. | |
| Eine Erzählung, die sowohl bei Pegida als auch auf Demonstrationen gegen | |
| die Coronamaßnahmen immer wieder zu hören ist, ist die der vermeintlichen | |
| Eliten. Demnach steckten Medien und Politik unter einer Decke, | |
| Journalist:innen seien „Merkel-Marionetten“ und „Covid-Presse“. Wer in | |
| diesem Schema denkt, wird leicht zum Pressefeind. Und da auf den meisten | |
| Demos von Querdenker:innen und Rechten nur selten Politiker:innen | |
| anwesend sind, dafür aber viele Medienvertreter:innen, entlädt sich der | |
| diffuse Hass auf das gesamte scheinbar korrupte System an ihnen. | |
| Auch in anderen Ländern hat Corona die Gewalt gegen Journalist:innen | |
| angestachelt. Allein innerhalb weniger Tage Ende Januar wurden [11][in den | |
| Niederlanden Journalist:innen während der Arbeit mit Steinen beworfen], | |
| geschlagen, mit einer chemischen Substanz ins Gesicht besprüht und mit | |
| Feuerwerk beschossen. Ähnliches passierte in Italien, Österreich und | |
| Slowenien. | |
| Und in Deutschland? „Ein Witz“ nennt die Journalistin Andrea Röpke die | |
| offiziellen Zahlen der Bundesregierung. Sie schätzt, dass die Dunkelziffer | |
| mindestens doppelt so hoch sein muss. Alleine bei Recherchen gebe es viel | |
| mehr Angriffe. Zur Anzeige bringen würden diese jedoch die wenigsten. | |
| ## Das Versagen der Polizei | |
| Um zu verhindern, dass Journalist:innen den Hass von Demonstrierenden | |
| abbekommen, werden Demonstrationen eigentlich von der Polizei begleitet. | |
| Nur wollen sich viele Pressevertreter:innen darauf nicht verlassen. | |
| Immer wieder passiert es auf Demos, wie auch in Leipzig, dass die Polizei | |
| die Presse nicht nur nicht schützt, sondern sogar behindert: Indem sie | |
| Journalist:innen nicht an Absperrungen vorbei lässt, zu lange die | |
| Personalien feststellt, Platzverweise erteilt, Equipment beschlagnahmt. | |
| Polizist:innen wissen oft nicht ausreichend Bescheid über Artikel 5 des | |
| Grundgesetzes, der die Pressefreiheit garantiert. | |
| Eines der bekanntesten Beispiele dafür ist der Hutbürger: Im Sommer 2018 | |
| filmte ein Team des ZDF in Dresden einen Pegida-Aufmarsch. Nachdem zwei | |
| Demonstranten die Journalist:innen wegen angeblicher Verletzung ihrer | |
| Persönlichkeitsrechte angezeigt hatten, hielt die Polizei das Kamerateam 45 | |
| Minuten fest, kontrollierte deren Ausweise und hinderte sie am Arbeiten. In | |
| den Sozialen Medien bekam dieser Vorfall den Namen Pegizei, um deutlich zu | |
| machen, wie nah sich Polizei und Pegida und Sachsen scheinbar waren. | |
| Es gibt einen Verhaltenskodex zwischen Polizei und Presse. Das Papier mit | |
| dem sperrigen Titel „Verhaltensgrundsätze für Presse/Rundfunk und Polizei | |
| zur Vermeidung von Behinderungen bei der Durchführung polizeilicher | |
| Aufgaben und der freien Ausübung der Berichterstattung“ wurde 1993 als | |
| Folge der Geiselnahme von Gladbeck zwischen der Innenministerkonferenz | |
| (IMK) und Vertreter:innen der Presse geschlossen. Seitdem wurde der | |
| Kodex nicht mehr überarbeitet. | |
| [12][Der deutsche Presserat übergab im November 2020 eine überarbeitete | |
| Fassung des Kodex] an die Innenminister:innen, mit der Bitte, man möge sich | |
| auf neue Regeln einigen. Der damalige Chef der Innenministerkonferenz, der | |
| Thüringer Innenminister Georg Maier (SPD), versprach, man werde den Entwurf | |
| beim nächsten Treffen der Innenminister im November anschauen. Doch das | |
| passierte nicht. | |
| Auf Nachfrage der taz sagt Maier heute, es sei natürlich an der Zeit, den | |
| Verhaltenskodex zu aktualisieren. Innerhalb der Versammlung der | |
| Innenminister:innen gebe es jedoch „im Wesentlichen zwei politische | |
| Linien“ – SPD und CDU. Maier sagt, es sei vor allem seine Partei, die für | |
| den besseren Schutz der Presse einstehe. | |
| Polizist:innen sollten in rechtlichen Fragen und im Umgang mit Medien | |
| besser geschult werden. Aber auch Journalist:innen müssten mehr in die | |
| Verantwortung genommen werden, um besser zu verstehen, dass Demonstrationen | |
| für die Polizei Stress bedeuteten. „Der gegenseitige Perspektivwechsel ist | |
| das, was wichtig ist.“ Maier will, dass Medienvertreter:innen an | |
| Polizeischulen kommen und beide sich über die jeweiligen Erfahrungen | |
| verständigen. | |
| ## Immer wieder Sachsen | |
| Nur: Das passiert längst. Vielleicht nicht flächendeckend, aber allein | |
| Sachsen hat nach den großen Pegida-Ausschreitungen Fort- und | |
| Weiterbildungen zur Pressefreiheit in die Ausbildungspläne der | |
| Polizeischulen aufgenommen. Trotzdem kommt es gerade in diesem Bundesland | |
| immer wieder vor, dass Polizist:innen Journalist:innen an ihrer | |
| Arbeit behindern. | |
| Das Misstrauen vieler Pressevertreter:innen in die Polizei beschränkt | |
| sich nicht nur auf die Einsätze vor Ort. Auch nach Angriffen scheuen sich | |
| viele, Anzeige zu erstatten. Zu oft sei es vorgekommen, dass private | |
| Adressdaten über die Polizei in die Hände von Rechtsextremen gewandert | |
| seien, sagt Journalistin Röpke. | |
| Verdi fordert, dass es möglich werden soll, dass Journalist:innen beim | |
| Erstatten einer Anzeige die Adresse ihrer Redaktion angeben dürfen. | |
| Außerdem sollte es Schwerpunktstaatsanwaltschaften geben, die sich mit | |
| Angriffen auf Medienvertreter:innen beschäftigen. „Im Bereich Hate | |
| Speech gibt es solche schon. Sie beweisen, dass Ermittlungen effektiver | |
| verfolgt werden und seltener im Sande verlaufen“, sagt Monique Hofmann von | |
| der dju in Verdi. | |
| Damit es aber gar nicht erst soweit kommt, haben einige Sender und Verlage | |
| Schutzkonzepte für ihre Mitarbeiter:innen erarbeitet. Etliche Verlage, | |
| darunter auch die taz, haben ein Papier von Reporter ohne Grenzen, Verdi, | |
| den Neuen Deutschen Medienmachern und den Beratungsstellen für Betroffene | |
| rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e. V. unterschrieben, das | |
| Standards definiert, mit denen attackierten Journalist:innen geholfen | |
| werden soll. Dazu gehören juristische, psychologische und finanzielle | |
| Unterstützung der Kolleg:innen. | |
| Einige Redaktionen schicken ihre Presseteams nur noch mit Bodyguards auf | |
| Demonstrationen. Ein solches hatte auch das [13][Team des ZDF, das im | |
| vergangenen Mai am Rande einer sogenannten Hygienedemo in Berlin | |
| attackiert] wurde. Es war einer der brutalsten Angriffe des letzten Jahres: | |
| Vier Mitarbeiter des Teams mussten im Krankenhaus behandelt werden. Drei | |
| Security-Leute hatte das Team dabei, alle drei wurden verletzt. Sechs | |
| Personen wurden festgenommen, sie sollen aus dem linken Spektrum kommen. | |
| Die Staatsanwaltschaft Berlin ermittelt noch. | |
| Bei der Demo, auf der das ZDF-Team angegriffen wurde, waren auch | |
| Reporter:innen des Onlinemediums Vice anwesend. Auch sie wollten | |
| filmen, entschieden sich nach dem Angriff aber, die Kamera wieder | |
| einzupacken. „Wir wissen nicht, wer die Angreifer sind oder ob sie etwas | |
| mit der Demo zu tun haben. Aber dass ein ZDF-Team mit 3 (!) | |
| Personenschützern mitten in Berlin so gewaltsam angegriffen wird, ist | |
| übel“, schreibt der Vice-Reporter danach auf Twitter. „Übel ist auch, dass | |
| der Angriff dazu führt, dass wir nicht frei über das berichten können, was | |
| wir wollen – und so möglicherweise sein Ziel erreicht. Das darf niemals | |
| Normalität werden.“ | |
| Monique Hofmann von der dju sagt, sie erlebe zunehmend, dass | |
| Journalist:innen bestimmte Demonstrationen meiden würden. Dass sie auf | |
| Demos ihren Presseausweis verstecken, das Mikrofon wieder einpacken und nur | |
| noch unauffällig auf ihren Handys mitschreiben. Vor der großen Demo in | |
| Leipzig, Anfang November 2020, habe sie von drei Journalist:innen | |
| gehört, dass sie sich dagegen entschieden hätten, von dort zu berichten – | |
| aus Angst vor Übergriffen. | |
| Auch die Reporterin Andrea Röpke bestätigt das: „Es gibt Regionen, da fährt | |
| schon jetzt keiner mehr hin, weil dort nicht für den Schutz gesorgt werden | |
| kann.“ Sie nennt ländliche Gebiete in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, | |
| Thüringen oder Sachsen. „Zu groß ist die Gefahr.“ | |
| Wenn sich das fortsetzt, entstehen blinde Flecken. Sie entstehen vor allem | |
| dort, wo mediale Aufmerksamkeit besonders nötig ist: Bei den Feinden der | |
| Demokratie und einer freien Gesellschaft. Wozu sie fähig sind, hat der 6. | |
| Januar 2021 in Washington gezeigt, als hunderte Rechtsextreme das Kapitol | |
| stürmten, offenbar mit der Absicht, Abgeordnete zu bedrohen, ihnen Gewalt | |
| anzutun. | |
| Auch am Rande des [14][Sturms auf das Kapitol] wurden Journalist:innen | |
| bedrängt, Kameras und Mikrofone auf einer Art Scheiterhaufen verbrannt. Das | |
| zeigt: Wenn die Gewalt gegen Medien eskaliert, dann trifft das nicht nur | |
| die Journalist:innen, deren Sender und Verlage. Es zielt auf eine freie und | |
| liberale Gesellschaft. | |
| 27 Mar 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Querdenker-Protest-in-Leipzig/!5726829 | |
| [2] /Gewalt-gegen-JournalistInnen/!5724074 | |
| [3] https://www.tagesspiegel.de/politik/angreifer-auf-journalisten-identifizier… | |
| [4] https://www.zvw.de/lokales/rems-murr-kreis/angriff-auf-die-pressefreiheit-w… | |
| [5] https://www.fr.de/politik/dresden-querdenken-corona-demo-protest-polizei-wa… | |
| [6] https://www.sueddeutsche.de/medien/vertrauen-medien-politik-studie-1.5063403 | |
| [7] /Hooligans-gegen-Salafisten/!t5012769 | |
| [8] /Die-taz-und-die-Neuen-Rechten/!5396695 | |
| [9] https://www.ecpmf.eu/feindbild-journalist-2021/ | |
| [10] /Telegram/!t5254291 | |
| [11] /Coronakrawalle-in-den-Niederlanden/!5743196 | |
| [12] /Pressekodex/!t5014894 | |
| [13] https://www.tagesspiegel.de/berlin/angriff-auf-zdf-kamerateam-am-1-mai-pol… | |
| [14] /Nach-dem-Sturm-auf-das-US-Kapitol/!5738598 | |
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| Gewalterfahrungen, die sie bei Protesten von radikalisierten Impfgegnern | |
| erfuhren. | |
| Angriffe bei „Querdenken“-Protest: Neue Normalität | |
| Am Samstag wurden bei einer verbotenen „Querdenken“-Demo in Berlin | |
| Journalist:innen angegriffen und verletzt. Beteiligt waren Neonazis. | |
| Angriff auf DJU-Chef Jörg Reichel: Geschlagen und getreten | |
| Journalisten-Gewerkschafter Jörg Reichel wurde bei der „Querdenken“-Demo in | |
| Berlin angegriffen und verletzt. Seit Monaten hetzt die Szene gegen ihn. | |
| Mehr Schutz für Presse auf Demos: Debatte über Strafbarkeitslücke | |
| Hessens Justizministerin möchte, dass die gewaltlose Behinderung von | |
| Journalist:innen strafbar wird. Doch ihre Forderung ist politisch | |
| umstritten. | |
| Krawalle nach Dynamo-Spiel: Unermüdlicher Einsatz | |
| In Dresden haben rechte Hooligans Presse und Polizei angegriffen. Die | |
| Eskalation zeigt, warum solche Ereignisse dokumentiert werden müssen. | |
| Angriffe gegen Journalist:innen: Gegen die neue Normalität | |
| Angriffe auf Jornalist:innen haben zugenommen. Um sie besser zu | |
| schützen, hat eine Initiative einen Schutzkodex für Medienhäuser | |
| erarbeitet. | |
| Pressefreiheit in Deutschland: Behörden haben versagt | |
| Im neuen Presseindex von Reporter ohne Grenzen ist Deutschland abgerutscht. | |
| Medienvertreter: innen werden immer häufiger attackiert. | |
| Neue Rangliste zur Pressefreiheit: Nicht mehr ganz so frei | |
| Die Organisation Reporter ohne Grenzen (RSF) hat eine neue „Rangliste der | |
| Pressefreiheit“ veröffentlicht. Deutschland ist nur „zufriedenstellend“. | |
| Pressefreiheit in Italien: Behandelt wie die Mafia | |
| Die sizilianische Staatsanwaltschaft beschuldigt NGOs, mit libyschen | |
| Schleppern zusammengearbeitet zu haben – und hat Journalist*innen | |
| abgehört. | |
| Seehofer präsentiert Kriminalstatistik: Kriminelle passen sich Pandemie an | |
| Weniger Einbrüche, mehr Onlinebetrug: Die Straftaten in Deutschland | |
| verändern sich. Seehofer will eine Beobachtung der Corona-Proteste. | |
| VS Berlin überwacht Coronaleugner: Weg mit den Samthandschuhen | |
| Die Überwachung der Corona-Verschwörer ist richtig. Sie kann helfen, die | |
| demokratiefeindliche Bewegung nicht weiter zu unterschätzen. | |
| Presseangriffe bei „Querdenker“-Demo: Beschimpft und beworfen | |
| In Stuttgart sollen Steine nach einem SWR-Team geflogen sein. Für | |
| Journalist*innen sind „Querdenker“-Demos zunehmend bedrohlich. | |
| Neonazis in der Corona-Protestbewegung: Ohne Abstand | |
| Am Samstag protestieren „Querdenker“ wieder gegen Coronaregeln. Die | |
| Bewegung wird von Rechtsextremen unterwandert – und wehrt sich nicht. | |
| Politischer Angriff auf freies Radio: Konzept Pressefreiheit unbekannt | |
| In Flensburg wollen FDP und CDU dem freien Radiosender Fratz Gelder | |
| entziehen. Das offenbart demokratische Defizite bei den Fraktionen. | |
| Presse in Ostdeutschland: Wer streichelt unsere Seele? | |
| Die Ostdeutschen haben den überregionalen Medien mit Sitz in der alten BRD | |
| den Rücken gekehrt. Ist Re-Ossifizierung die Lösung? | |
| Jens Spahn und Journalisten: Das Private ist politisch | |
| Jens Spahn möchte nicht, dass der Kaufpreis seiner Villa in einer Zeitung | |
| steht. Der “Tagesspiegel“ hat ihn veröffentlicht, Spahn geht dagegen vor. |