| # taz.de -- Bundeskanzler Olaf Scholz zu Lützerath: „Da verläuft für mich … | |
| > Olaf Scholz verteidigt den Lützerath-Kompromiss und wünscht sich Proteste | |
| > für Windräder. Ein Gespräch über Kampfpanzer und den Spaß am schnellen | |
| > Fahren. | |
| Bild: Olaf Scholz beim Gespräch mit der taz im Kanzleramt, kurz vor der endgü… | |
| Olaf Scholz sitzt auf der Fensterbank, als er die taz im Kanzleramt zum | |
| Gespräch empfängt. Das große Bücherregal in seinem Büro steht noch immer | |
| fast leer. Ein Brockhaus-Lexikon steht drin, es ist noch von seiner | |
| Vorgängerin. Aber das Buch von Max Weber, das hat Scholz von | |
| Baden-Württembergs Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann geschenkt | |
| bekommen. | |
| wochentaz: Am Wochenende demonstrieren wohl tausende | |
| [1][Klimaaktivist:innen in Lützerath]. Auch Greta Thunberg wird | |
| erwartet. Sie haben einst gegen Atomkraft protestiert. Wäre der Juso Olaf | |
| Scholz heute auch bei den Anti-Kohle-Protesten dabei? | |
| Olaf Scholz: Na, ich will mir nicht anmaßen, als 64-Jähriger darüber zu | |
| spekulieren, was ich heute tun würde, wenn ich Anfang zwanzig wäre. Als | |
| Juso habe ich mich seinerzeit an Kundgebungen gegen Atomkraftwerke | |
| beteiligt. Deshalb war es für mich als frisch in den Bundestag gewählter | |
| Abgeordneter etwas Besonderes, im Jahr 2000 während der ersten rot-grünen | |
| Koalition den Atomausstieg zu beschließen. Heute wollen wir die | |
| erneuerbaren Energien massiv ausbauen und haben den Zeitplan zum kompletten | |
| Ausstieg aus der Kohlenutzung beschlossen. | |
| Die Aktivist:innen sagen: Mit der Erschließung der Kohle unter | |
| Lützerath verrät die Politik ihre Klimaziele. | |
| Dieser Vorwurf trifft nicht zu. Es ist genau umgekehrt: Wir machen Politik, | |
| damit wir unsere Klimaziele erreichen. Als viertgrößte Volkswirtschaft der | |
| Welt ist es unsere Aufgabe zu zeigen, dass Wohlstand auch in einer | |
| CO2-neutralen Welt möglich ist. Mit unseren Beschlüssen stellen wir sicher, | |
| dass wir die Klimaziele erreichen können und gleichzeitig den Wohlstand in | |
| unserem Land bewahren – anders wird es nicht funktionieren. | |
| Ist der Protest gegen die Räumung produktiv – oder halten Sie ihn für | |
| überflüssig? | |
| Wie gesagt, auch ich habe früher häufiger demonstriert. Allerdings gibt es | |
| für mich eine Grenze, die genau da verläuft, wo Protest gewalttätig wird. | |
| Mit Blick auf Lützerath: Fünf andere Dörfer in der Nachbarschaft bleiben, | |
| anders als ursprünglich geplant, erhalten – das ist eine gute Nachricht. | |
| Vielleicht sollte sich der Protest eher dagegen richten, dass es sechs | |
| Jahre braucht, bis eine Windkraftanlage genehmigt wird. Wenn wir die | |
| Energiewende schaffen wollen, brauchen wir mehr Tempo. | |
| Solche Demonstrationen wünschen Sie sich? | |
| Ja. | |
| Deutschland hat im vergangenen Jahr 761 Millionen Tonnen CO2 in die | |
| Atmosphäre geblasen – so viel wie im Jahr zuvor. Wenn man die Kohle in | |
| Lützerath verfeuert, kommen noch mal 280 Millionen Tonnen dazu. | |
| Das ist kein ganz redliches Argument. Denn der russische Überfall auf die | |
| Ukraine und seine Folgen sind die Ursache dafür. Um den Ausfall der | |
| Gaslieferungen aus Russland auszugleichen, haben wir uns entschieden, 20 | |
| Kohlekraftwerke zu reaktivieren, um in dieser akuten Krise die | |
| Energieversorgung sicherzustellen. | |
| Nachvollziehbar. Dennoch war 2022 kein gutes Jahr für den Klimaschutz. Wird | |
| 2023 auch ein verlorenes Jahr? | |
| Wir haben 2022 auf die akute Energiekrise reagiert und gleichzeitig die | |
| Weichen gestellt für mehr Klimaschutz. Wir haben gewonnen, nicht verloren. | |
| Es ist das unbedingte Ziel meiner Regierung, dafür zu sorgen, dass wir bis | |
| 2045 klimaneutral werden. Das heißt, wir müssen bis 2030 rund 80 Prozent | |
| des Stroms aus Erneuerbaren gewinnen – bei gleichzeitig stark wachsender | |
| Stromerzeugung. Denn wir müssen die Industrie von Kohle, Öl und Gas auf | |
| Strom und Wasserstoff umstellen. Gleichzeitig müssen Mobilität und Heizen | |
| klimaneutral werden. Wir stehen vor der größten industriellen | |
| Modernisierung in Deutschland seit Ende des 19. Jahrhunderts – diese | |
| Aufgabe sollte niemand unterschätzen. | |
| Von 761 Millionen auf null Tonnen in 22 Jahren – klappt das? | |
| Davon bin ich überzeugt. Ich weiß aus vielen Gesprächen mit der Wirtschaft, | |
| dass deren Vertreterinnen und Vertreter ebenfalls davon überzeugt sind. | |
| Allerdings müssen wir jetzt die Voraussetzung dafür schaffen. Das Ziel muss | |
| sein, bald jeden Tag drei bis vier große Windkraftanlagen in Deutschland | |
| aufzustellen. Wir haben bereits viele Gesetze geändert, um den Bau von | |
| Windkraft- und Solaranlagen sowie den Ausbau der Netze zu beschleunigen. | |
| Gleichzeitig weihen Sie am Samstag ein LNG-Terminal in Lubmin ein – für | |
| fossile Energie. Ist das kein Verrat der Klimaziele? | |
| Im Gegenteil, wir achten darauf, dass die LNG-Terminals künftig auch für | |
| Wasserstoff genutzt werden können. Denn in absehbarer Zeit werden wir | |
| fossiles Erdgas durch sauberen Wasserstoff ersetzen, der mit Windkraft oder | |
| Solarenergie hergestellt wird. Die dafür nötige Infrastruktur für den | |
| Import von Wasserstoff entsteht durch diese Investitionen nun früher. | |
| Kritiker:innen sagen, diese LNG-Terminals sind überdimensioniert, die | |
| Lieferverträge sind zu langfristig und können den Wasserstoffausbau | |
| behindern. | |
| Der Vorwurf trifft nicht zu, denn er unterschlägt, dass wir bis 2030 die | |
| Strommenge, die wir für Deutschland benötigen, um ein Drittel erhöhen | |
| müssen. Und zehn Jahre später muss sie sich noch einmal verdoppeln. All das | |
| ist nötig, damit Deutschland in 22 Jahren zum klimaneutralen Industrieland | |
| wird – die Wirtschaft muss dafür Milliardensummen investieren. Deshalb | |
| brauchen die Unternehmen die Gewissheit, dass sie jetzt mit dem nötigen | |
| Erdgas versorgt werden, um ihre Produktion sicherzustellen. Und sie damit | |
| planen können, dass künftig Wasserstoff und Strom zu bezahlbaren Preisen | |
| zur Verfügung steht. | |
| Das postfossile Deutschland wird zwei Drittel der Wasserstoffenergie | |
| importieren. Es gibt schon jetzt etwa in Chile Widerstand gegen | |
| industrielle Wasserstoffproduktion, die enorme Mengen Wasser verbraucht. | |
| Wird die schöne neue Ökowelt neokolonial? Ausbeutung dort, Reichtum hier? | |
| So würde es nicht gehen, das ist doch klar. Viele Länder wollen bei sich | |
| Wohlstand schaffen, indem sie Wasserstoff herstellen und exportieren. Und | |
| Deutschland ist ein beliebter Handelspartner, weil wir auf | |
| umweltfreundliche Standards und faire Arbeitsbedingungen achten. | |
| Es braucht also kein Gesetz, das verhindert, dass dreckig produzierter | |
| Wasserstoff nach Deutschland importiert wird? | |
| Wir haben ein gutes Lieferkettengesetz, das seit Jahresbeginn voll wirkt. | |
| Es nimmt die Produzenten in die Pflicht, sich an Umweltschutz- und | |
| Menschenrechtsstandards zu halten. | |
| Werden die Atomkraftwerke im Frühjahr abgeschaltet? | |
| Ja, definitiv. | |
| Die FDP macht die Diskussion wieder auf. Nur heiße Luft? | |
| Zur demokratischen Debatte gehören unterschiedliche Meinungen. Die | |
| Gesetzeslage ist eindeutig – das gilt. | |
| Energiesparen ist ein großes Thema. Hier im Kanzleramt ist es ja relativ | |
| warm … | |
| 19 Grad. | |
| Okay, es wird also Energie gespart. Wie ist es bei Ihnen zu Hause in | |
| Potsdam? Drehen Sie die Heizung runter? | |
| Zu Hause beherzigen wir natürlich die Energiesparvorschläge der | |
| Bundesregierung. Die milden Temperaturen derzeit machen das etwas leichter. | |
| Wissen Sie, wie hoch aktuell Ihre Energiekosten sind? | |
| Nein. Als Mieter erhalte ich die Abrechnung der Nebenkosten erst in ein | |
| paar Monaten. | |
| Menschen, die Bürgergeld bekommen, müssen ihre hohen Stromkosten selbst | |
| bezahlen. Muss das Bürgergeld erhöht werden? | |
| Zum Jahresbeginn haben wir die Regelsätze für die Bezieherinnen und | |
| Bezieher von Bürgergeld gerade um 53 Euro angehoben – die höchste | |
| Steigerung seit Jahren. Gleichzeitig haben wir die Preisbremsen für Wärme | |
| und Strom eingeführt, damit alle mit dieser schwierigen Situation | |
| zurechtkommen können. | |
| Sozialverbände fordern, Stromsperren generell zu verbieten. Einverstanden? | |
| Es muss in dieser Lage einen angemessenen Umgang mit Stromsperren geben, | |
| etwa indem Rechnungen gestundet werden. Das hat die Bundesregierung den | |
| Netzbetreibern vorgeschrieben. | |
| Wieso kein Verbot von Stromsperren wie in der Coronazeit? In Frankreich | |
| gibt es das auch. | |
| Die Bundesregierung hat massive Anstrengungen unternommen, um gerade jenen | |
| zu helfen, die sehr wenig Geld haben: indem wir etwa das Wohngeld für | |
| Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit geringen Einkommen massiv angehoben | |
| und das Kindergeld auf 250 Euro erhöht haben und auch den Kinderzuschlag. | |
| Wir haben Sozialversicherungsbeiträge für Niedrigverdiener gesenkt. Für | |
| jemanden, der um die 1.200 Euro verdient, ist das eine Ersparnis von 50 | |
| Euro pro Monat. Und von der Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro | |
| profitieren sechs Millionen Beschäftigte. Die taz könnte auch titeln: | |
| Größte Einkommensverbesserung für Niedrigverdiener seit Jahrzehnten! | |
| Ach, das sollen wir schreiben? | |
| Das könnten Sie schreiben. | |
| Wird es weitere staatliche Entlastungen geben? | |
| Wir haben in den vergangenen Monaten insgesamt 300 Milliarden Euro zur | |
| Verfügung gestellt, um Entlastung zu schaffen. Jetzt gucken wir, wie es | |
| wirkt. | |
| Als Sie noch in Hamburg lebten, kursierte unter Ihren Genoss:innen der | |
| Satz: „Fahr nie mit Olaf!“ Weil Sie so gerne schnell Auto fahren. Gibt es | |
| deshalb kein Tempolimit auf deutschen Autobahnen? | |
| (lacht) Als ich noch selbst Auto gefahren bin, bin ich gerne schnell | |
| gefahren. Das will ich nicht leugnen. Allerdings: Schon in der Zeit als | |
| Bürgermeister war ich sehr viel im Dienstwagen unterwegs und wurde | |
| gefahren. Und als Bundeskanzler fahr ich gar nicht mehr selbst. | |
| Vermissen Sie das? | |
| Ich bin gerne Auto gefahren. | |
| Was halten Sie als jemand, der gern schnell fährt, vom Tempolimit? | |
| Im SPD-Programm zur Bundestageswahl, das mit meiner Stimme beschlossen | |
| wurde, stand die Forderung nach Tempo 130 auf Autobahnen. Bei Bildung der | |
| Regierung haben wir darüber in der Koalition aber keine Verständigung | |
| erzielen können. | |
| Im Verkehrssektor wird bislang kaum CO2 eingespart. FDP-Verkehrsminister | |
| Volker Wissing betreibt quasi Arbeitsverweigerung. Können Sie da als | |
| Regierungschef einfach zusehen? | |
| Der Vorwurf wird ihm nicht gerecht. Ich glaube, dass er eine sehr | |
| sorgfältige und intensive Arbeit leistet als Verkehrsminister und sich an | |
| die Probleme macht, die jahrelang liegen geblieben sind. Manches dauert | |
| eben. | |
| Ach ja? | |
| Ja, das weiß ich aus eigener leidvoller Erfahrung. Kaum war ich in Hamburg | |
| Bürgermeister, haben wir 2011 beschlossen, die U-Bahn-Linie durch die | |
| Hafencity um eine Haltestelle bis zu den Elbbrücken zu verlängern. Die | |
| Strecke wurde 2019 eingeweiht, da war ich schon nicht mehr Bürgermeister. | |
| Und ich habe dafür gekämpft, eine neue U-Bahn-Linie quer durch Hamburg zu | |
| bauen. Sie wird wohl Mitte der dreißiger Jahre fertig. | |
| Das sind ja beunruhigende Aussichten für Deutschland. | |
| Absolut. Deshalb sagen wir ja: Wir müssen alle Infrastrukturprojekte | |
| beschleunigen, gerade wenn es um den Schienenverkehr geht. Und wir müssen | |
| die Elektrifizierung des Verkehrs vorantreiben. Der Ausbau der | |
| Ladeinfrastruktur muss viel schneller vorangehen. All das ist nötig, damit | |
| wir eine klimaneutrale Mobilität erreichen. | |
| Wir haben 48,5 Millionen zugelassene Pkws in Deutschland. Müssen es weniger | |
| werden? | |
| Ich halte nichts davon, das staatlich zu verordnen. Die Bürgerinnen und | |
| Bürger müssen selbst entscheiden, wie sie sich fortbewegen wollen. Es geht | |
| darum, gute Angebote zu machen, damit mehr Leute das eigene Auto stehen | |
| lassen oder ganz darauf verzichten. | |
| Fahren Sie Fahrrad? | |
| Mitunter. | |
| Auch in Berlin? | |
| Als ich Finanzminister war, habe ich mich ein paarmal mit dem Rad aus | |
| Potsdam zum Ministerium aufgemacht. Ich habe auch vor, das zu wiederholen – | |
| zum Kanzleramt. Aber überwiegend werde ich natürlich im Auto gefahren. | |
| Sie sagen, Bürger:innen sollen selber entscheiden. Aber müssen wir nicht | |
| auch über Verzicht sprechen? | |
| Ich bin kein Anhänger der Verzichtserzählung. Ich bin überzeugt, dass wir | |
| es mit technologischer Modernisierung schaffen werden, CO2-neutral zu | |
| wirtschaften, das Klima und unsere Ressourcen zu schonen und unseren | |
| Wohlstand zu erhalten. Diese große Ingenieurinnen- und Ingenieursleistung | |
| muss Deutschland zustande bringen. | |
| Wenn wir den Klimawandel und die ökologischen Herausforderungen ernst | |
| nehmen, können wir wirklich in 20 Jahren genauso viel Fleisch essen, Auto | |
| fahren und fliegen wie heute? | |
| Lassen Sie uns kurz den Blick weiten: Wir leben in einer Welt, die um das | |
| Jahr 2050 wohl etwa zehn Milliarden Einwohnerinnen und Einwohner haben | |
| wird. Und sie werden alle den Lebensstandard und den Wohlstand haben | |
| wollen, den wir in den Industrieländern seit Langem genießen. Da wird es | |
| nicht funktionieren, dass wir ihnen als Urenkel der einstigen | |
| Kolonialherren, die die Industrialisierung mit einer unglaublichen | |
| imperialistischen Unterdrückung des Restes der Welt vorangetrieben haben, | |
| dann vorrechnen, das sei zwar ein schöner Traum, aber für sie nie | |
| erreichbar. | |
| Wir meinten keine andere Gesellschaft, sondern unsere. Wie reduzieren wir | |
| unseren ökologischen Fußabdruck? | |
| Wir werden dieses Ziel nicht mit Verzicht oder Verboten erreichen, sondern | |
| dadurch, dass wir weniger Ressourcen verbrauchen, sorgsamer mit unseren | |
| Rohstoffen umgehen und unsere Industrie so modernisieren, dass sie das | |
| Klima nicht schädigt. | |
| Wirtschaftswachstum ohne mehr Ressourcenverbrauch hat noch nie | |
| funktioniert. | |
| Doch, denken Sie beispielsweise an das Auto, da hat es über die Jahre große | |
| Effizienzgewinne gegeben, die allerdings oft dadurch zunichtegemacht | |
| wurden, dass die Autos größer und schneller wurden. Nun geht es darum, die | |
| Mobilität zu elektrifizieren und eine klimafreundliche Landwirtschaft zu | |
| entwickeln und umweltfreundlichere Heizungen. Bei der industriellen | |
| Produktion müssen wir noch stärker auf Recycling setzen, um die Ressourcen | |
| zu schonen. Darum muss es gehen – und nicht um ein asketisches Leben. | |
| Geht es wirklich ohne Verzicht? Fleisch zu produzieren ist unökologisch und | |
| klimaschädlich. | |
| Lassen Sie es mich so sagen: Ich bin kein Anhänger der Volkserziehung. | |
| Politik soll den Leuten nicht vorschreiben, wie viel Fleisch sie essen. | |
| Aber in fast jedem Ernährungstipp ist zu lesen: Weniger Fleisch zu essen | |
| ist gut für die Gesundheit. | |
| Worauf könnten Sie am ehesten verzichten? | |
| Ich habe einen so durchgeplanten Alltag, dass ich mir diese Frage gern | |
| stellen würde. | |
| Denken Sie nie: Ich sollte weniger Fleisch essen“? | |
| Doch. | |
| Hat das Konsequenzen? | |
| Immer mal wieder. | |
| Sie haben als Hamburger Bürgermeister nie einen Senator oder eine Senatorin | |
| gefeuert. Wird Verteidigungsministerin Christine Lambrecht das erste | |
| Kabinettsmitglied, das Sie vor die Tür setzen? | |
| Aus meiner Hamburger Zeit können Sie erkennen, wie ich mit denen umgehe, | |
| mit denen ich zusammenarbeite. Da können sich alle auf mich verlassen. | |
| Ist Lambrecht eine gute Verteidigungsministerin? | |
| Ich arbeite mit allen Mitgliedern des Bundeskabinetts sehr eng und | |
| vertrauensvoll zusammen. | |
| Am 20. Januar treffen sich die Nato-Verteidigungsminister:innen wieder in | |
| Ramstein. Polen will Kyjiw nun auch Kampfpanzer liefern. Was tut | |
| Deutschland? | |
| Deutschland unterstützt die Ukraine finanziell, politisch, humanitär und | |
| auch mit Waffen. Wir liefern besonders wirksame Waffen: die Panzerhaubitze. | |
| Die Mehrfachraketenwerfer, die außer uns nur Großbritannien und die USA zur | |
| Verfügung stellen. Wir unterstützen die Luftverteidigung der Ukraine aktiv | |
| mit dem Flakpanzer Gepard, mit dem System Iris-T und demnächst mit | |
| Patriot-Abwehrraketen. Und wir folgen einer klaren Linie: die Ukraine nach | |
| Kräften zu unterstützen. Verhindern, dass es zu einem direkten Konflikt | |
| zwischen Nato und Russland kommt. Und keine nationalen Alleingänge, sondern | |
| enge Koordinierung mit unseren Freunden und Verbündeten, allen voran mit | |
| den USA. Die USA wollen nun den Schützenpanzer Bradley liefern, Deutschland | |
| liefert Schützenpanzer vom Typ Marder. | |
| Kommt der Leopard-Panzer hinzu? | |
| Wie erwähnt, treffen wir klug abgewogene und international eng koordinierte | |
| Entscheidungen. Vor wenigen Tagen haben wir beschlossen, 40 Schützenpanzer | |
| und ein Patriot-System zu liefern. | |
| Und Kampfpanzer? | |
| Die vergangenen elf Monate haben gezeigt, dass es klug ist, sich nicht | |
| durch aufgeregte tägliche, ja manchmal stündliche Forderungen kirre machen | |
| zu lassen. Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger findet das abgewogene | |
| Vorgehen der Regierung bei Waffenlieferungen richtig. Ich weiß, dass viele | |
| sich große Sorgen machen und hoffen, dass der Kanzler und seine Regierung | |
| die Nerven behalten. Was mich bedrückt: In der medialen Berichterstattung | |
| spiegelt sich das kaum wider, da scheint es ständig nur darum zu gehen, was | |
| als Nächstes geliefert werden kann. Diese Verengung der politischen Debatte | |
| ist problematisch. | |
| Nerven behalten, heißt das – keine Kampfpanzer liefern, damit Deutschland | |
| keine Kriegspartei wird? | |
| Die Nato ist nicht Kriegspartei und wir sind es auch nicht, und dabei muss | |
| es bleiben. Ich bin manchmal überrascht, wie leichtfertig mitunter | |
| diskutiert wird. In einer weltpolitisch so gefährlichen Situation muss man | |
| immer die Konsequenzen des eigenen Handelns im Blick behalten und sehr | |
| sorgsam abwägen. Es gibt da keine absolute Wahrheit. Führungsstärke | |
| bedeutet nicht, auf der Barrikade zu stehen und „Auf in den Kampf“ zu | |
| rufen. Führungsstärke bedeutet in dieser Situation, die eine Gefahr für den | |
| Frieden auf der ganzen Welt darstellt, die Nerven zu haben, das Richtige zu | |
| tun. | |
| Fürchten Sie noch immer den Einsatz von russischen Atomwaffen? | |
| Atomwaffen dürfen nicht eingesetzt werden. Das ist eine zynische | |
| Diskussion, an der ich mich nicht beteilige. | |
| Putin hat mehrmals mit dem Einsatz gedroht … | |
| Ein Ergebnis meiner Peking-Reise im November war, den chinesischen | |
| Präsidenten dafür zu gewinnen, deutlich zu machen, dass es nicht zu einem | |
| Einsatz von Atomwaffen kommen darf. Das war die Grundlage dafür, dass wir | |
| uns auf dem G20-Gipfel auf Bali international auf eine ähnliche Erklärung | |
| verständigen konnten. | |
| Hat Putin das beeindruckt? | |
| Seitdem sind zumindest die Drohungen aus Moskau leiser geworden. Die | |
| Entschiedenheit, mit der auch Chinas Führung einen Atomwaffeneinsatz im | |
| Ukrainekrieg ablehnt, ist unübersehbar. Beim G20-Gipfel haben viele Länder | |
| aus Asien, Afrika und Südamerika die Resolution unterstützt. Es hat sich | |
| ausgezahlt, dass wir zum G7-Gipfel in Elmau auch Indien, Indonesien, | |
| Südafrika, Senegal und Argentinien eingeladen haben. Das war ein Zeichen | |
| der Kooperation, das es von den G7 vorher so nicht gab. | |
| Gibt es weitere diplomatische Offensiven? | |
| Ich werde nach Lateinamerika, nach Afrika reisen und die Beziehungen zu | |
| Indien und Indonesien weiter vertiefen. Meine Einschätzung ist: Die Welt | |
| wird sich nicht wieder bipolar aufteilen mit den Zentren USA und China, | |
| sondern multipolar entwickeln. Die aufstrebenden Nationen Asiens, die | |
| großen Länder Südamerikas und Afrikas werden an Bedeutung gewinnen. Und uns | |
| als Westen bleiben jetzt noch 20, vielleicht 30 Jahre Zeit, um zu diesen | |
| Ländern gute, partnerschaftliche Verhältnisse aufzubauen. | |
| Welches Buch lesen Sie eigentlich gerade? | |
| Über die Weihnachtsfeiertage habe ich Lukas Bärfuss’ „Vaters Kiste“ | |
| gelesen. Ein kleines, tolles Buch. Und Kim de l’Horizons „Blutbuch“. | |
| Mochten Sie es? | |
| Es hat den Deutschen Buchpreis zu Recht bekommen. Und ich habe Mohamed | |
| Mbougar Sarrs „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ gelesen. Ein | |
| großartiges Buch. | |
| Vielen Dank für das Gespräch, Herr Bundeskanzler. Oder ist Ihnen „Herr | |
| Scholz“ lieber? | |
| Ob Olaf, Herr Scholz oder Herr Bundeskanzler, ist mir ziemlich schnurz. | |
| 13 Jan 2023 | |
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