# taz.de -- Biografie über Olaf Scholz: Mund abputzen, weitermachen | |
> „Zeit“-Journalist Mark Schieritz hat ein freundliches Porträt über | |
> Kanzler Olaf Scholz geschrieben. Bei entscheidenden Fragen muss auch er | |
> passen. | |
Bild: Farblos geblieben: Olaf Scholz | |
Man darf sich die kurze Politikerbiografie als ein scheues Wesen | |
vorstellen. Flink springt sie nach dem Amtswechsel aus dem Busch, zeigt | |
sich kurz und huscht oft ebenso rasch wieder in den Blätterwald zurück. | |
Kaum ist sie da, ist sie auch wieder weg. Hinschauen ist also angesagt, | |
denn es ist eine gewisse publizistische Hochnäsigkeit, anzunehmen, dass | |
erkenntnistechnisch von einer 175-Seiten-Biografie nicht viel zu holen sei. | |
Die kurze Form wird oft unterschätzt. | |
Der Journalist Mark Schieritz legt fast noch termingerecht zur Kanzlerwahl | |
ein solch knappes Format vor und fragt, wer ist unser Kanzler. | |
So banal die Frage, so berechtigt ist sie. Denn was weiß man schon über den | |
Menschen Scholz, wie er tickt, was ihn antreibt. Viel ist es nicht – und | |
bereits dies macht ihn zu einem Politiker seiner Zeit. Wer auf Anekdoten, | |
gar auf Zoten und Possen aus dem Leben des jungen Olaf S. hofft, wird | |
enttäuscht: Es gibt sie schlichtweg nicht. Scholz reiht sich hier nahtlos | |
in die Generation der Steinmeiers und Merkels ein, die nicht forsch an | |
Zäunen rüttelte und trotzdem – ja, gerade aus diesem Grund – Karriere | |
machte, die deutsche Politik am Anfang des 21. Jahrhunderts bestimmt hat | |
und es nach wie vor tut. | |
Scholz ist einer von ihnen. Er tritt 1975 in die SPD ein, engagiert sich – | |
auch international – für die Sozialdemokratie, gehört zum Stamokap-Flügel | |
der Jusos, steigt als Kreis- und Landesvorsitzender stetig auf. Seit Anfang | |
der 2000er Jahre prägt er auch die Bundes-SPD an wichtigen Positionen. | |
## 20 Jahre im Scheinwerferlicht | |
Als Hamburger Innensenator, Bundesarbeitsminister, Erster Bürgermeister von | |
Hamburg, Bundesfinanzminister und stellvertretender Bundeskanzler regiert | |
er im Land und im Bund als feste Größe auf dem politischen Tableau der | |
Bundesrepublik – und doch, auch nach gut 20 Jahren im Scheinwerferlicht des | |
politischen Interesses: als Person bleibt Scholz reichlich farblos. | |
Das macht jedem Biografen zu schaffen. Womöglich hätte Schieritz nur tiefer | |
graben müssen, Scholz’ Weggefährten und vor allem auch seine politischen | |
Gegner befragen, Protokolle studieren und ihn selbst zum Gespräch bitten | |
müssen (nichts davon ist geschehen). Das ist einerseits ein Kritikpunkt, | |
andererseits – und der Autor legt das nahe: es hätte im Fall Scholz wohl eh | |
keinen Zweck gehabt. | |
Ein Mann, der kein Wort zu viel sagt. Reden grundsätzlich für überschätzt | |
hält. In Interviews nur das antwortet, was er ohnehin vor hat zu sagen, | |
oder bei unangenehmen Fragen schlichtweg schweigt. Das „ordentliche | |
Regieren“ hat er zum Grundsatz seiner Politik gemacht. Gute | |
Verwaltungspraxis und der Ausgleich von Interessen ist ihr Wesenskern, | |
Verhandlung die Lösung. | |
Das politische Klein-Klein ergibt sich für ihn aus der sachlogischen | |
Einsicht, dass die Dinge nun einmal kompliziert sind und außer ihm selbst | |
nur wenige sie zu durchschauen vermögen. Dieser selbstgewisse | |
Aktentaschen-Populismus ist Scholz zu eigen und wird von ihm | |
hanseatisch-schlumpfig gepflegt und zuweilen kultiviert. | |
## An sich gezweifelt habe er nie | |
Dass der regierungserfahrene „Bundes-Olaf“ im Stoff steht wie kein Zweiter, | |
sei jedenfalls der entscheidende Vorteil bei der Bundestagswahl gewesen, | |
heißt es aus der SPD. An sich gezweifelt habe er ohnehin nie. Für | |
Niederlagen wie den verpassten Parteivorsitz 2019 habe er einen gut geübten | |
Umgang entwickelt: Er ignoriert sie einfach. | |
Dieselbe Lässigkeit, die Scholz bei der Aufarbeitung seiner Rückschläge an | |
den Tag legt, zeigt Schieritz bei der freundlichen Beschreibung der | |
„Pannen“ in der Karriere des Olaf Scholz. In knappen Worten und nach | |
wenigen Seiten urteilt Schieritz, dass die G20-Krawalle von Hamburg, der | |
beispiellose Wirecard-Bilanzbetrug und der Steuerbetrug der Warburg-Bank | |
nach Lage der Dinge „zumindest was Olaf Scholz betrifft keine politischen | |
Skandale“ seien. Autor und Protagonist sind da einer Meinung: Mund abputzen | |
und weitermachen. | |
Natürlich werden höchste Ämter nicht für Selbstreflexionen vergeben – doch | |
wer von Demut und Respekt spricht, darf schon mal selbstkritisch | |
zurückblicken. Andersherum: Scholz’ Fähigkeit, politische Rückschläge | |
wegzustecken und unbeirrt weiterzumachen, dürfte angesichts der | |
Herausforderungen der Zeit – Krieg, Klima und Pandemie, um nur drei | |
Stichworte zu nennen – eine künftig noch häufiger gefragte Qualität | |
darstellen. | |
Aber was noch? Warum sollte ausgerechnet dieser Mann der richtige sein für | |
Aufbruch und Modernisierung? Die Antwort bleibt offen. Man wird jedoch | |
untergründig fündig. | |
## Ökonomen und Historiker | |
Da ist ein gewisses intellektuelles Fundament, auf das Scholz sein | |
Politikgebäude baut. Schieritz porträtiert ihn als lesenden und | |
diskutierenden Menschen. Wo Politik oftmals aus einseitigen | |
Spiegelstrichdokumenten abgeleitet wird, lässt Scholz immerhin Lücken fürs | |
offene Gespräch zu: Vor allem Ökonomen und Historiker gaben sich im | |
Finanzministerium die Klinke in die Hand. Die Schablone für seine | |
Respekt-Kampagne im Bundestagswahlkampf geht zurück auf den | |
Gerechtigkeitsentwurf des US-Philosophen Michael Sandel. | |
Scholz ist fasziniert von [1][Sandels Buch „Vom Ende des Gemeinwohls“]. Im | |
Dezember 2020 diskutieren die beiden während einer SPD-Veranstaltung. Auch | |
im Wahlkampf schließt er sich mit dem Harvard-Professor per Videokonferenz | |
zusammen. Sandel vertritt die These, dass die Leistungsgesellschaft an ihr | |
Ende gekommen sei und nunmehr verantwortlich sei für gesellschaftliche | |
Spaltungen. Die Zeit des Aufstiegs durch Bildung sei passé, so Sandel. | |
Wer hart arbeite, könne alles erreichen – dieses Versprechen gelte nicht | |
mehr. Der Aufstieg rechter Populisten, Polarisierung und Vertrauensverlust | |
in die Politik seien Ausdruck dessen. Kurzum, es brauche neue | |
gesellschaftliche Bündnisse, es brauche mehr Respekt. Sandels Thesen | |
überzeugen Scholz. | |
## Professoren auf Paketboten angewiesen | |
Darin liegt mehr als nur die Abkehr von den Agenda-Reformen, die Scholz | |
einst zentral mitgetragen hat. Darin liegt auch ein Abschied vom | |
sozialdemokratischen Bildungsversprechen der Ära Brandt. Nicht die | |
Durchakademisierung der Gesellschaft stiftet Zusammenhalt, sondern der | |
Respekt der Gesellschaftsteile untereinander. Auch Professoren sind auf | |
Paketboten angewiesen. | |
Im coronageprägten Wahlkampf trugen Scholz nicht allein die Patzer der | |
anderen ans Ziel. Er hatte auch eine stimmige Erzählung. Arbeit als soziale | |
Teilhabe, die Grundrente (vor der Wahl) und Mindestlohn (nach der Wahl) | |
bildeten schlüssige Klammern. | |
Man sollte es nicht übertreiben, zumal große Politikentwürfe dem | |
Ex-Marxisten Scholz suspekt sind. Wie zum Beweis lieferte der Neu-Kanzler | |
Mitte Dezember [2][eine bemerkenswert blutleere Regierungserklärung] ab. | |
Doch ironischerweise tun sich der SPD ausgerechnet mit Olaf Scholz im | |
Kanzleramt ungeahnte Chancen zur Neuausrichtung auf, wenn die | |
programmatische Arbeit mit Personen und Konzepten ausbuchstabiert werden | |
kann. | |
Und wenn der Partei die Zeit dafür bleibt. Zu sehr drängen die Krisen. | |
Regierungshandeln erscheint mehr und mehr reaktiv, kaum mehr gestalterisch, | |
wie es vor allem für sozialdemokratisches Handeln so wichtig und in einem | |
Dreierbündnis schwierig ist. „Bazooka“, „Wumms“ und über Nacht ausgeh… | |
100-Milliarden-Pakete mögen robust und richtig sein oder eben das genaue | |
Gegenteil davon – einer stringenten Politikplanung entstammen sie | |
jedenfalls nicht. | |
Der Klimawandel – nicht gerade Scholz’ Herzensthema, schreibt Schieritz – | |
soll durch Innovation in den Griff zu bekommen sein, nicht durch Verzicht. | |
Auch hier bleiben offene Fragen. Wie genau das in einer alternden | |
Gesellschaft gelingt, wird sich zeigen. | |
Worin Scholz’ Beitrag liegen könnte, zu vereinen und zu moderieren | |
einerseits und zugleich Fortschritt und Investitionen andererseits zu | |
entfesseln, ist (noch) unklar. Welchen Part Deutschland und Europa bei der | |
Friedenssicherung übernehmen können, bleibt abzuwarten. Ob Scholz der | |
Richtige war und ist, wird sich erst an diesen Fragen messen lassen. | |
6 Apr 2022 | |
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## AUTOREN | |
Lars Geiges | |
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