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# taz.de -- Pleite-Unternehmen Wirecard: Wahn, Betrug und sterbende Pflanzen
> Markus Braun, Ex-Boss von Wirecard, ist in München angeklagt. Zwei
> frühere Beschäftigte erinnern sich an eine bizarr-denkwürdige Zeit.
Bild: Jörn Leogrande ist ehemaliger Mitarbeiter bei Wirecard und Autor des Buc…
Er überlegte, sich sein altes Leben zurückzukaufen. Schreibtisch,
Bürodrehstuhl oder Grünpflanzen im Hydrocontainer? Alles war Mitte Februar
zu haben bei der Online-Auktion, als die Überreste der Pleitefirma Wirecard
versteigert wurden – das Inventar vom Unternehmenssitz in Aschheim bei
München. „Ich habe 20 oder 30 Euro auf ein paar Sachen geboten“, erzählt
Jörn Leogrande. „Aber schnell ging immer jemand drüber.“ Alles kam unter
den Hammer.
Ihn hätten die „Todespflanzen“ interessiert, wie sie in der Firma genannt
wurden – „das waren so Topfpflanzen, die keiner gegossen hat und die völlig
vertrockneten“. Jörn Leogrande, 58 Jahre alt, war mal was bei Wirecard.
Erst Werbetexter und zuletzt Chef der globalen Innovationsabteilung, bis
die Firma im Juni 2020 zusammenkrachte. 15 Jahre hatte er für Wirecard
gearbeitet, nun sagt er: „Die meiste Zeit meines beruflichen Lebens war ich
auf dem falschen Dampfer.“
Vor Kurzem hat die Staatsanwaltschaft München in dem Betrugskomplex die
erste Anklage erhoben gegen den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Markus
Braun und zwei weitere Ex-Manager. Die Vorwürfe lauten bandenmäßiger
Betrug, Veruntreuung und Bilanzfälschung. Das Landgericht dürfte die
Anklage bis zum Sommer annehmen, dann beginnt der Prozess im Herbst.
An einem schönen Frühlingstag sitzt Jörn Leogrande am Ufer des Weßlinger
Sees, knapp 30 Kilometer südwestlich von München. Mit seiner Familie wohnt
er in der Nähe. Ein guter Ort, um nachzudenken. Etwa darüber, wie es zu
diesem größten Wirtschaftsbetrugsfall der Nachkriegsgeschichte kommen
konnte, bei dem Aktienanleger 20 Milliarden Euro verloren haben.
## Analystentalks
Hatte man denn nie Zweifel an den von der Firmenspitze regelmäßig
gemeldeten riesigen Steigerungen bei Wachstum und Gewinn? „Mit Markus habe
ich immer wieder Analystentalks gemacht“, erzählt Leogrande. „Da waren
Leute von Goldman Sachs dabei, von der Deutschen Bank und anderen
Großbanken. Da hat nach meiner Erinnerung keiner etwas hinterfragt.“ Er
nennt die Bosse mit Vornamen, so wie sich bei Wirecard alle geduzt hatten.
Markus ist der Vorstandsvorsitzende Markus Braun. Er spricht von Henry, dem
Briten Henry O'Sullivan, engem Vertrauten von Jan. Das wiederum ist Jan
Marsalek, Vorstandsmitglied und weiterhin flüchtig.
Viele Bürger haben nie richtig verstanden, was Wirecard eigentlich gemacht
hatte. Es geht um die Entwicklung digitaler Zahlungssysteme. Wie kann ein
Produkt oder eine Dienstleistung bezahlt werden ohne Bargeld oder
Banküberweisung? Begonnen hatte das Geschäft 1998 klein mit der Schaffung
von Zahlungsmöglichkeiten in den Schmuddelecken des Internets –
Online-Glücksspiel etwa oder Pornos. Die Firma expandierte, schuf mehr und
mehr Produkte, die Kundenzahl stieg.
Die drei Beschuldigten sollen laut der Anklage unter anderem 3,1 Milliarden
Euro Bankkredite erhalten haben, mit denen sie sich die eigenen Gehälter
und Boni sicherten. Zum Bankrott führten letztlich 1,9 Milliarden Euro, die
in Singapur gebucht, aber nicht aufzufinden waren. Dies hatten die
Rechnungsprüfer der Gesellschaft Ernst & Young (EY) so festgestellt. Gab es
diese 1,9 Milliarden? „Das weiß ich nicht“, sagt Jörn Leogrande. Zum Syst…
gehörte seiner Meinung nach vor allem auch, dass kriminelles Handeln nur
„unter sehr wenigen Personen“ abgelaufen ist.
## Vom SEK gestürmt
Lisa B. (Name geändert) war bei Wirecard beschäftigt. Sie hat die Pleite
erlebt und die Übernahme des Kerngeschäfts durch die spanische Großbank
Santander im Januar 2021. Vor einem halben Jahr hat sie gekündigt. „Für die
Ermittlungen wurden wir zweimal vom SEK gestürmt“, erinnert sie sich,
„Polizei und Staatsanwaltschaft waren in Scharen da.“
B. erzählt, dass die meisten Beschäftigten auch teils erheblich in
Wirecard-Aktien investiert hatten – alles ist dahin. Weltweit hatte
Wirecard 5.100 Beschäftigte, bei den Santander-Nachfolgern sind es in der
Zentrale noch 400, die internationalen Außenstellen werden vom
Konkursverwalter abgewickelt. „In diesem Jahr zog Santander mit dem Betrieb
aus dem Gebäude in Aschheim aus und wechselte nach München. Aschheim hatte
schlechte Energien“, meint Lisa B. Es gab mehrere Versuche, Betriebsräte zu
gründen, die von der Unternehmensleitung aber „rigoros blockiert“ wurden.
Sie erinnert sich an „Psychopathen und Aufschneider“ unter den
Führungskräften. Vorstand Jan Marsalek, der wie Markus Braun aus Österreich
stammt, bezeichnet sie als „skurrile Type“ mit hohem Geltungsdrang.
Sein Foto hängt nun in vielen Polizeidienststellen aus, Marsalek ist
flüchtig und zur Fahndung ausgeschrieben wegen „Betrugs in Milliardenhöhe�…
Der heute 42-Jährige hatte Einreisen auf die Philippinen und in China
fingiert. Tatsächlich soll er nach Belarus und dann weiter nach Moskau
geflogen sein und wird nun, so wird vermutet, vom russischen Geheimdienst
untergebracht.
## Parallelwelt
München, Prinzregentenstraße 61. Eine riesige, strahlend weiß gestrichene
Villa, vier Stockwerke, 1.844 Quadratmeter, erbaut am Ende des 19.
Jahrhunderts. Allerbeste Lage in Bogenhausen, direkt an der Isar und dem
Friedensengel. Jan Marsalek hatte das Haus für 680.000 Euro jährlich
angemietet, um in seiner „Parallelwelt“ zu leben, wie es Jörn Leogrande
bezeichnet. Wohl fast niemand bei Wirecard wusste von dieser Bleibe.
Empfangen wurden Leute aus seinem Netzwerk, offenbar jenseits von Wirecard
– von russischen Oligarchen ist die Rede, einflussreichen Libyern ebenso
wie österreichischen Geheimdienstlern. Aschheim, Einsteinring 35. Ein
Gewerbegebiet. An diesem leeren Bürohaus mit seiner schwarzen Fassade
erinnert nichts mehr an Wirecard, obwohl es mal die Zentrale war. Kein
Schild, keine Namen, gar nichts. Von außen sieht man, dass die Räume völlig
leer sind, das Mobiliar wurde ja versteigert, die Erlöse fließen in die
Insolvenzmasse.
„Ich war da nie glücklich“, meint Jörn Leogrande. Nachdem er gegangen war,
ist er noch einmal nach Aschheim gefahren und hat eine Runde um den alten
Firmensitz gedreht. „Ich habe mich super unwohl gefühlt.“
Er hat ein Buch geschrieben mit dem Titel „Bad Company“, darin schildert er
seine persönlichen Erlebnisse bei Wirecard. Ein Insiderbericht, der viel
aussagt über die Zustände, über eine toxische Mischung aus
Allmachtsfantasien und Kleinkariertheit. „Es ist eine ehrliche Bilanz“,
sagt Jörn Leogrande. „Anfangs war ich bei Wirecard Texter, jetzt habe ich
das Buch geschrieben. So schließt sich der Kreis.“
12 Apr 2022
## AUTOREN
Patrick Guyton
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Olaf Scholz
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