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# taz.de -- Film über Angela Merkel: Nie wieder Mauer
> Der Dokumentarfilm „Merkel – Macht der Freiheit“ von Eva Weber geht der
> Karriere der ersten Bundeskanzlerin nach. Er hat jedoch eine markante
> Lücke.
Bild: 2015 im Elmau: Angela Merkel mit den anderen Mächtigen der Welt
Am 30. Mai 2019 spricht die Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer
Graduationsfeier der Harvard University in Cambridge, Massachusetts. Die
Eliteuniversität hat ihr die Ehrendoktorwürde verliehen, um ihre
Flüchtlingspolitik zu ehren. Merkel erzählt ihrem akademischen Publikum vom
Aufwachsen in einer Diktatur, von ihrer Zeit als Wissenschaftlerin in
Ostberlin, von ihrer Wohnung in der Nähe der Mauer. Mit diesen Bildern
beginnt der [1][Dokumentarfilm „Merkel – Macht der Freiheit“] von Eva
Weber.
Zwischen Merkels Rede mischen sich noch andere Bilder aus den USA.
Präsidentschaftskandidat Donald Trump spricht 2015 bei einer
Wahlkampfveranstaltung. Sein Thema: Merkel und wie sie dabei sei, ihr Land
zu „zerstören“, weil sie Migranten aufnimmt. Sein Rezept gegen Migration:
„Wir bauen eine Mauer.“ Ein etwas offensichtlicher Antagonismus zum
Auftakt, der erst einmal unkommentiert stehen bleibt.
Für ihren Film über die erste Bundeskanzlerin hat die in Deutschland
geborene, heute in London lebende Regisseurin Eva Weber Archivmaterial aus
Merkels Leben von Kindheit an zusammengetragen. Elegant mischt Weber die
Übergänge von der neueren in die fernere Vergangenheit, wenn sie etwa
Aufnahmen der [2][Verabschiedung aus dem Amt mit dem Großen Zapfenstreich
am 2. Dezember 2021] nutzt, um zu früheren Stationen Merkels zu wechseln.
## „Du hast den Farbfilm vergessen“
Hier ist es die Musik, mit der Weber von der Gegenwart der Bundesrepublik
in die Tage der DDR zurückführt. Die Bilder vom Großen Zapfenstreich, bei
dem das Stabsmusikkorps den Nina-Hagen-Song „Du hast den Farbfilm
vergessen“ intoniert, unterlegt Weber auf der Tonspur mit Hagens Original
von 1974 und leitet so über zu historischen Szenen mit Badenden oder
Ehrenparaden in der DDR.
Weber rekonstruiert Merkels Biografie aus diesem Medienfundus und bietet
zugleich eine kleine Rückschau, wie sich das Bild Merkels in den Medien
selbst gewandelt hat. Sie zeigt Merkel im Gespräch mit einem flapsigen
Günther Jauch oder mit Sabine Christiansen, fast ausnahmslos arbeiten sich
die Interviewer in den Neunzigern an ihrer Sonderrolle als ostdeutsche Frau
im Kabinett Kohl ab.
Hanseatisch paternalistisch fragt sie [3][Günter Gaus 1991 in einem oft
zitierten Interview in seiner Sendung „Zur Person“], ob ihr rascher
politischer Aufstieg mit sich bringe, dass sie „mehr Objekt als Subjekt der
eigenen Geschichte“ sei. Dass dem nicht so war, bewies Merkel spätestens
nach acht Jahren, als sie in der Funktion der CDU-Generalsekretärin die Ära
Kohl eigenhändig beendete.
Merkel, die Unterschätzte, lautet ein durchlaufender Erzählstrang, der auch
in den für den Film eingeholten Kommentaren von Journalisten und
Politikern, allen voran Hillary Clinton und Tony Blair, oft wiederholt
wird. In der Sache Kohl fallen mitunter Worte wie „Opportunismus“, es ist
in dem Zusammenhang allerdings mehr die Rede davon, wie Merkel es geschafft
hat, im Männerclub der CDU zu bestehen.
## Migrationspolitik von 2015
Einer der Männer, die sie in der Politik nicht überdauerten, hat sich sogar
für den Film vor die Kamera bitten lassen: der Konservative Roland Koch,
der Merkels Migrationspolitik von 2015 und ihre Folgen rückblickend als
Fehler einschätzt. Im Übrigen wird Merkel vor allem für den Mut dieser
unpopulären Entscheidung gelobt, da sie seinerzeit riskiert habe, daran zu
scheitern.
Die wahren Stärken von Webers Film liegen jedoch in der Materialauswahl der
dokumentierten Stationen auf Merkels Weg. Eine sehr schöne Szene aus den
Neunzigern zeigt die noch öffentlichkeitsunerfahrene Politikerin, wie sie
bei einer CDU-Sitzungsrunde, einen Ordner in der Hand, kurz in die Kamera
lächelt, innehält, als würde sie die mediale Situation rasch beurteilen,
worauf ihr Lächeln erstirbt und ihr Blick sich von der Kamera abwendet.
Noch überraschender sind verrauschte Schwarzweißaufnahmen der
Wissenschaftlerin Merkel, die in T-Shirt und Schlaghose mit
Forscherkollegen vor dem Ostberliner Zentralinstitut für Physikalische
Chemie steht, oder wie das Institut einen Ausflug ins Umland macht, Merkel
stets die einzige Frau im Bild. Genau wie später bei vielen Treffen mit
Politiker- oder Amtskollegen.
Bei aller Kritik, die der Film in kleinen Dosen an Merkel übt, dominiert
die Sympathie für den Erfolg einer Person, deren Art auffällig von der
ihres Umfelds abwich, selbst als Kanzlerin. Eine interessante Beobachtung
macht in diesem Zusammenhang der Zeit-Journalist Bernd Ulrich, der meint,
dass Merkel sich den „barocken“ Stil ihrer männlichen Mitstreiter mit deren
affektgeladenen und kräftezehrenden Hahnenkämpfen gar nicht habe leisten
können, da sie ihre Energie dafür benötigt habe, um als Frau in dem
Geschäft zu bestehen.
## Der Widersacher Trump
An Gockeln um sie herum spart die Erzählung des Films nicht, Weber schießt
sich gleichwohl ein wenig auf die Figur Trump als großer Widersacher und
größte politische Kränkung Merkels ein, wie die Anfangsszene schon
verdeutlicht. Hie Freiheitskanzlerin, da Mauerpräsident.
Nicht fehlen dürfen die wohlbekannten Szenen mit Trump, der ihr beim
Fototermin die Hand verweigert, oder eine Pressekonferenz, in der Trump die
Gespräche lobt, während Merkel mit den Augen rollt.
Ein anderer Kontrahent wird hingegen arg auf eine Funktion reduziert. Im
Verhältnis zu Wladimir Putin geht es viel um dessen
Einschüchterungsversuche mit großen Hunden, vor denen Merkel, wie er
wusste, Angst hatte. Auf ein anderes Thema kommt eigentlich bloß Hillary
Clinton in aller Schärfe zu sprechen: das Gas aus Russland, das von Putin
als Waffe eingesetzt werde, wie sie an einer Stelle zuspitzt. Putins
Annexion der Krim oder Nord Stream 2 lässt Weber unerwähnt.
## Krieg gegen die Ukraine
An diesen Stellen merkt man dem Film an, dass er zu großen Teilen vor dem
24. Februar dieses Jahres erstellt wurde. Die Gespräche mit Clinton und den
anderen Interviewpartnern folgten als einzige nach Beginn des russischen
Angriffskriegs gegen die Ukraine. Dieser bildet eine markante Lücke in
Webers Merkel-Porträt.
So ist der Film unfreiwillig ein nicht uninteressantes Dokument der von
Merkels Amtsnachfolger Olaf Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“. Merkel
selbst schreibt derweil ihre Memoiren. In zwei Jahren weiß man wohl, was
sie darin dazu zu sagen haben wird.
23 Nov 2022
## LINKS
[1] https://www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/merkel-macht-der-f…
[2] /Bundeswehr-Dirigent-ueber-Zapfenstreich/!5815893
[3] /Abschied-von-Angela-Merkel/!5800231
## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
## TAGS
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