# taz.de -- Abschied von Angela Merkel: Widerspruchsgeist erlernen | |
> Die damals 37-jährige Angela Merkel gab 1991 dem Journalisten Günter Gaus | |
> ein Interview. Sie trat damals schon anders auf als alle anderen | |
> Politiker. | |
Bild: Frauenministerin Angela Merkel während einer Kabinettssitzung am 4.12.19… | |
Zumindest eine Kanzlerfrage ist derzeit sicher: Bundeskanzlerin [1][Merkel | |
ist Geschichte]. Es war eine [2][lange Geschichte.] Deshalb nun ein | |
Rückblick etwas anderer Art. Ein Rückblick auf ihre Anfänge. Dazu soll ein | |
TV-Interview mit der jungen Angela Merkel – in Auszügen – wiedergegeben | |
werden. | |
Dies mag ein etwas ungewöhnliches Vorgehen für eine Kolumne sein. Es | |
schuldet sich einer Frage: Welche Figur ist diese Angela Merkel? Das ist | |
nicht die Frage nach ihrer Politik, sondern die Frage nach der Art ihres | |
Auftretens – dieses Auftreten, das so verschieden ist von dem sonstiger | |
Politiker. | |
Das Gespräch ist von 1991 und hat der berühmte Günter Gaus mit der damals | |
37-jährigen Merkel geführt. Man sieht eine ernste junge Frau mit kurzem | |
Haar und strengem Blick. Alles an ihr ist Konzentration. Merkel war zu dem | |
Zeitpunkt Frauenministerin und stand kurz davor, Stellvertreterin von | |
Helmut Kohl in jener CDU zu werden, der sie erst seit einem Jahr angehörte. | |
Gaus verriet schon im Eingangsstatement, worauf das Gespräch hinauslaufen | |
würde: Merkel – eine eigenständige Ostdeutsche. | |
Gaus: So wie Sie sich als Politikerin öffentlich geben, hat man den | |
Eindruck, Sie sind noch auf der Suche nach einem eigenen inhaltlichen | |
Standort. Darauf die Polit-Anfängerin: Mir ist es nicht wichtig, eine | |
wichtige Politikerin zu sein. Und: Wenn ich auf unbekanntem Terrain bin, | |
versuche ich Grund unter den Füßen zu bekommen. Und: Ich will die Dinge, | |
die ich mache, ordentlich machen. Gaus: Das klingt schön. Sind Sie sich | |
bewusst, wenn etwas schön klingt? Sie (zögert): Nein. | |
Was macht das mit Ihrem Selbstwertgefühl, wenn Sie nun Kohls | |
Stellvertreterin werden? Merkel: Da ist schon eine große Beklemmung. Ich | |
kenne mich in der CDU noch nicht sehr gut aus. (Es bleibt unklar, ob dieses | |
Eingeständnis von mangelnder Souveränität selber souverän ist.) Und fügt | |
dann hinzu: Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Funktion ausfüllen werde. | |
Ich sehe auch die Möglichkeit eines Scheiterns. Aber es muss unbedingt | |
jemand aus dem Osten machen. (Zur Erinnerung: Wir sind zwei Jahre nach dem | |
Mauerfall.) | |
## Osten, Frau, Protestantin | |
Gaus: Osten, Frau und Protestantin – eine ideale Kombination. Merkel: Das | |
ist mir relativ egal, ob das mit der Frau gerade gut passt. Aber wichtig | |
ist, dass das jemand aus dem Osten macht. (Später wird einer ihrer | |
zentralen Sätze im Wahlkampf sein: Sie kennen mich – aber hier ist sie noch | |
die Frau, die aus der Fremde kommt. Aus einer anderen Welt, aus einem | |
anderen System, aus einer anderen Zeit.) | |
Zu ihrer Familie erfährt man, dass der Vater der künftigen CDU-Kanzlerin | |
protestantischer Pfarrer mit Neigung zum Sozialismus und der Großvater | |
SED-Mitglied war. Etwas, was sie für die Nachkriegsperiode als durchaus | |
respektable Haltung bezeichnet. Zur damals akuten Frage der | |
„Vergangenheitsbewältigung“, also des Umgangs mit der ehemaligen DDR, wirft | |
sie – auch der CDU – vor, kein Interesse für das wahrhafte Leben im Osten | |
zu haben. Es war ja, fügt sie hinzu, auch schön. Und meint die | |
Spaziergänge, die Familienfeiern und die Urlaube. Das war das richtige | |
Leben. | |
Zu ihrem Verhältnis zum Regime der DDR – etwa ihre Mitgliedschaft bei der | |
FDJ, der Freien Deutschen Jugend – meint sie: Ich habe bestimmte Formen der | |
Anpassung genützt. Ich war gerne in der FDJ. Das will ich zugeben. | |
Ansonsten aber war es 70 Prozent Opportunismus. Ich halte Anpassung für | |
eine lebensnotwendige Sache und nicht für einen Makel. Und Anpassung ist | |
auch, selbstverständlich, Teil meines Lebens gewesen. Und ist es auch heute | |
noch. (Dann ein Lächeln – unsicher und triumphierend zugleich.) | |
## Autoritäre Bedürfnis | |
Und die Bürgerbewegung in der DDR? Ich habe ein tiefes Misstrauen gegen | |
basisdemokratische Gruppierungen. Vielleicht habe ich ein autoritäres | |
Verhalten in mir. | |
Gaus: Sie haben ein autoritäres Bedürfnis? Sie: Ja. | |
Gaus: Ist Aufmüpfigkeit, Widerspruchsgeist nicht Teil Ihres Wesens? Sie: | |
Mit zunehmendem Alter erlerne ich ihn besser. Gaus: Kann es also sein, dass | |
Sie in fünf Jahren für Kohl nicht mehr so bequem sein werden wie jetzt? | |
(Sie zögert) Hm – das kann ich nicht ausschließen. | |
27 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Bundestagswahl-und-Angela-Merkel/!5800565 | |
[2] /Biografie-ueber-Angela-Merkel/!5794128 | |
## AUTOREN | |
Isolde Charim | |
## TAGS | |
Knapp überm Boulevard | |
Schwerpunkt Angela Merkel | |
Abschied | |
Deutsche Politik | |
Frauen | |
CDU | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2021 | |
IG | |
Knapp überm Boulevard | |
Knapp überm Boulevard | |
Schwerpunkt Angela Merkel | |
Schwerpunkt Angela Merkel | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2021 | |
Schwerpunkt Angela Merkel | |
Schwerpunkt Flucht | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Angela Merkel vs. Sebastian Kurz: Aus dem Drehbuch des Charismatikers | |
Der Zapfenstreich für die Bundeskanzlerin fand am selben Tag statt, wie der | |
Kanzlerrücktritt in Österreich. Das sind auch die einzigen Parallelen. | |
Impfgegner gegen die Demokratie: Freiheit als Ersatzmythos | |
Impfgegner pochen auf individuelle Freiheit und wähnen die Demokratie am | |
Ende. Doch nebst der Irrationalität sind sie auch ein Symptom für etwas. | |
Merkel, die Bayern und Hermann Hesse: Abschiede und Anfänge | |
Die einen gehen, andere kommen. Und die Bayern-Spieler sind auch nur | |
Menschen. 5 Dinge, die wir diese Woche gelernt haben. | |
Bundeskanzlerin bei Feier zum 3. Oktober: Merkels vielleicht letzter Moment | |
Zur Feier des Tages der Deutschen Einheit hielt die Bundeskanzlerin in | |
Halle eine persönlich gehaltene, überraschend emotionale Rede. | |
Bundestagswahl 2021: Weltstar Merkel | |
Die erste deutsche Bundeskanzlerin hat auch international 16 Jahre lang | |
Politik geprägt. Welches Bild wird in anderen Ländern von ihr gezeichnet? | |
Biografie über Angela Merkel: Chronik einer Kanzlerin | |
Ralph Bollmann zeichnet in seiner Biografie präzise das Leben Angela | |
Merkels nach. Mit Wertungen hält er sich zurück – und räumt mit Legenden | |
auf. | |
Fünf Jahre „Wir schaffen das“: Ziel und Haltung | |
Vor fünf Jahren fielen in der Bundespressekonferenz die drei Worte Angela | |
Merkels: „Wir schaffen das.“ Ein schlichter Satz mit ungeahnter Tragweite. |