| # taz.de -- Preis für Angela Merkel: Kaltes Erbe | |
| > Die frühere Kanzlerin Angela Merkel wird mit einem Preis des UNHCR für | |
| > ihre Flüchtlingspolitik ausgezeichnet. Sie hätte einen Unterschied machen | |
| > können. | |
| Bild: Budapest, am 4. September 2015: ein Geflüchteter am Bahnhof Keleti mit M… | |
| Am Montag verleiht der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNCHR) in Genf den | |
| Fridtjof-Nansen-Preis an Angela Merkel. Sie habe mit der Aufnahme von mehr | |
| als 1,2 Millionen Menschen 2015 und 2016 mit „großem moralischen und | |
| politischen Mut gezeigt, was erreicht werden kann, wenn Politiker den | |
| richtigen Weg einschlagen und sich um Lösungen für die Herausforderungen | |
| der Welt bemühen, statt Verantwortung auf andere abzuwälzen“, so die | |
| Begründung. | |
| Das ist etwa so, als würde man Merkel heute einen Preis für Sicherheit in | |
| der Energieversorgung Deutschlands verleihen, weil vor ein paar Jahren | |
| niemand im Winter frieren musste. | |
| Die Parallelen zu ihren Versäumnissen sind dabei weitgehender, als es | |
| scheint. Die dysfunktionale Trümmerlandschaft der Asylpolitik Europas ist | |
| heute bestimmt vom Einfluss extrem rechter Kräfte – ein Zustand, den zu | |
| verhüten Deutschland noch vor wenigen Jahren ebenso gute Chancen gehabt | |
| hätte wie das heutige Desaster anhaltender Abhängigkeit von fossiler | |
| Energie aus Russland. | |
| Es war Angela Merkel, die dafür einst die nötige Mühe, die | |
| Auseinandersetzungen scheute. Ihren Anteil daran, dass Flüchtlinge heute in | |
| Europa mit einem Zustand völliger rechtlicher Erosion und Gewalt | |
| konfrontiert sind, lässt der UNHCR außen vor. | |
| ## Eine humanitäre Großtat | |
| Dabei war die Entscheidung, die Grenzen Deutschlands 2015 nicht zu | |
| schließen, verbunden mit dem Entschluss, den Menschen hier eine Perspektive | |
| zu bieten, zweifellos eine humanitäre Großtat. Merkel hätte auch anders | |
| handeln und so viele Menschen anhaltendem Leid aussetzen können. Doch die | |
| langen Linien ihrer Amtszeit in diesem Bereich sind andere. | |
| Zentral ist dabei die Frage nach europäischer Lastenteilung. Lange hielt | |
| Deutschland eisern am Dublin-System fest, das dem Land der ersten Einreise | |
| alle Verantwortung für die Ankommenden aufbürdet. | |
| So entfielen auf Deutschland lange nur relativ wenige der Asylanträge in | |
| der EU. Auch nach der Schiffskatastrophe von Lampedusa 2013 sagte Merkels | |
| Innenminister Friedrich, das System habe sich „bewährt“ und bleibe | |
| „selbstverständlich erhalten“. Nur ein Jahr später war das plötzlich | |
| anders. „Wir müssen uns verständigen auf Aufnahmequoten“, sagte sein | |
| Nachfolger de Maizière. | |
| Das hätte damals bedeutet, dass Deutschland höchstens 21 Prozent aller | |
| Ankommenden aufnehmen müsste. Quoten hatten Außengrenzen-Staaten seit | |
| Jahren verlangt – sie waren stets auch am Widerstand aus Berlin | |
| gescheitert. Was war in der Zwischenzeit geschehen? | |
| Bis 2009 wurde nur jeder neunte Asylantrag in Deutschland gestellt, 2012 | |
| jeder vierte, 2014 jeder dritte. Die Länder an den Außengrenzen hatten | |
| damals begonnen, das Dublin-System zu unterlaufen, und immer mehr | |
| Flüchtlinge einfach weitergeschickt. | |
| Lange hatte Deutschland von der Dublin-Regelung profitiert. Justament als | |
| sich das änderte, entdeckt es die Nachteile an dem „bewährten“ System. | |
| Seither setzt sich Deutschland offiziell für Lastenteilung und | |
| menschenrechtskonforme Asylpolitik ein – handelt aber vielfach nicht | |
| entsprechend. | |
| ## Die Entrechtung von Flüchtlingen vorangetrieben | |
| Beim EU-internen Umverteilungsprogramm aus Südeuropa ab 2015, der | |
| freiwilligen Aufnahme aus den Ägäis-Lagern ab 2020 oder jener im Mittelmeer | |
| aus Seenot Geretteten ab 2018 ließ Innenminister Seehofer jeweils nur | |
| wenige Menschen einreisen. Die Rechtfertigung: Andere Länder nähmen noch | |
| weniger auf, außerdem erreichten weiterhin viele irregulär, also auf eigene | |
| Faust, Deutschland. | |
| Doch was in anderen Ländern ankam, war: Deutschland macht uns moralische | |
| Vorhalte, nimmt aber selbst niemanden auf, wenn es die Wahl hat. | |
| Stattdessen bezahlt es andere dafür, ihm [1][Flüchtlinge vom Hals zu | |
| halten]. Als etwa Ägyptens Diktator al-Sisi 2018 zu Besuch kam, stellte | |
| sich Merkel mit ihm hin und sagte: „Ägypten sichert seine Seegrenzen | |
| exzellent, de facto gibt es keine Migration aus Ägypten nach Europa. Das | |
| ist uns hohe Anerkennung wert und so unterstützen wir Ägypten mit einem | |
| ungebundenen Kredit von 500 Millionen Euro.“ | |
| In ihren Äußerungen stellte sich Merkels Regierung zwar gegen die von | |
| [2][Populisten verlangte Entrechtung von Flüchtlingen]. Tatsächlich trieb | |
| sie sie aber selbst mit voran – beim [3][EU-Türkei-Deal], der | |
| Grenzschutz-Verlagerung in die Sahara und nach Libyen und vielem mehr. | |
| Heute will die EU-Kommission – auf Initiative der Regierung Merkel – alle | |
| Ankommenden zunächst internieren. Dies wird aber nicht beschlossen, weil | |
| mittlerweile so viele Staaten von Parteien regiert werden, denen selbst | |
| dies noch zu flüchtlingsfreundlich wäre. Die Regierungen des | |
| Visegrád-Blocks etwa wollen schlicht überhaupt keine Asylanträge in der EU. | |
| Kroatien und Polen sind zu einer derart brutalen Pushback-Politik | |
| übergegangen, dass sie nicht mal Frontex ins Land lassen wollen, weil sie | |
| fürchten, die könnten dabei stören. Dänemark will Abschiebeknäste im | |
| Kosovo, Asylverfahren in Afrika. Spanien lässt Marokko seine Grenzzäune mit | |
| tödlicher Gewalt bewachen. | |
| Natürlich ist das alles nicht nur Merkels Schuld. Doch als dies viel | |
| leichter möglich war als heute, hätte sie der Entwicklung eine andere | |
| Richtung geben können. Der Preis, den sie dafür hätte zahlen müssen, wäre | |
| der Kampf mit großen Teilen der CDU, der CSU und der AfD gewesen. | |
| Kein Kanzler zuvor hatte seine Popularität so lange halten können wie | |
| Merkel. Zwischen ihrer ersten Wahl 2002 und der letzten 2017 verlor sie nur | |
| 2,2 Prozentpunkte an Stimmen. Das hätte sie nutzen können, um sich nicht | |
| nur 2015 gegen „diejenigen zu stellen, die Angst und Diskriminierung | |
| beschworen“, wie sie der UNHCR heute lobt, sondern in der Asylpolitik auch | |
| davor und danach. | |
| Europa wäre heute ein anderes. Es wäre nicht so kalt. | |
| 10 Oct 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
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