# taz.de -- Flüchtlingspolitik in Europa: „Asyl in der EU ist extrem wichtig… | |
> Menschen in Not werden aufgenommen, weil es richtig ist, sagt der | |
> UN-Hochkommissar für Flüchtlinge Filippo Grandi – nicht, weil es leicht | |
> ist. | |
Bild: Menschen am Hauptbahnhof in Berlin signalisieren, wieviele Geflüchtete a… | |
taz am wochenende: Europa tut seit Jahren alles, um Flüchtlinge vom | |
Kontinent fernzuhalten. Plötzlich aber nahm es Millionen von | |
Ukrainer:innen gemeinschaftlich, solidarisch und menschenwürdig auf. Wie | |
erklären Sie sich das? | |
Filippo Grandi: Ja, die Antwort auf die Flüchtlingssituation war sehr gut. | |
Es gab Schwierigkeiten, aber im Großen und Ganzen war die Reaktion sehr | |
effektiv. Die Menschen durften dorthin ziehen, wo sie Unterstützung finden | |
konnten, bekamen Zugang zum Arbeitsmarkt und zu sozialen Dienstleistungen. | |
Es gab Elemente, die dies im Fall der Ukraine leichter gemacht haben: die | |
geografische Nähe, die engen, zuvor bestehenden Verbindungen, die Sympathie | |
für das Land angesichts der Invasion und der klare Zusammenhang zwischen | |
den Bombardements und den Fluchtbewegungen. Aber man nimmt Menschen in Not | |
auf, weil es richtig ist und weil sie Rechte haben – nicht, weil es leicht | |
ist. | |
Wie kann das, was die EU hier gezeigt hat, erhalten werden? | |
Sie hat bewiesen, dass es eine effektive Aufnahme geben kann. Und das ist | |
überraschend; oder auch nicht, wenn man sieht, dass die EU solche | |
Schwierigkeiten mit viel kleineren Zahlen von Ankommenden aus anderen | |
Teilen der Welt hatte, sich aber jetzt in wenigen Tagen so gut organisieren | |
konnte. | |
Kann das auf andere Situationen übertragen werden, in denen Menschen Europa | |
erreichen? | |
Es gibt in den letzten Jahren eine starke Anti-Flüchtlings-, | |
Anti-Migranten-Rhetorik. Sie enthält viele Elemente. Eines ist offener | |
Rassismus. Ein anderes Element ist eine rhetorische Figur: Es sei | |
unmöglich, mehr aufzunehmen, ‚Wir sind voll, die öffentliche Meinung ist | |
dagegen‘. Das Beispiel der Ukraine-Aufnahme hat all das widerlegt. Es ist | |
möglich, und wie Kanzlerin Merkel sagte, wir können es schaffen. | |
Sprechen wir von Angela Merkel. Sie haben ihr in der vergangenen Woche den | |
Nansen-Preis für ihre Flüchtlingspolitik während der Syrien-Krise | |
verliehen, unter anderem, weil sie die Verantwortung für die Flüchtlinge | |
„nicht auf andere abgewälzt“ habe. | |
Ja. | |
Von der kurzen Phase 2015 abgesehen, hat Deutschland aber während Merkels | |
Amtszeit genau das getan: Die Verantwortung auf andere abgewälzt, auf die | |
Länder an den EU-Außengrenzen, Libyen, die afrikanischen Türsteherstaaten, | |
die Türkei. | |
Deutschland spielte ab 2014 eine wichtige Rolle, als es einen großen | |
Zustrom von Syrern gab. Nebenbei gesagt hat sich gezeigt, dass deren | |
Integration in Deutschland sehr erfolgreich verlief – nicht ideal, es gibt | |
Herausforderungen, aber Kanzlerin Merkels Einschätzung war korrekt und | |
zukunftsweisend. Wir haben ihr den Preis gegeben, um zu zeigen, dass | |
Führungsqualitäten und Mut in solchen Situationen wichtig sind. Wir wissen | |
alle, dass es viel Widerstand gab, dass es in anderen Staaten einen | |
politischen Backlash und Tendenzen gegen Migranten gab. | |
Seit dieser Zeit ist Deutschland eine treibende Kraft dabei, Europas | |
Grenzen zu schließen. | |
Nach 2015/2016 hat Europa den Zugang eingeschränkt. Das ändert aber nichts | |
daran, dass Menschen weiterhin kommen werden. Es ist wichtig, dass sie | |
Zugang zu Schutz erhalten, eine faire Prüfung und dass sie nicht an den | |
Grenzen zurückgewiesen werden. Und dass nicht, wie Großbritannien oder | |
Dänemark es vorhaben, Asylverfahren in andere Länder verlagert werden. | |
Damit sind wir nicht einverstanden, wir haben das oft gesagt. | |
Die Idee, Asylverfahren in exterritoriale Lager jenseits der EU zu | |
verlagern, wird bis heute verfolgt. Denkbar wäre das nur, wenn der UNHCR | |
sich daran beteiligen würde. Können Sie ausschließen, das zu tun? | |
Es käme darauf an, wie es ausgestaltet wäre. Entscheidend ist, dass alle | |
Rechte gewahrt werden. Wenn man in Europa ankommt und es heißt – wie es in | |
Großbritannien vorgesehen ist –, wir bringen Sie woanders hin, damit Sie da | |
ein Asylverfahren durchlaufen, und wenn man anerkannt wird, dann muss man | |
trotzdem woanders bleiben, dann können wir das nicht akzeptieren. Einmal | |
hat mich ein Journalist kritisiert, weil wir Ländern wie Sudan dabei | |
helfen, ihr Asylsystem zu verbessern. Warum sollten wir das nicht tun? Es | |
gibt viele Flüchtlinge, die dort ankommen. Wenn sie gut aufgenommen würden, | |
gäbe es mehr Stabilität und Sicherheit und weniger Gründe, auf schwierige | |
Fluchtrouten zu gehen. Das ist natürlich hypothetisch. Und trotzdem, wir | |
müssen das ganzheitlich betrachten, statt zu sagen: Nur dies ist falsch, | |
nur dies ist richtig. Und anstatt nur auf das Asyl in der EU zu schauen. | |
Asyl in der EU ist extrem wichtig; es muss Bestand haben und dazu gehört | |
der Zugang zum Territorium. | |
Der wird aber immer gewaltsamer verweigert, durch Internierung oder | |
Pushbacks. | |
Durch Pushbacks und das Nicht-Retten auf See. Das gehört zu den Pushbacks | |
dazu. Das ist noch schlimmer. Boote auf See sich selbst zu überlassen, das | |
passiert leider, dafür gibt es keine Entschuldigung. Ich erkenne die | |
extremen Schwierigkeiten dieser Fluchtbewegungen an, aber das Zurückdrängen | |
kann keine Lösung sein. Europa hat seine Kapazitäten für die Seenotrettung | |
weitgehend abgebaut, übrig sind nur noch Küstenwachen und einige NGOs. Das | |
ist völlig inakzeptabel. Es geht nicht nur um Flüchtlingsrecht, sondern | |
auch um Seerecht und Menschenrecht. Wir sind gegen Pushbacks. Wir sehen | |
aber auch, dass es Manipulationen auf der anderen Seite gibt, denken Sie | |
etwa an die Lage an der Grenze von Belarus und Polen Ende 2021. Die | |
Menschen wurden ermutigt, nach Europa zu kommen. Das ist nicht akzeptabel. | |
Trotzdem sind die Pushbacks nicht hinnehmbar, sie gefährden Leben und | |
körperliche Integrität. | |
Aber eine wachsende Reihe von Regierungen sieht sich – nicht nur durch | |
solche Ereignisse – zu Pushbacks offen legitimiert. Sie sagen klar, dass | |
sie keine Asylanträge in Europa, keine Aufnahme mehr wollen. Was sagen Sie | |
denen? | |
Wir hören das sehr selten, dass Regierungen sagen, sie wollen gar keine | |
Flüchtlinge. Das ist keine offizielle Linie. Was soll ich sagen, wenn sie | |
den internationalen Verträgen widersprechen, dann haben sie Unrecht. Sie | |
sollen sich an Verträge halten und wir unterstützen sie dabei. Wir müssen | |
deshalb am EU-Asylsystem arbeiten, damit es schneller und effizienter wird. | |
Wir müssen anerkennen, dass das komplizierte Angelegenheiten sind. Es gibt | |
Menschen, die nach Europa kommen, ohne Flüchtling zu sein. Das liegt an | |
fehlenden Wegen für die Arbeitsmigration, die für Europa so unverzichtbar | |
ist. Deshalb beantragen diese Menschen Asyl. Es braucht mehr effektive und | |
sichere Wege der Migration, sonst sind die Kanäle für Asyl immer | |
überlastet. | |
Der UNHCR mahnt ständig, dass mehr für Klimaflüchtlinge getan werden müsse. | |
Gleichzeitig scheuen Sie davor zurück, zu fordern, dass die Erderhitzung | |
als offizieller Fluchtgrund anerkannt wird – was die Industriestaaten | |
unbedingt vermeiden wollen. Warum sind Sie da so zurückhaltend? | |
Wer sagt, dass wir zurückhaltend sind? | |
Alle Ihre entsprechenden Dokumente lesen sich so. | |
Denken Sie an Krieg. Der UNHCR spricht nicht von Kriegsflüchtlingen, | |
sondern von Flüchtlingen. Krieg ist dafür ein wichtiger Treiber. Genauso | |
ist es beim Klima. Die Definition der Flüchtlingskonvention von 1951 ist | |
breit genug, um Menschen einzuschließen, die wegen der klimatischen | |
Veränderungen fliehen. | |
Sie haben aber bislang keine vergleichbaren rechtlichen Ansprüche auf | |
Schutz. | |
Wenn es eine Naturkatastrophe gibt, eine Flut oder eine Dürre, dann | |
brauchen Menschen Schutz und Hilfe, wie alle anderen. Doch dort, wo der | |
Klimawandel Folgen hat, die zu Vertreibung beitragen, gibt es immer mehr | |
als nur einen einzigen Fluchtgrund. Der Klimawandel geht etwa im Sahel oder | |
am Horn von Afrika mit Konflikten einher. Die verheerendsten Folgen hängen | |
mit diesen Konflikten zusammen. Es ist schwer zu sagen, was zuerst kommt, | |
ob es sich nun um Klima- oder Kriegsflüchtlinge handelt. Man kann | |
Fluchtbewegungen nicht einfach ein Label anheften. Doch wenn jemand aus | |
mehreren Gründen aus einem Land X flieht und Klima ist einer dieser Gründe, | |
hätte ich keine Zweifel festzustellen, dass dieser Mensch ein Flüchtling | |
ist. Wenn sein Land diesem Menschen keinen Schutz bieten kann, dann ist das | |
ein legitimer Grund für Asyl. | |
Die Berichte des UN-Flüchtlingshilfswerks sind eine alljährliche | |
Inventarisierung anschwellender Katastrophen. Was macht Ihnen da Hoffnung? | |
Hoffnung ist rar in diesen Tagen. Wenn wir sehen, was in Ländern wie der | |
Ukraine, Äthiopien, Burkina Faso, Nicaragua oder vielen anderen Ländern | |
passiert, stimmt einen das nicht gerade hoffnungsvoll. Aber die Grundlage | |
für meine Arbeit ist nicht, ob es Hoffnung gibt oder nicht, sondern weil es | |
Prinzipien gibt, die hochzuhalten sind und weil es Millionen von Menschen | |
gibt, die Hilfe brauchen. Die aber auch unglaublich stark und | |
widerstandsfähig sind. In der EU schauen wir immer auf das Negative. Aber | |
wir sollten nicht vergessen, dass für die überwiegende Zahl der 100 | |
Millionen Vertriebenen Solidarität eine Realität ist. In Afrika wird für | |
Flüchtlinge kaum eine Grenze geschlossen. Und das sind keine reichen | |
Länder. In Uganda etwa leben 1,5 Millionen Flüchtlinge. Auf dem Höhepunkt | |
der Corona-Pandemie hatte die Regierung alle Grenzen geschlossen. Dann trat | |
sie an uns heran und sagte: „Vor unserer Grenze sind Tausende Menschen aus | |
dem Kongo. Wir wollen sie hereinlassen, wir dürfen nicht zulassen, dass sie | |
mit Macheten getötet werden. Aber wegen Covid kann das eine Gefahr für | |
unsere eigene Bevölkerung darstellen. Könnt ihr uns helfen, die Grenze für | |
sie zu öffnen?“ Es gibt viele weitere solcher Beispiele. Diese Solidarität, | |
gerade in armen Ländern, und die Resilienz, die Kraft der Menschen, mit | |
widrigen Umständen umzugehen, sie sind Anlass zur Hoffnung. | |
Und was macht Ihnen Angst? | |
Die Spaltung. Die macht mir Angst. Nehmen Sie den internationalen | |
Flüchtlingsschutz. Dessen rechtliche Basis ist Kooperation. Die Genfer | |
Konvention sagt klar, dass Flüchtlinge die gemeinsame Verantwortung der | |
internationalen Gemeinschaft sind. Diese Idee von Lastenteilung aber wird | |
jeden Tag durchkreuzt von Spaltungen dieser Gemeinschaft, die jeden Tag | |
tiefer werden und der Krieg in der Ukraine hat sie nochmal tiefer gemacht | |
als zuvor. Das geschieht in einer Zeit, in der wir den Klimanotstand | |
bekämpfen müssen, in der wir wachsende Fluchtbewegungen sehen, in der wir | |
etwas gegen Pandemien und wachsende soziale Ungleichheiten tun müssen. | |
Sie stammen aus Italien. Ihr Heimatland wird wohl nun von einer Frau | |
regiert, die aggressiv gegen Flüchtlinge vorgehen will. Was macht das mit | |
Ihnen? | |
Ich werde mit der italienischen Regierung arbeiten, wie ich mit jeder | |
Regierung arbeite. Das ist meine Aufgabe. | |
23 Oct 2022 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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