| # taz.de -- Mehr Umweltschutz in der Landwirtschaft: Natürlich noch teurer | |
| > Wegen der Inflation sparen viele Menschen am Essen. Wenn Bauern mehr | |
| > Klimaschutz umsetzen, werden Nahrungsmittel noch mehr kosten. Wie sozial | |
| > ist das? | |
| Berlin/Oldenburg/Elsten taz | Sigrid Marquardt isst nur noch selten warm. | |
| Das hat mit dem Ukrainekrieg, den Energiekosten und der Inflation zu tun. | |
| „Brot ist billiger“, sagt sie. Von Brot und Tütensuppen ernähre sie sich | |
| inzwischen hauptsächlich. „Ich gehe auch weniger einkaufen als früher.“ | |
| Stattdessen holt sie jeden Mittwoch Lebensmittelspenden von der „Tafel“, | |
| einem Verein, der nicht verkauftes Essen in Supermärkten einsammelt und an | |
| Bedürftige verteilt. | |
| An einem Nachmittag im September steht Sigrid Marquardt in der Segenskirche | |
| in Berlin-Reinickendorf, einem schlichten roten Backsteinbau, in dem die | |
| Tafel einmal in der Woche Nahrungsmittel ausgibt. Marquardt redet schnell | |
| und mit starkem Berliner Akzent. Sie will erzählen, wie sie hier | |
| hingekommen ist. Sie habe früher als Putzfrau gearbeitet, doch vor zehn | |
| Jahren seien ihre Augen erkrankt, erzählt sie. „Meine Sehfähigkeit ging | |
| runter, ich konnte den Dreck nicht mehr so sehen, und dann hat sich das in | |
| dem Beruf ja erledigt.“ Außerdem habe sie Herzprobleme. | |
| Marquardt hat zunächst Hartz IV bekommen. Vor ein, zwei Jahren sei sie als | |
| arbeitsunfähig eingestuft worden, sagt sie. Seitdem erhält sie eine Rente | |
| für Menschen, die zu krank sind, um zu arbeiten, und einen Zuschuss vom | |
| Sozialamt, zusammen 450 Euro im Monat. Zieht man die fixen Ausgaben wie | |
| Strom und Telefon ab, blieben 250 Euro für Lebensmittel und Kleidung und | |
| alle anderen Dinge übrig, rechnet Marquardt vor. „Das Geld ist schon immer | |
| knapp gewesen“, sagt sie. Aber inzwischen sei es kaum möglich, damit | |
| auszukommen. | |
| Wie Sigrid Marquardt geht es vielen. „Aktuell unterstützen wir über zwei | |
| Millionen Menschen, mehr als je zuvor“, sagt Pascal Kutzner, Pressesprecher | |
| des Dachverbands Tafel Deutschland, der taz. Die Zahl sei seit Jahresbeginn | |
| um 50 Prozent gestiegen. Ein Teil der neuen NutzerInnen sind Kutzner | |
| zufolge Geflüchtete aus der Ukraine. Allerdings begann der Anstieg schon | |
| vor dem Krieg. „Es kommen auch vermehrt Menschen zu uns, die durch die | |
| gestiegenen Preise nicht mehr mit ihrem Lohn auskommen“, berichtet Kutzner. | |
| Die meisten Tafel-NutzerInnen leben wie Sigrid Marquardt von staatlichen | |
| Transferleistungen. Aber nicht nur sie, auch andere, größere | |
| Bevölkerungsgruppen sind wegen der höheren Lebensmittelpreise sparsamer als | |
| bisher. [1][35 Prozent] der TeilnehmerInnen einer Umfrage im Auftrag des | |
| Verbraucherzentrale Bundesverbands gaben im August an, sich beim Kauf von | |
| Lebensmitteln einzuschränken. | |
| Seit Juli 2021 steigen die Lebensmittelpreise so stark wie lange nicht | |
| mehr, seit Mai 2022 ist die Inflationsrate bei diesen Produkten | |
| zweistellig. Im Oktober kosteten Nahrungsmittel [2][20,3 Prozent mehr] als | |
| ein Jahr zuvor, zeigen Daten des Statistischen Bundesamtes. Das liegt | |
| besonders daran, dass Energie vor allem seit Russlands Angriff auf die | |
| Ukraine teurer geworden ist. Energie braucht man, um Lebensmittel zu | |
| erzeugen und zu transportieren; das schlägt auf die Preise durch. | |
| Jörg-Andreas Krüger ist Präsident des Naturschutzbunds (Nabu), der mit etwa | |
| [3][800.000 Mitgliedern] Deutschlands größten Umweltorganisation. Er will, | |
| dass VerbraucherInnen noch mehr für Milch, Eier und Fleisch bezahlen | |
| müssen. Damit die Bauern ihr Vieh besser halten, weniger Tier- und | |
| Pflanzenarten aussterben und das Klima gerettet wird. Auch die | |
| EU-Kommission und die Grünen samt ihrem Bundesagrarminister Cem Özdemir | |
| wollen trotz Inflation mehr Umweltschutz in der Landwirtschaft. Das würde | |
| für Menschen wie Sigrid Marquardt bedeuten, noch weniger finanziellen | |
| Spielraum zu haben, weil sie noch mehr Geld für Essen ausgeben müssten. | |
| Wie viel Umwelt- und Tierschutz in der Ernährung können wir uns angesichts | |
| der steigenden Preise noch leisten? Heißt ökologisch wirtschaften, dass | |
| sich Arme schlechter ernähren müssen? Oder dass es bald nicht mehr genug zu | |
| essen gibt in Deutschland? Die Suche nach Antworten auf diese Fragen führt | |
| zur Berliner Segenskirche, aber auch auf Felder und Wiesen in Niedersachsen | |
| und zuletzt auf einen Fachwerkhof, der seit Generationen im Besitz einer | |
| Familie ist. | |
| ## Massentierhaltung schadet Tier und Umwelt | |
| An einem grauen Oktobermorgen setzt sich Jörg-Andreas Krüger im | |
| niedersächsischen Oldenburg hinter das Steuer seines VW Golf Kombi. Der | |
| Nabu-Chef – helle Haut, blonde Haare – kommt aus der Region, er trägt eine | |
| Treckingjacke, dazu Wanderschuhe. | |
| „Wir fahren in die Kampfzone“, sagt er. Krüger lenkt den Wagen nach Süden | |
| in die Landkreise Oldenburg und Cloppenburg, Zentren der Tierhaltung in | |
| Deutschland. In Westniedersachsen verursache die Landwirtschaft besonders | |
| große Umweltschäden, weil nirgendwo so viele Tiere pro Hektar gehalten | |
| werden, sagt er. Hier will Krüger zeigen, warum die Landwirtschaft seiner | |
| Meinung nach umweltfreundlicher werden muss – auch wenn Lebensmittel dann | |
| teurer würden. | |
| Der Naturschützer biegt ab von der Bundesstraße. Er zeigt auf Felder und | |
| Wiesen beiderseits der Straße. „Das waren alles Moore“, sagt er. Um Moore | |
| landwirtschaftlich zu nutzen, wurden sie weitgehend trockengelegt. Kommt | |
| der Torf im Boden aber mit Luft in Berührung, zersetzt er sich und gibt | |
| Kohlendioxid ab. So entstehen laut Bundesumweltministerium etwa [4][7,5 | |
| Prozent der deutschen Treibhausgasemissionen]. Besonders viel entweicht, | |
| wenn die Wiesen dann noch zu Äckern umgepflügt werden. Dass sich der Torf | |
| zersetzt, kann man sogar sehen: An manchen Stellen verläuft die Straße | |
| höher als die benachbarten Felder. Für Krüger ist klar: Will man CO2 | |
| einsparen, müssen die Moore wieder vernässt werden. Ginge es nach ihm, | |
| dürfte dort, wo noch viel Torf ist, kein Ackerbau mehr betrieben werden. | |
| Davon gibt es hier reichlich. Rechts der Straße stehen Futtermaispflanzen, | |
| auf dem Feld links sind sie bereits abgeerntet, man sieht nur die Stoppeln. | |
| „Außer Mais wird hier nicht viel angebaut“, sagt der Naturschützer. Die | |
| Pflanze vertrage sehr viel Gülle, die in den zahlreichen Ställen in der | |
| Umgebung in rauen Menge anfalle. Offiziell nutzen die Landwirte die Gülle | |
| als Dünger. Es gehe aber auch darum, die Exkremente zu entsorgen, sagt | |
| Krüger. Der Mais könne jedoch bei weitem nicht alle Nährstoffe aus der | |
| Gülle aufnehmen – der Rest verschmutzt das Grundwasser, aus dem in | |
| Deutschland das meiste Trinkwasser gewonnen wird. | |
| ## Ein Bild des Grauens | |
| Die Überdüngung bringt auch die Natur durcheinander. Das lässt sich an | |
| einem Feldrand beobachten, an dem Krüger jetzt stoppt. Eichen stehen hier, | |
| ihre Blätter rauschen im Wind. Neben den Bäumen wachsen Holunder und die | |
| Spätblühende Traubenkirsche mit roten und schwarzen Früchten. Das war’s. | |
| „Das ist ein Bild des Grauens“, sagt Krüger. „Holunder ist ein typischer | |
| Nährstoffzeiger“ – eine Pflanze, die mit viel Stickstoff etwa aus Gülle im | |
| Boden sehr gut zurechtkommt. So gut, dass sie andere Pflanzen verdrängt. | |
| „Die Traubenkirsche ist eine Pflanze, die aus Nordamerika kommt und deshalb | |
| hier wenige angepasste Insektenlebensgemeinschaften hat. Das ist einfach zu | |
| wenig Vielfalt.“ | |
| Dass viele Bauern auf den Feldern kaum verschiedene Pflanzenarten anbauen, | |
| hält Krüger für problematisch, weil Unkraut sich dann schneller vermehren | |
| kann. „Die Landwirte spritzen dann Totalherbizide“, sagt er. Die vernichten | |
| so gut wie alle Pflanzen, die nicht gentechnisch verändert sind. Auch | |
| Pflanzen, von denen Insekten und Vögel leben. „Wir haben über 90 Prozent | |
| der Kiebitze verloren bundesweit. Genau das waren die Brutgebiete“, sagt | |
| Krüger. Die Feldlerchen seien viel weniger geworden. Dass auch Insekten | |
| betroffen sind, hat eine 2021 erschienene Studie gezeigt: Dort wurde | |
| nachgewiesen, dass auf Wiesen und in Wäldern in Deutschland inzwischen | |
| deutlich weniger Insekten unterwegs sind als vor einem Jahrzehnt. Der | |
| Einfluss der Landwirtschaft ist schon deshalb erheblich, weil sie mehr als | |
| die Hälfte der Fläche in Deutschland nutzt. Für Krüger gibt es nur eine | |
| Schlussfolgerung: Will man die Artenvielfalt schützen, muss man vor allem | |
| dafür sorgen, dass die Bauern weniger düngen und weniger Pestizide | |
| einsetzen. | |
| ## Moore müssten renaturiert werden | |
| Vernässte Moore, weniger Dünger, weniger Pestizide – aus Sicht des Umwelt- | |
| und Artenschutzes klingt es einleuchtend, was Krüger fordert. Für die | |
| Landwirtschaft und die VerbraucherInnen hätte das allerdings gravierende | |
| Folgen: Anbauflächen gingen verloren, die Pflanzen würden ohne Dünger | |
| weniger wachsen. Die Bauern könnten weniger ernten, die Erträge würden | |
| sinken, die Lebensmittel teurer. Vor einem Jahr hätte man vielleicht noch | |
| gesagt: So ist es, Umweltschutz kostet eben. Jetzt, da die Preise sowieso | |
| stark steigen, ist das nicht mehr so einfach. | |
| Krüger ist an einer der Anlagen angekommen, die er besonders für die | |
| Umweltprobleme der Landwirtschaft verantwortlich macht: ein langes, flaches | |
| Gebäude mit Lüftungsschächten, daneben Silos für Futter. Weiße Federn | |
| liegen auf dem Boden. „Betreten verboten / Wertvoller Putenbestand“, steht | |
| auf einem Schild am Maschendrahtzaun um den Stall. Zwei weitere Ställe sind | |
| in Sichtweite. | |
| Je Zehntausende von Tieren werden in den Ställen gehalten. Immer wieder | |
| rauschen auf der Straße große Viehtransporter mit Anhängern vorbei, die zum | |
| Schlachthof fahren. Die Tierhaltung ist der größte Verursacher von | |
| Treibhausgasen in der Landwirtschaft, die laut Umweltbundesamt für rund 13 | |
| Prozent der Emissionen in Deutschland verantwortlich ist. Deshalb, sagt | |
| Krüger, müssten die Deutschen im Schnitt weniger tierische Lebensmittel wie | |
| Fleisch, Eier und Milchprodukte essen. | |
| Krüger ist kein Vegetarier, er hat sogar einen Jagdschein, schießt auch | |
| durchaus mal ein Reh und isst davon. Es gehe ihm nicht darum, dass die | |
| Leute gar kein Fleisch mehr essen sollten, sagt er. Krüger wäre schon | |
| zufrieden, wenn die Menschen in Deutschland nur so viel Schwein, Rind und | |
| Geflügel zu sich nehmen würden, wie aus medizinischer Sicht empfohlen wird. | |
| Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung rät zu maximal [5][300 bis 600 | |
| Gramm Fleisch] pro Woche. Derzeit verzehren Männer im Schnitt [6][fast das | |
| Doppelte]. | |
| ## Niedrigerer Fleischkonsum, besseres Klima | |
| Weniger Fleisch wäre nicht nur gesund für den Menschen, sondern auch | |
| hilfreich für die Umwelt. Wenn weniger Tiere gehalten würden, würde weniger | |
| Gülle auf den Feldern entsorgt und weniger Futter angebaut. So könnte man | |
| 10 Prozent der Agrarfläche der Natur zurückgeben, schätzt Krüger. | |
| Um den Konsum zu reduzieren, würde Krüger Fleisch am liebsten sogar | |
| künstlich verteuern – durch einen Aufschlag von zum Beispiel 40 Cent pro | |
| Kilogramm Schwein. Diese Idee ist nicht neu: Eine Expertenkommission unter | |
| Leitung des ehemaligen CDU-Landwirtschaftsministers Jochen Borchert hat so | |
| etwas bereits [7][2020 vorgeschlagen]. Der aktuelle Ressortchef Cem Özdemir | |
| von den Grünen würde das gern umsetzen, aber vor allem der | |
| Koalitionspartner FDP blockiert, weil die Liberalen keine neue Steuer | |
| wollen. Seit die Fleischpreise steigen, ist es für den Grünen noch | |
| schwerer, hier etwas auszurichten. | |
| Krüger hat noch mehr Forderungen, die teils auch pflanzliches Essen weiter | |
| verteuern würden. Der Naturschützer verlangt etwa, der Staat solle dazu | |
| beitragen, dass mehr Landwirte auf Bio umstellen. Für ihn steht fest: „Wir | |
| werden uns mehr Naturschutz leisten müssen.“ | |
| Was aber hieße das für Menschen wie Sigrid Marquardt, die aus Kostengründen | |
| oft auf Fleisch verzichtet? Biofleisch kann sich die Tafel-Nutzerin erst | |
| recht nicht leisten. Öko-Hack kostet schon mal 40 Prozent mehr als | |
| konventionelles Fleisch. Dabei glaubt auch Marquardt, dass Lebensmittel | |
| tier- und umweltfreundlicher erzeugt werden müssten. „Wenn ich’s könnte, | |
| würde ich nur auf solche Sachen achtgeben“, sagt die Berlinerin, „aber von | |
| dem bisschen Geld kann man das leider nicht.“ | |
| Sind Jörg-Andreas Krüger Arme wie Sigrid Marquardt egal? Diese Kritik weist | |
| er weit von sich. Hartz-IV-EmpfängerInnen sollten mehr fürs Essen bekommen, | |
| fordert er. Die Mehrwertsteuer auf Gemüse sollte außerdem gestrichen | |
| werden, dann wäre es billiger. | |
| Das würde nicht verhindern, dass eine bereits jetzt existierende soziale | |
| Schieflage noch größer würde. Wenn die Preise für Fleisch stiegen, könnten | |
| es sich Arme noch weniger leisten, Reiche dagegen schon. Krüger räumt das | |
| ein. Er plädiert dafür, den Reichtum stärker zu verteilen, so will er diese | |
| Ungerechtigkeit beseitigt wissen. „Wir können nicht auf Umwelt- und | |
| Agrarpolitik verzichten, immer mit der Begründung, dass 15, vielleicht 20 | |
| Prozent der Haushalte eine Art von Unterstützung brauchen.“ So, wie die | |
| Landwirtschaft jetzt der Umwelt schade, gehe es nicht weiter. | |
| ## Kein Preisdumping im Lebensmittelsektor mehr | |
| Selbst wenn man steigende Preise sozialpolitisch abfedern könnte, stellt | |
| sich noch eine andere Frage: Wenn Bauern Moore wiedervernässen, Pestizide | |
| reduzieren und Tieren mehr Platz einräumen, hätten wir dann überhaupt noch | |
| genug zu essen? | |
| Besuch auf dem Hof von Familie Berges im Dorf Elsten im Landkreis | |
| Cloppenburg. Blickfang ist ein großes Fachwerkhaus, die Jahreszahl 1813 | |
| steht auf dem Giebel. Im Anbau werden Schweine gemästet, der strenge Geruch | |
| ihrer Exkremente liegt in der Luft. Immer wieder knallen Eicheln auf die | |
| roten Schieferdächer. Der 80-jährige Gerd Berges fährt mit einem Rad heran. | |
| Er zeigt mehrere alte Steine, zwei haben ein Loch. 4.000 Jahre alte | |
| Steinbeile seien das, sagt Gerd Berges. Er habe sie auf einem Feld | |
| gefunden. So lange lebten mindestens schon Menschen hier. Seine Familie sei | |
| seit Generationen auf dem Hof. Dann sagt er: „Sie haben es in der Hand, ob | |
| es hier weitergeht.“ Mit „Sie“ meint er die Presse und die von ihr | |
| beeinflussten VerbraucherInnen. | |
| Gerd Berges sitzt schon auf dem Altenteil, er hat den Hof an seinen Sohn | |
| übergeben. Hubertus Berges, ein hochgewachsener 53-Jähriger in Jeans und | |
| Polohemd, empfängt zum Gespräch. Umwelt- und Tierschutzregeln sieht er eher | |
| kritisch. „Höhere Auflagen bedeuten höhere Kosten.“ Höhere Kosten verteu… | |
| seine Schweine und Futtermittel, die er anbaut. Das könnte dazu führen, | |
| dass er weniger oder gar keine mehr verkauft. Falls die Deutschen dann | |
| weniger Fleisch äßen, wäre das zwar gut für das Klima und die Natur. Aber | |
| dann wäre die Zukunft des Hofs ungewiss, die Tradition der Familie in der | |
| Landwirtschaft stünde möglicherweise vor dem Aus. | |
| Ein paar Minuten Autofahrt vom Haus entfernt arbeitet Hubertus Berges’ Sohn | |
| auf einem Acker. Mit einem grün-gelben Traktor zieht er seine Bahnen; an | |
| der Maschine hängt ein Pflug, dessen Scharen die blassbraune Erde 35 | |
| Zentimeter tief aufreißen. Der Boden sei „auch ein ganz bisschen moorig“, | |
| sagt Hubertus Berges, während der Motor des Traktors dröhnt. | |
| Berges hätte natürlich ein Problem damit, wenn seine Mooräcker wieder unter | |
| Wasser gesetzt würden, um zu verhindern, dass der Boden CO2 freigibt. Denn | |
| dann könnte der Landwirt dort entweder gar nicht mehr oder nur noch schwer | |
| die bisher gängigen Kulturpflanzen anbauen. | |
| Wenn ihre Flächen wiedervernässt würden, sagt Berges, müssten die Bauern | |
| einen Ausgleich bekommen. „Dann muss man der Gesellschaft sagen: So viel | |
| kostet das. Seid Ihr bereit, das zu bezahlen?“ | |
| ## Mais wächst auf entwässerten Mooren | |
| Wenig später steht Berges auf einem seiner Maisfelder. Die Pflanzen mit | |
| ihren grünen und teils schon vergilbten Blättern wachsen in sauberen | |
| Reihen. Er sei auch gegen die Pläne der EU-Kommission, den Einsatz von | |
| Pestiziden zu reduzieren, sagt er. „Wir stehen hier in einem | |
| Landschaftsschutzgebiet. Wenn sich die EU-Kommission durchsetzt, wäre der | |
| Einsatz von Pflanzenschutzmitteln hier komplett verboten.“ Er brauche die | |
| Pestizide aber, um Unkräuter, Pilzkrankheiten und Schadinsekten in Schach | |
| zu halten. | |
| Den Chemieeinsatz in Deutschland insgesamt zum Wohle der Natur zu | |
| halbieren, hält Berges nicht für nötig. Pestizide seien heute lange nicht | |
| so gefährlich wie früher. Sie würden ja von der EU überprüft und | |
| zugelassen. | |
| Dass der Landwirt so stark mit Schädlingen zu kämpfen hat, könnte auch | |
| daran liegen, dass er dieselbe Pflanzenart in sehr kurzen Abständen auf | |
| seinen Feldern anbaut. „Wir fahren eine relativ enge Fruchtfolge“, sagt er. | |
| Im ersten Jahr baut er auf einem Acker Weizen an, im nächsten Mais, dann | |
| geht es schon wieder von vorne los. In so kurzer Zeit sterben die auf Mais | |
| oder Weizen spezialisierten Schädlinge, Unkräuter und Krankheitserreger | |
| aber nicht ab – weshalb Berges dann um so häufiger Pestizide einsetzt. | |
| ## Weniger Fleischkonsum, mehr landwirtschaftliche Flächen | |
| Berges’ Mais landet nicht auf dem Teller, sondern hauptsächlich im Trog als | |
| Futtermittel oder im Tank als Agrosprit. Der Landwirt räumt das erst auf | |
| Nachfrage ein, er kennt die Argumentation der UmweltschützerInnen. „Wir | |
| sollen weniger Fleisch essen. Dann hätte man Flächen frei“, weiß Berges. | |
| Weniger Fleisch, weniger Tiere, weniger Futter, mehr Äcker für Lebensmittel | |
| und Naturschutz, folgern die AktivistInnen. „Da muss man berücksichtigen, | |
| dass man auf längst nicht allen Flächen Brotweizen anbauen kann“, entgegnet | |
| Berges. Solche Weizensorten haben einen hohen Proteingehalt, so dass der | |
| Teig etwas leichter zu verarbeiten ist und stärker aufgeht. | |
| Berges ist sich sicher: Wenn Deutschland von den Bauern immer mehr | |
| Umweltschutz verlangen würde, „dann können wir uns aber vielleicht auch nur | |
| noch 40, 50 oder 60 Millionen Einwohner in Deutschland erlauben“. Für mehr | |
| würden die Ernten nicht reichen. Oder Deutschland würde mehr Lebensmittel | |
| importieren müssen. Mehr Einfuhren werden aber kritisch gesehen, weil sie | |
| möglicherweise unter noch schlechteren Bedingungen produziert werden – und | |
| weil sie die Weltmarktpreise und damit den Hunger in Entwicklungsländern | |
| steigern könnten. | |
| Sind tatsächlich so viele Flächen nur für den Futteranbau zu nutzen? Das | |
| sehen führende Experten anders. Derzeit würden lediglich 30 Prozent der | |
| Weizenernte zum Backen verwendet, sagt Friedrich Longin, Getreideforscher | |
| und Leiter der Arbeitsgruppe Weizen an der Landes-Saatzucht-Anstalt der | |
| Universität Hohenheim. Aber auch als „Futterweizen“ deklarierte Sorten | |
| eigneten sich für Mehl. 70 bis 80 Prozent des deutschen Weizens könnten | |
| problemlos zu Brot verarbeitet werden. Die Bäckereien müssten nur zum | |
| Beispiel die Knetung und die Wasserzugabe anpassen, wenn sie den Teig | |
| anrühren. | |
| Man könnte also doch auf den meisten Äckern Lebensmittel anbauen, folgert | |
| zum Beispiel die Umweltschutzorganisation Greenpeace. Da wäre dann genug | |
| Platz, um genügend Nahrungsmittel zu ernten, selbst wenn der Ertrag pro | |
| Hektar sinkt, weil die Bauern weniger Pestizide spritzen. Das hieße: Es | |
| könnten sehr wohl alle Menschen in Deutschland satt werden. Sogar der | |
| Weltmarkt könnte versorgt werden. Mehr Umweltschutz in der deutschen | |
| Landwirtschaft würde dann auch nicht zu mehr Hunger in Entwicklungsländern | |
| führen. | |
| ## 3.500 Schweine auf einem Hof | |
| Am meisten Geld verdient Berges, indem er Schweine an Schlachthöfe | |
| verkauft. In seinen Ställen kann er 3.500 Tiere gleichzeitig mästen. Herein | |
| lässt er Reporter nicht. Das sei zu gefährlich, weil sie möglicherweise den | |
| Erreger der Afrikanischen Schweinepest einschleppen könnten. | |
| Durchs Fenster ist zu sehen, dass die Tiere auf perforierten Betonböden | |
| stehen. Bei solchen Ställen fallen die Exkremente durch die Löcher in | |
| Rinnen oder Tanks. [8][Tierschützer kritisieren], an diesen „Spaltenböden“ | |
| könnten sich Schweine die Klauen verletzen. Sie müssten auf dem harten und | |
| verdreckten Betonboden laufen, liegen und schlafen, so dass sie ständig mit | |
| ihren eigenen Exkrementen in Berührung kämen. | |
| Wenn die Ställe voll besetzt sind, hat ein 110 Kilogramm schweres Tier nur | |
| [9][0,75 Quadratmeter Platz]. Es gibt keinen Auslauf, keinen Zugang zur | |
| frischen Luft, keine Stroheinstreu als Beschäftigungsmaterial. Damit sich | |
| die Tiere in dieser Monotonie und Enge nicht aus Langeweile und Frustration | |
| die Ringelschwänze gegenseitig abfressen, werden sie ihnen abgeschnitten. | |
| Auch wenn nur wenige Tiere erkranken, bekommt der ganze Stall Antibiotika. | |
| Dieser Masseneinsatz trägt dazu bei, dass die auch für Menschen wichtigen | |
| Medikamente ihre Wirkung verlieren, weil Keime Resistenzen entwickeln. | |
| Das ist der Standard der Schweinehaltung in Deutschland. „Es ist schwer, | |
| das, was darüber hinausgeht, vergütet zu kriegen“, sagt Berges, der nun in | |
| seinem gediegenen Wohnzimmer mit Echtholzparkett, großen Fenstern und Kamin | |
| sitzt. „Und gerade in der jetzigen Zeit mit dieser wahnsinnig angestiegenen | |
| Inflation. Die Leute müssen einfach noch mehr nach dem Portemonnaie | |
| gucken“, ergänzt er. Deshalb will er den Tieren jetzt erst recht nicht mehr | |
| Platz oder gar einen Auslauf gewähren. | |
| ## Schweinemast und Ethik | |
| Aber ist es nicht ethisch geboten, die Schweine besser zu halten? Da kommt | |
| Berges ins Stocken. Nach langem Zögern antwortet er: „Die Frage habe ich | |
| mir noch nicht so oft gestellt.“ Dann sagt er, die Wünsche zur Tierhaltung | |
| würden immer aus Sicht der Menschen geäußert. Der hermetisch geschlossene | |
| Stall etwa würde das Grundbedürfnis der Tiere nach einer angenehmen | |
| Temperatur besser erfüllen als ein offener Stall. Nur Menschen würden | |
| denken, das Vieh müsse an die frische Luft. „Auch konventionelle Ware, die | |
| wir hier produzieren, die ist ja Top-Standard“, sagt der Landwirt. | |
| Hubertus Berges bezweifelt sogar, dass die Landwirtschaft generell mehr | |
| gegen das Artensterben und für den Naturschutz tun muss. In den vergangenen | |
| zehn Jahren habe es schließlich „keine großartigen Veränderungen“ bei der | |
| Zahl der Tiere gegeben, die von Jägern in seiner Region erlegt werden, sagt | |
| er. | |
| Damit ist er beim Kern seiner Argumentation angekommen: Er bezweifelt, dass | |
| die Landwirtschaft wirklich so große Schäden in der Umwelt anrichtet. | |
| Deshalb sieht er auch keinen Bedarf für Reformen, die Lebensmittel | |
| verteuern würden. | |
| Naturschützer Krüger kann er so nicht überzeugen. Dieser verweist auf die | |
| Europäische Umweltagentur, der zufolge die Artenvielfalt vor allem wegen | |
| der Landwirtschaft schrumpfe. Oder auf den großen Treibhausgasausstoß und | |
| die Grundwasserverschmutzung der Branche. | |
| „Nach dem Schock dieses Jahres durch den Ukrainekrieg werden wir das Thema | |
| Umweltschutz in der Landwirtschaft wieder lauter machen“, sagt Krüger. Und: | |
| „Wir werden den Druck auf Bundesagrarminister Cem Özdemir erhöhen.“ Jetzt, | |
| fast ein Jahr nach dem Amtsantritt des grünen Ressortchefs, sei es Zeit, | |
| dass die Bundesregierung zum Beispiel für mehr Tierschutz sorge, damit der | |
| Fleischkonsum sinkt. | |
| ## Konventionelle Landwirtschaft sorgt für Artenverlust | |
| Tatsächlich zieht die Zahlen zum hohen Treibhausgasausstoß und Artenverlust | |
| durch die Landwirtschaft außerhalb der Branche kaum noch jemand | |
| grundsätzlich in Zweifel. Aber die Inflation wird allen Prognosen zufolge | |
| auch im kommenden Jahr hoch bleiben. Da müssten die UmweltschützerInnen | |
| schon sehr viel Druck aufbauen, um zum Beispiel eine zusätzliche Abgabe auf | |
| Fleisch durchzusetzen. Heftiger Gegenwind vonseiten der Bild-Zeitung wäre | |
| garantiert. | |
| Aber die Springer-Medien sind nicht die WählerInnen. Man kann das | |
| Umfrageergebnis, dass wegen der hohen Preise 35 Prozent der Menschen in | |
| Deutschland bei Lebensmitteln sparen, auch so lesen: 65 Prozent der | |
| Deutschen sparen eben immer noch nicht beim Essen. Offenbar könnten sie es | |
| sich sehr wohl leisten, einen zusätzlichen Tierschutzaufschlag von 40 Cent | |
| pro Kilogramm Fleisch zu bezahlen. Die Menschen, die jetzt schon sparen | |
| müssen, könnte der Staat stärker unterstützen, um die soziale Ungleichheit | |
| nicht noch zu vergrößern. | |
| Denn für Arme wie die Tafel-Nutzerin Sigrid Marquardt ist der Kostendruck | |
| jetzt schon zu hoch. Sie habe lediglich noch einmal im Monat Fleisch auf | |
| dem Teller statt wie vor der gestiegenen Inflation einmal pro Woche, sagt | |
| die Berlinerin. „Das finde ich nicht so toll. Ich würde schon gern | |
| mindestens zweimal im Monat ein Schnitzel oder Kotelett essen.“ Einfach, | |
| weil es ihr schmecke. | |
| Zweimal im Monat Fleisch – das wäre immer noch so wenig, dass selbst | |
| Umweltschützer wie Jörg-Andreas Krüger kein Problem damit hätten. | |
| 20 Nov 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.vzbv.de/pressemitteilungen/ramona-pop-die-menschen-brauchen-ein… | |
| [2] https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Konjunkturindikatoren/Basisdat… | |
| [3] https://www.nabu.de/wir-ueber-uns/transparenz/jahresbericht/32600.html | |
| [4] https://www.bmuv.de/pressemitteilung/kabinett-beschliesst-nationale-moorsch… | |
| [5] https://www.dge-ernaehrungskreis.de/lebensmittelgruppen/fleisch-wurst-fisch… | |
| [6] https://www.mri.bund.de/fileadmin/MRI/Institute/EV/Lebensmittelverzehr_N%C3… | |
| [7] https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/_Tiere/Nutztiere/200211-empfehl… | |
| [8] https://www.provieh.de/tiere/nutztiere/spaltenboeden/ | |
| [9] https://www.bmel.de/DE/themen/tiere/nutztiere/schweine/schweine.html | |
| ## AUTOREN | |
| Jost Maurin | |
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| Diese Erzeugerkosten gelten als ein Vorläufer der allgemeinen | |
| Preisentwicklung. | |
| Steigende Milchpreise: Endlich fair, nur nicht für Bio | |
| Milch wird knapper und teurer. Auch die Erzeuger:innen bekommen | |
| insgesamt deutlich mehr Geld. Auf der Strecke bleiben aber | |
| Biomilch-Bäuer:innen. | |
| Bundesregierung beschließt Moorstrategie: „Wasser Marsch“ für Moorböden | |
| Woran Schwarz-Rot gescheitert ist, bringt die Ampel auf den Weg: Eine | |
| Moorschutzstrategie, die Klima- mit Artenschutz vereinen soll. | |
| Auswirkungen auf Wälder: Stickstoffproblem wird verstärkt | |
| Massive Stickstoffeinträge gefährden die Wälder. Trockenzeiten und | |
| Dürreperioden vergrößern die schädliche Wirkung des Stickstoffs. | |
| Kapitalismus und Klimaschutz: Schrumpfen statt Wachsen | |
| Klimaschutz ist nur möglich, wenn Kapitalismus und Wachstum enden. | |
| Millionen Menschen werden sich beruflich umorientieren müssen. |