| # taz.de -- Kapitalismus und Klimaschutz: Schrumpfen statt Wachsen | |
| > Klimaschutz ist nur möglich, wenn Kapitalismus und Wachstum enden. | |
| > Millionen Menschen werden sich beruflich umorientieren müssen. | |
| Der Nachwuchs verzweifelt an den älteren Generationen. Die Klimakrise | |
| gefährdet die Zukunft, doch unablässig entstehen neue Treibhausgase. „Was | |
| macht unsere Eltern nur so ratlos?“ fragt sich etwa Klimaaktivistin Luisa | |
| Neubauer. Genauso wenig kann sie begreifen, warum die langjährige deutsche | |
| Kanzlerin weitgehend untätig blieb. „Merkel ist Physikerin. Müsste sie da | |
| nicht verstehen, was es bedeutet, wenn Klimagraphen in die Höhe rasen?“ | |
| Die jungen Klimaschützer vermuten, dass allein das nötige Geld fehlt, um | |
| die Klimakatastrophe abzuwenden. Populär ist der Spruch: „Wenn die Erde | |
| eine Bank wäre, hättet ihr sie längst gerettet.“ Die Klimakatastrophe wird | |
| also betrachtet, als wäre sie eine normale Krise wie etwa ein Finanzcrash. | |
| Sie ist zwar existenziell, aber angeblich schnell zu beheben – wenn nur die | |
| nötigen Milliarden fließen. | |
| Leider ist es nicht so einfach. Der Klimaschutz scheitert nicht, weil die | |
| Politik korrupt wäre oder nicht genug Geld bewilligen möchte. Der Wille, | |
| den Planeten zu retten, ist vorhanden. So bilanziert Gesundheitsminister | |
| Karl Lauterbach (SPD) erschüttert: „Niemand würde sein Eigenheim so sehr | |
| heizen, dass es mit einer Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent in dreißig | |
| Jahren abbrennen würde. Genau das tun wir derzeit aber mit dem Eigenheim | |
| Erde.“ | |
| Die Menschheit fackelt ihr Zuhause ab, weil Klimaschutz nur möglich ist, | |
| wenn wir den Kapitalismus abschaffen. Anders als Kapitalismuskritiker | |
| glauben, ist dies keine frohe Botschaft. Der Kapitalismus war | |
| außerordentlich segensreich. Mit ihm entstand das erste Sozialsystem in der | |
| Geschichte, das Wohlstand erzeugt hat. Vorher gab es kein nennenswertes | |
| Wachstum. Die Menschen betrieben eine eher kümmerliche Landwirtschaft, | |
| litten oft unter Hungerkatastrophen und starben im Durchschnitt mit 35 | |
| Jahren. | |
| Der Kapitalismus war ein Fortschritt, hat aber leider eine fundamentale | |
| Schwäche: Er benötigt dieses Wachstum, um stabil zu sein. In einer | |
| endlichen Welt kann man aber nicht unendlich wachsen. Momentan tun die | |
| Westeuropäer so, als könnten sie drei Planeten verbrauchen. Bekanntlich | |
| gibt es aber nur die eine Erde. | |
| ## Systemwandel statt Klimawandel | |
| Bisher setzen die Regierungen darauf, dass sie Wirtschaft und Klimaschutz | |
| irgendwie versöhnen könnten. Die große Hoffnung ist, dass sich die gesamte | |
| Wirtschaft auf Ökostrom umstellen ließe – ob Verkehr, Industrie oder | |
| Heizung. „Grünes Wachstum“ ist jedoch eine Illusion, denn der Ökostrom wi… | |
| nicht reichen. Diese Aussage mag zunächst überraschen, schließlich schickt | |
| die Sonne 5.000-mal mehr Energie zur Erde, als die acht Milliarden Menschen | |
| benötigen würden, wenn sie alle den Lebensstandard der Europäer genießen | |
| könnten. | |
| An physikalischer Energie fehlt es also nicht, aber die Sonnenenergie muss | |
| erst einmal eingefangen werden. Solarpaneele und Windräder liefern jedoch | |
| nur Strom, wenn die Sonne scheint und der Wind weht. Um für Flauten und | |
| Dunkelheit vorzusorgen, muss Energie gespeichert werden – entweder in | |
| Batterien oder als grüner Wasserstoff. Dieser Zwischenschritt ist so | |
| aufwendig, dass Ökostrom knapp und teuer bleiben wird. Wenn die grüne | |
| Energie reichen soll, bleibt nur „Grünes Schrumpfen“. | |
| Es ist kein neuer Gedanke, dass permanentes Wachstum keine Zukunft hat. | |
| Viele Klimaaktivisten sind längst überzeugt, dass die Natur nur überleben | |
| kann, wenn der Kapitalismus endet. Also haben sie den eingängigen Slogan | |
| geprägt: „[1][system change, not climate change]“. Auch an Visionen mangelt | |
| es nicht, wie eine ökologische Kreislaufwirtschaft aussehen könnte, in der | |
| nur noch so viel verbraucht wird, wie sich recyceln lässt. Stichworte sind | |
| unter anderem Tauschwirtschaft, Gemeinwohlökonomie, Konsumverzicht, | |
| Arbeitszeitverkürzung oder bedingungsloses Grundeinkommen. | |
| Wie sich klimaneutral leben ließe, hat die wachstumskritische | |
| [2][Degrowth-Bewegung] liebevoll beschrieben: Man würde nur noch regionale | |
| und saisonale Produkte nutzen, könnte Freunde treffen, notwendige | |
| Reparaturen selbst vornehmen und Kleider nähen. Die meisten | |
| Gebrauchsgegenstände würde man mit den Nachbarn teilen, zum Beispiel | |
| Rasenmäher, Bohrmaschinen, Spielzeuge oder Bücher. | |
| ## Kein Zurück in die Steinzeit | |
| Diese klimaneutrale Konsumwelt klingt vielleicht romantisch und nach alten | |
| Zeiten, aber eine Rückkehr in die Vormoderne ist nicht gemeint. Auch die | |
| Degrowth-Bewegung schätzt die Maschinen, die der Kapitalismus entwickelt | |
| hat und die das Leben so bequem machen. Waschmaschinen, Computer und | |
| Internet sollen bleiben. Niemand muss fürchten, dass wir „wieder in der | |
| Steinzeit landen“ und „in Höhlen wohnen“, wenn der Kapitalismus endet. | |
| Dies zeigt bereits eine kleine Rechnung: Würden wir auf die Hälfte unserer | |
| Wirtschaftsleistung verzichten, [3][wären wir immer noch so reich wie | |
| 1978]. Auch damals ließ es sich gut leben. Es war das Jahr, als Argentinien | |
| Fußballweltmeister wurde und der erste Teil von „Star Wars“ in den Kinos | |
| lief. Es gab zwar keine „Flugmangos“ aus Peru, aber wir waren so zufrieden | |
| wie heute. | |
| Eine ökologische Kreislaufwirtschaft wäre also möglich. Doch wird diese | |
| Vision meist mit dem Weg verwechselt. Das Ziel soll zugleich der Übergang | |
| sein. Nur selten wird gefragt, wie man eigentlich aus einem wachsenden | |
| Kapitalismus aussteigen soll, ohne eine schwere Wirtschaftskrise zu | |
| erzeugen und Millionen Menschen in die Arbeitslosigkeit zu schicken. Es | |
| fehlt die Brücke aus der dynamischen Gegenwart in eine statische Zukunft. | |
| Viele Klimaaktivisten spüren, dass der Abschied vom Kapitalismus schwierig | |
| wird. Greta Thunberg wurde kürzlich von einem Anhänger gefragt, wie denn | |
| das künftige System aussehen soll. „Ich weiß es nicht“, antwortete sie. �… | |
| wurde bisher noch nicht erfunden.“ Um sich dieses „grüne Schrumpfen“ | |
| vorzustellen, hilft es, vom Ende her zu denken. Wenn Ökostrom knapp bleibt, | |
| sind Flugreisen und private Autos nicht mehr möglich, weil sie zu viel | |
| Energie verbrauchen. | |
| ## Banken wären überflüssig | |
| Banken werden ebenfalls weitgehend obsolet, denn Kredite lassen sich nur | |
| zurückzahlen, wenn die Wirtschaft wächst. In einer klimaneutralen | |
| Wirtschaft würde niemand hungern – [4][aber Millionen von Arbeitnehmern | |
| müssten sich umorientieren]. Investmentbanker oder Flugbegleiter wären | |
| überflüssig, dafür würden aber sehr viel mehr Arbeitskräfte in der | |
| ökologischen Landwirtschaft und auch in den Wäldern benötigt, um die Folgen | |
| der Klimakrise zu lindern. | |
| Diese Sicht auf die Zukunft mag radikal erscheinen, aber sie ist | |
| „alternativlos“. Wenn wir die emittierten Treibhausgase nicht auf netto | |
| null reduzieren, geraten wir in eine „Heißzeit“, die ganz von selbst dafür | |
| sorgt, dass die Wirtschaft schrumpft. In diesem ungeplanten Chaos käme es | |
| wahrscheinlich zu einem Kampf aller gegen alle, den die Demokratie nicht | |
| überleben würde. | |
| Der Rückbau des Kapitalismus muss geordnet vonstattengehen. Zum Glück gibt | |
| es bereits ein historisches Modell: die britische Kriegswirtschaft ab 1939. | |
| Damals standen die Briten vor einer monströsen Herausforderung. Sie hatten | |
| den Zweiten Weltkrieg nicht wirklich kommen sehen und mussten nun in | |
| kürzester Zeit ihre Wirtschaft komplett auf das Militär ausrichten. Sie | |
| mussten die Herstellung von Konsumgütern herunterfahren, ohne dass die | |
| Bevölkerung hungerte. | |
| Es entstand eine Planwirtschaft, die bemerkenswert gut funktionierte. Die | |
| Fabriken blieben in privater Hand, aber der Staat steuerte die Produktion – | |
| und organisierte die Verteilung der knappen Güter. Es gab keinen Mangel, | |
| aber es wurde rationiert. Manche Deutsche fragen sich allerdings, ob es | |
| überhaupt sinnvoll ist, auf nationaler Ebene über den Klimaschutz | |
| nachzudenken. Sie fürchten, dass andere Länder es sogar ausnutzen könnten, | |
| wenn wir unsere Treibhausgase reduzieren. | |
| So schreibt der [5][Ökonom Hans-Werner Sinn]: „Ob man nun an Kohle, Erdöl | |
| oder Erdgas denkt: Wenn Deutschland weniger kauft und verbrennt, dann | |
| können die Chinesen halt mehr kaufen und verbrennen.“ Dieses Misstrauen ist | |
| verständlich, verkennt aber, dass fast alle anderen Staaten unter der | |
| Klimakatastrophe noch weit stärker leiden als Deutschland. Es liegt in | |
| ihrem Eigeninteresse, die Treibhausgase ebenfalls zu reduzieren. | |
| ## Die Reichen müssen verzichten | |
| [6][Falls echter Klimaschutz ausbleibt], werden im Jahr 2070 etwa 3,5 | |
| Milliarden Menschen in Regionen leben, die im Durchschnitt mehr als 29 Grad | |
| warm wären. So gnadenlos heiß ist es heute nur auf 0,8 Prozent der | |
| weltweiten Landfläche, vor allem in der Sahara. Doch schon in fünfzig | |
| Jahren wären weite Gebiete in Afrika und am Amazonas fast unbewohnbar; auch | |
| der Nahe Osten sowie Teile von Indien, Pakistan, Thailand, Indonesien und | |
| Australien wären zu heiß, als dass sich Menschen dort dauerhaft aufhalten | |
| könnten. | |
| Apropos Menschen: In den Industrieländern wird gern der globale Süden | |
| beschuldigt, die Umweltprobleme zu verursachen – weil er angeblich | |
| „überbevölkert“ sei. Doch würde sich an der Klimakatastrophe selbst dann | |
| nichts ändern, wenn Afrika gar keine Einwohner hätte, denn von dort stammen | |
| kaum CO2-Emissionen. Ein Bewohner in [7][Malawi verursacht pro Jahr und | |
| Kopf nur 270 Kilo] an Treibhausgasen. | |
| Deutsche kommen auf 11,2 Tonnen. Nicht zu viele Menschen sind das Problem, | |
| sondern Menschen, die zu viel verbrauchen. Allerdings gilt auch in | |
| Deutschland, dass die Emissionen sehr ungleich verteilt sind. Das reichste | |
| Hundertstel stößt pro Kopf und Jahr enorme 117,8 Tonnen an Klimagasen aus, | |
| bei den unteren 50 Prozent sind es nur ganze 5,9 Tonnen. Es ist ganz | |
| einfach: Wenn Klimaschutz gelingen soll, müssen vor allem die Reichen | |
| verzichten. | |
| Noch regt sich heftiger Widerstand. Aber mit der Natur lässt sich nicht | |
| verhandeln. Der Kapitalismus wird enden, weil er mit dem Klimaschutz nicht | |
| vereinbar ist. Die nächste Epoche wird eine „Überlebenswirtschaft“ sein. | |
| 17 Sep 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://systemchangenotclimatechange.org/ | |
| [2] https://degrowth.info/de/degrowth-de | |
| [3] https://www.bundesbank.de/resource/blob/887598/2fd6a85a8ad966351b3940637092… | |
| [4] https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2019/04/PD19_139_811.h… | |
| [5] https://www.amazon.de/gr%C3%BCne-Paradoxon-Pl%C3%A4doyer-illusionsfreie-Kli… | |
| [6] https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/klimawandel-ein-drittel-der-welt… | |
| [7] https://www.laenderdaten.info/co2-nach-laendern.php | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrike Herrmann | |
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