| # taz.de -- Klimaschutz und Wachstum: Party like it's 1978 | |
| > Klimaschutz gelingt nur, wenn wir uns vom Wachstumsdenken verabschieden. | |
| > „Grünes Schrumpfen“ wäre eine soziale Revolution. | |
| Bild: Ähnlich glücklich wie heute: Menschen in Westdeutschland 1978 | |
| Deutschland tut momentan so, als könnte es drei Planeten verbrauchen. | |
| Bekanntlich gibt es aber nur eine Erde. Wenn wir überleben wollen, müssen | |
| Produktion und Konsum schrumpfen. Über dieses „grüne Schrumpfen“ wird | |
| bisher jedoch kaum nachgedacht, was kein Zufall ist. Denn nicht nur die | |
| Wirtschaft würde sich völlig verändern, auch das Verhältnis von Arm und | |
| Reich, der Sozialstaat oder die Möglichkeiten der privaten Vorsorge würden | |
| sich komplett wandeln. Die Gesellschaft wäre nicht mehr wiederzuerkennen. | |
| Um von vorn zu beginnen: Klimaschutz kann nur gelingen, [1][wenn die | |
| Reichen nicht geschont werden], denn sie verbrauchen am meisten Rohstoffe | |
| und emittieren enorme Mengen an Treibhausgasen. Die Zahlen sind | |
| erschütternd: Das reichste Hundertstel der Deutschen stößt pro Kopf und | |
| Jahr 117,8 Tonnen an Klimagasen aus. Die obersten 10 Prozent kommen im | |
| Durchschnitt auf 34,1 Tonnen. Die „Mitte“ emittiert 12,2 Tonnen – während | |
| es bei den unteren 50 Prozent nur ganze 5,9 Tonnen sind. Die Reichen | |
| produzieren pro Kopf also 20-mal so viel CO2 wie die Armen. | |
| Diese krasse Ungerechtigkeit ist vielen wohlhabenden Deutschen nicht | |
| bewusst. Im Gegenteil. Gerade Gutverdiener neigen dazu, sich für besonders | |
| umweltbewusst zu halten. Sie kaufen Biogemüse und Energiesparlampen und | |
| merken gar nicht, dass sie meist sehr üppig wohnen und häufig fliegen. Wie | |
| [2][das Umweltbundesamt feststellte], sei bei den Wohlhabenden „die | |
| Auffassung weit verbreitet, sparsam mit Ressourcen umzugehen“. Die Behörde | |
| vermutet, dass sich diese umweltbewussten Gutverdiener vor allem mit | |
| Mitgliedern der eigenen Schicht vergleichen – und dabei aus dem Blick | |
| verlieren, dass die ärmeren Milieus deutlich weniger konsumieren. | |
| Für die Reichen Deutschlands wäre es natürlich sehr schmerzhaft, wenn sie | |
| nicht mehr jährlich 117,8 Tonnen CO2 emittieren dürften. Ihr flotter | |
| Lebensstil wäre dahin. Für die Gutsituierten sind dies keine angenehmen | |
| Aussichten, weswegen gelegentlich eine Art Mittelweg vorgeschlagen wird: | |
| Jeder Mensch soll ein privates CO2-Konto bekommen und darf dann 1 bis 2 | |
| Tonnen im Jahr umsonst verbrauchen – danach wird es teurer. | |
| ## Was an Wert verliert | |
| Doch dieser gut gemeinte Vorschlag würde den Klimaschutz torpedieren. Für | |
| Reiche wäre es gar kein Problem, sich einfach weitere Emissionsrechte zu | |
| kaufen, sodass weiterhin zu viele Treibhausgase ausgestoßen würden. Vor | |
| allem aber würde das Projekt Klimaschutz diskreditiert, wenn jeder | |
| verzichten müsste – nur die Wohlhabenden nicht. | |
| Klimaschutz hat nur eine Chance, wenn alle gleichmäßig beitragen müssen und | |
| sich der Abstand zwischen den Schichten verringert. Man sollte diese | |
| Herausforderung nicht kleinreden. Es käme einer sozialen Revolution gleich | |
| – die es in Deutschland noch nie gegeben hat. Die Abschaffung der Monarchie | |
| 1918 oder die Wende 1989 waren politische Revolutionen, die das | |
| Herrschaftssystem verändert, aber das Besitzgefüge nicht angetastet haben. | |
| „Grünes Schrumpfen“ würde zudem bedeuten, dass private Vorsorge nicht mehr | |
| möglich ist. Bisher glauben viele Deutsche, sie könnten sich von der | |
| Gesellschaft entkoppeln und auf einer Art eigenen Insel leben, indem sie | |
| Finanzvermögen ansparen. Doch dieses Vermögen verliert zwingend an Wert, | |
| sobald die Wirtschaft schrumpft. | |
| Beispiel Aktien: Die meisten DAX-Werte finanzieren Unternehmen, die sehr | |
| viel CO2 emittieren. Dazu gehören unter anderem die Flugzeugbauer Airbus | |
| und MTU oder die Autokonzerne BMW, Porsche, Mercedes-Benz, VW sowie | |
| Continental. Diese Firmen wären nur noch ein Schatten ihrer selbst, wenn | |
| Menschen und Güter vor allem mit der Bahn transportiert würden, um | |
| Treibhausgase einzusparen. Wenn aber Unternehmen in die Bedeutungslosigkeit | |
| abrutschen, können auch ihre Aktien nicht mehr viel wert sein. | |
| Doch nicht nur Firmenpapiere verlieren an Wert, wenn die Wirtschaft | |
| schrumpft. Gleiches gilt für jede Art von Geldvermögen – ob es nun | |
| Ersparnisse oder Lebensversicherungen sind. Es ist ganz simpel: Geld hat | |
| nur Wert, wenn sich dafür etwas kaufen lässt. Sobald die Menge der Güter | |
| sinkt, löst sich dieses Geldvermögen teilweise in Luft auf. | |
| ## Wie wir das nennen | |
| Für diesen Prozess gibt es auch einen Namen: Inflation. Wenn weit mehr Geld | |
| auf den Markt drängt, als dort Waren zu finden sind, wird jedes einzelne | |
| Produkt teurer. Schon bisher waren hohe Inflationen gefürchtet, weil sie | |
| extrem ungerecht sind. Finanzvermögen und Geldeinkommen werden entwertet, | |
| während Immobilienbesitzer keine Einbußen hinnehmen müssen. Diese Unwucht | |
| wird noch schlimmer, wenn eine Wirtschaft dauerhaft schrumpfen muss. Dann | |
| stellt sich ganz schnell die Frage, wer sich die knappen Güter noch leisten | |
| kann. Gut leben könnte nur noch, wer über Sachwerte oder sehr hohe | |
| Geldvermögen verfügt. | |
| Die Ärmeren hingegen würden leer ausgehen, und besonders schlimm würde es | |
| viele Rentner treffen, weil ihre private Altersvorsorge durch die Inflation | |
| aufgefressen würde. Aus diesem Teufelskreis gibt es nur noch einen Ausweg: | |
| Rationierung. Jeder bekommt das Gleiche, zugeteilt vom Staat. | |
| Wenn Deutsche das Wort „Rationierung“ hören, drängen sich den meisten | |
| sofort die tristen Bilder aus der Nachkriegszeit auf, als Millionen hungern | |
| mussten. Doch diese Analogien führen in die Irre. Obwohl die deutsche | |
| Wirtschaft schrumpfen muss, um klimaneutral zu sein, wären wir immer noch | |
| sehr wohlhabend. Niemand müsste um sein Überleben kämpfen, und die Rationen | |
| könnten durchaus üppig ausfallen. | |
| ## Was das mit dem Jahr 1978 zu tun hat | |
| Bisher gibt es keine Modelle, wie ein „grünes Schrumpfen“ aussehen könnte. | |
| Aber es ist unwahrscheinlich, dass wir auf mehr als die Hälfte unserer | |
| Wirtschaftsleistung verzichten müssten. Wahrscheinlich reichen schon | |
| geringere Einbußen, um klimaneutral zu werden. Aber selbst wenn sich die | |
| Wirtschaftsleistung halbierte, wären wir immer noch so reich wie | |
| Westdeutschland im Jahr 1978. Wer damals dabei war, weiß, dass wir genauso | |
| glücklich waren wie heute. Es war übrigens das Jahr, in dem Argentinien zum | |
| ersten Mal Fußballweltmeister wurde. Also alles sehr vertraut. | |
| Auf den ersten Blick mag es wie ein Widerspruch erscheinen, dass wir beim | |
| „grünen Schrumpfen“ durchaus wohlhabend bleiben und dennoch Rationierungen | |
| nötig werden. Aber das Problem ist nicht das Niveau der Güter – sondern der | |
| Prozess des Schrumpfens. Es ist fast egal, ob es nur ein kleiner oder ein | |
| sehr großer Einbruch ist. | |
| Sobald die Waren dauerhaft weniger werden, kommt es zu Inflation, | |
| Ungleichheit und Verteilungsproblemen. Wenn es weitgehend gerecht zugehen | |
| soll, müssen die wichtigen Basisgüter rationiert und zugeteilt werden – | |
| also Wohnraum, Bahnfahrten und so aufwendige Lebensmittel wie Fleisch. | |
| ## Welche Konsequenzen es hätte | |
| Der Sozialstaat, wie wir ihn heute kennen, würde sich weitgehend erübrigen. | |
| Es gäbe keine großen Unterschiede mehr zwischen Renten oder einer | |
| Arbeitslosenversicherung. Die Rationen wären für alle gleich. Trotzdem | |
| sollte man nicht glauben, dass die Ära eines „bedingungslosen | |
| Grundeinkommens“ naht, in der jeder frei Haus Rationen beanspruchen kann. | |
| Dazu sind Erwerbsfähige künftig zu knapp. Es wird sehr viel Arbeit machen, | |
| Deutschland klimaneutral umzugestalten. | |
| Die Wälder müssen wieder aufgeforstet werden, und auch der Ökolandbau | |
| benötigt sehr viel mehr Arbeitskräfte als die heutige industrialisierte | |
| Landwirtschaft, von der wir uns verabschieden müssen, wenn wir Boden, | |
| Grundwasser und Artenvielfalt schützen wollen. | |
| Zugleich ist auch die Öko-Energie ein riesiges Infrastrukturprojekt, das | |
| sehr viele Arbeitskräfte binden wird. Es müssen Häuser gedämmt und | |
| Wärmepumpen eingebaut werden, es sind Solarpaneele und Windräder zu | |
| installieren. Der grüne Wasserstoff braucht Elektrolyseure, Gaskraftwerke | |
| und Pipelines. Große Teile der Industrie müssen umgerüstet werden. Es ist | |
| nicht damit zu rechnen, dass die Gesellschaft bereit ist, dringend | |
| benötigten Arbeitskräften ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ zu zahlen. | |
| Für Erwerbsfähige wird es die Rationen nur geben, wenn sie arbeiten. | |
| „Grünes Schrumpfen“ würde die Gesellschaft so stark verändern, dass bish… | |
| alle Parteien davor zurückschrecken und lieber „grünes Wachstum“ | |
| propagieren. Das ist verständlich, bleibt aber eine Illusion. Wie gesagt: | |
| Wir Deutschen verbrauchen derzeit drei Planeten. Ohne Schrumpfen wird es | |
| nicht gehen. | |
| 31 Dec 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Wachstum-und-Klimakrise/!5892098 | |
| [2] https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/1410/publikatione… | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrike Herrmann | |
| ## TAGS | |
| IG | |
| Schwerpunkt Klimawandel | |
| Sozialpolitik | |
| GNS | |
| wochentaz | |
| Postwachstum | |
| Grüner Kapitalismus | |
| Schwerpunkt Klimawandel | |
| Grünes Wachstum | |
| Geringverdiener | |
| Klassengesellschaft | |
| IG | |
| Podcast „Bundestalk“ | |
| IG | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kampf gegen Klimakrise: Grenzen des Fortschritts | |
| Ohne Fortschritt scheitert der Kampf gegen die Klimakrise. Doch wir müssen | |
| technologische Entwicklungen einhegen – und uns vom Wachstumsdogma lösen. | |
| Öko-Energie zu teuer: Grünes Schrumpfen ist angesagt | |
| Eine neue Studie weist nach, dass „grünes Wachstum“ eine Illusion ist. Denn | |
| Öko-Energie, die unsere Technik antreibt, hat schlicht zu hohe Kosten. | |
| Plaudern im Salon: Waschen, Schneiden, Schnauze halten | |
| In Berlin kommen Haarschnitte ohne den üblichen Small Talk in Mode. Was ist | |
| das für eine Welt, in der niemand mehr aus seiner Blase will? | |
| Entstehung einer ökologischen Klasse: Alte Weltbilder umstülpen | |
| Trotz Alarmsignalen passiert wenig in der Klimakatastrophe. Bruno Latour | |
| und Nikolaj Schultz setzen auf den Begriff der „ökologischen Klasse“. | |
| Wachstum und Klimakrise: Illusion grünes Wachstum | |
| Ökoenergie wird nicht reichen, um unser Wirtschaftsmodell zu erhalten. | |
| Verschwendung ist keine Option mehr. Eine Entgegnung auf Malte Kreutzfeldt. | |
| Podcast „Bundestalk“: Grün schrumpfen oder grün wachsen? | |
| Es klingt verlockend: Wir leben weiter wie bisher, nur mit erneuerbaren | |
| statt mit fossilen Energien. Aber was, wenn die Ökoenergie dafür nicht | |
| reicht? | |
| Kapitalismus und Klimaschutz: Schrumpfen statt Wachsen | |
| Klimaschutz ist nur möglich, wenn Kapitalismus und Wachstum enden. | |
| Millionen Menschen werden sich beruflich umorientieren müssen. |