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# taz.de -- Kampf gegen Klimakrise: Grenzen des Fortschritts
> Ohne Fortschritt scheitert der Kampf gegen die Klimakrise. Doch wir
> müssen technologische Entwicklungen einhegen – und uns vom Wachstumsdogma
> lösen.
Bild: Guter Fortschritt, schlechter Fortschritt
Vor etwa 1,5 Millionen Jahren hat ein Homo erectus irgendwo im südlichen
Afrika gelernt, Feuer zu kontrollieren. Ohne ihn würden wir heute weder
Kohle noch Erdöl verbrennen, keine Gasheizung aufdrehen und kein Fleisch
grillen. Gebratenes Fleisch ist gesünder als rohes totes Tier, das Feuer
macht das Kochen sonst nicht verdaulicher Pflanzen möglich, es hält Tiere
ab und spendet Wärme.
Menschen lebten länger, wurden schlauer und erfanden die Medizin. Sie haben
Tiere zu Nutztieren domestiziert, Pflüge geschmiedet, Kohlezechen
angelegt, die Stahlproduktion entwickelt, Wälder mit Feuer gerodet, Autos
erfunden, Nachtarbeit und den globalen Kapitalismus. Alles im Namen des
Fortschritts.
Wenn der Homo erectus gewusst hätte, wohin uns sein Feuer führt, hätte er
es sich vielleicht noch einmal anders überlegt.
Das hätte er nicht. Denn Fortschritt ist eine Droge. Eine Droge erhöht den
Puls, erzeugt Euphorie, erweitert das Bewusstsein, verlangt nach immer mehr
und immer stärkerer Wirkung. Am Anfang des 21. Jahrhunderts befinden wir
uns in einem Stadium, in dem die Wirkung gerade nachlässt. Das Abklingen
eines Rausches bringt oft Niedergeschlagenheit, Erschöpfung bis hin zu
Angstzuständen, Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen mit sich. Manche
Menschen, die gegen die Klimakrise kämpfen, bezeichnen sich selbst als
ausgebrannt.
## Fortschreitende Ausbeutung
Fortschritt ist vom Beginn der industriellen Revolution in den Kohlezechen
Englands an über die Ablösung der Pferdekutsche durch das Automobil bis hin
zur Globalisierung der Warenwelt – inklusive der Ware Tourist – zu Beginn
des 21. Jahrhunderts untrennbar [1][mit der Ausbeutung fossiler Rohstoffe
und einem immer wachsenden Bedarf an Energie] verbunden.
Selbst die Entwicklungen in den Sphären von Quantencomputern und
künstlicher Intelligenz sind vor allem eines: Energiefresser. Fortschritt
heißt fortschreitende Ausbeutung der natürlichen Ressourcen. Es ist eine
Leistung der menschlichen Spezies, die diese von allen anderen Lebensformen
auf der Welt abhebt. Pflanzen und Tiere sind nun einmal nicht in der Lage,
ihre eigene Lebensgrundlage zu zerstören.
Fortschritt bedeutet nach dem Wörterbuch „Oxford Languages“ „eine positiv
bewertete Weiterentwicklung, die Erreichung einer höheren Stufe der
Entwicklung“.
England wird oft als das Mutterland der Demokratie bezeichnet. Die Glorious
Revolution fand ein Jahrhundert vor der Französischen Revolution statt, auf
die englische Aufklärung geht die moderne Gewaltenteilung zurück. Die
Ablösung des Feudalstaats und die Entwicklung hin zur Demokratie ist der
entscheidende gesellschaftliche Fortschritt der Neuzeit. Reformation und
Aufklärung sind Ausgangspunkt eines Fortschritts, der (großen Teilen) der
Menschheit den Rechtsstaat, Menschenrechte und einigen sogar eine
antiautoritäre Erziehung gebracht hat.
Technischer Fortschritt und die Industrialisierung sind Garanten für
ausreichende Nahrungsmengen, Beschleuniger für die segensreiche moderne
Medizin, Paten der wirtschaftlichen Dynamik und von Reichtum (zumindest für
einen Teil der Menschheit), der vor 1,5 Millionen Jahren unvorstellbar war.
Anfang des 21. Jahrhundert muss sich die Menschheit nun entscheiden, ob sie
Fortschritt vom Feuer lösen kann.
Die Klimakrise macht den Abschied von fossilen Brennstoffen, um mit einem
Ausdruck der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel zu sprechen,
„alternativlos“. Eine positiv bewertete Weiterentwicklung und die
Erreichung einer höheren Stufe – Fortschritt – müssten demnach diejenige
Entwicklung sein, die die Grundlage des menschlichen Lebens auf der Erde
schützt und zugleich Demokratie, moderne Medizin und ausreichend Nahrung
und Reichtum (für möglichst viele Menschen) erhält.
## Upgegradete Menschen
Man kann 2023 nicht über Fortschritt schreiben, ohne Yuval Noah Harari zu
erwähnen. Der israelische Historiker und Universaldenker mischt der
positiven Entwicklungserzählung einen anderen, gleichermaßen
unbekömmlicheren Gedanken bei. Fortschritt, so kann man es kurz
zusammenfassen, bedeute Effektivitätsgewinne, nicht zwangsläufig Glück. Das
hat ja auch Karl Marx schon gesehen. Effektivität teilt die Menschheit in
Arm und Reich. Das ergibt Sinn, denn wer das Feuer beherrscht, beherrscht
zweifelsohne auch seine Mitmenschen.
Aber Hararis Vision des Fortschritts mündet im 21. Jahrhundert in eine
Spaltung der Menschheit in eine Spezies des via Bioengineering oder als
Cyborgs upgegradeten Menschen – und die abgehängten anderen. Harari hat
sich im März 2023 der Forderung von mehr als 1.000 Expertinnen und Experten
aus der Techbranche, Forschung und Wissenschaft angeschlossen, ein
sechsmonatiges Moratorium für das Trainieren von KI-Systemen, die
„mächtiger als GPT-4“ sind, zu beschließen.
Fortschritt ist eine Droge. Deren berauschender Sog scheint heute in den
Forschungslaboren der KI-Entwicklung unterwegs zu sein. Der
Erneuerungszyklus immer leistungsfähigerer Programme ist der
Anpassungsgeschwindigkeit demokratischer Gesellschaften weit überlegen.
Nachdem die Sprach-KI ChatGPT und konkurrierende Tools auf das
Internetanhängsel Mensch losgelassen wurden, wächst unter uns die Angst.
Die Ahnung, dass sich diese künstliche Intelligenz vom Menschen unabhängig
machen und den Homo sapiens im Lauf der Evolution noch überholen könnte,
führt manche Exemplare zu überraschenden Impulsen.
Auch Entwicklungspioniere wie Elon Musk und Steve Wozniak hatten den
offenen Brief für das Moratorium unterschrieben. Der Fortschritt frisst
seine Kinder. Und die Unesco antwortet mit einer Forderung an die Staaten
der Weltgemeinschaft, die Empfehlungen zum ethischen Umgang mit KI endlich
in nationales Recht zu übersetzen.
## Funktioniert Begrenzung?
Der Vater der Atombomben, die im Zweiten Weltkrieg über Hiroshima („Little
Boy“) und Nagasaki („Fat Man“) gezündet wurden, und Leiter des sogenannt…
Manhattan-Projekts war Robert Oppenheimer. Nachdem Oppenheimer die Wirkung
der unter seiner Leitung entwickelten Waffe begriffen hatte, das Ausmaß an
Auslöschung von Leben, soll er US-Präsident Harry Truman gesagt haben, er,
Oppenheimer, habe Blut an seinen Händen. Letzteres galt für ihn wie für
seine Kollegen im Bombenbauercamp. Doch während Oppenheimer zum Gegner der
Atomwaffenforschung wurde, machten seine wissenschaftlichen Mitstreiter
weiter. Der Moment, als die infernalischste Waffe, die die Menschheit
erfunden hatte, in Form eines Atompilzes über Hiroshima sichtbar wurde,
wäre ein Zeitpunkt gewesen, diesen Fortschritt zu stoppen. Aber hat die
Kontrolle, die Begrenzung des Fortschritts je funktioniert? Anfang des 21.
Jahrhundert muss sich die Menschheit auch entscheiden, ob sie dem eigenen
Fortschritt Grenzen weisen kann.
Weder das Einhegen technologischer Entwicklung noch der Abschied von
fossiler Energie stehen in Widerspruch zum Fortschritt. Ohne die
fortwährende Weiterentwicklung von Technologien der klimaneutralen
Energiegewinnung und der CO₂-Reduzierung in der Atmosphäre würde der Kampf
gegen die Klimakrise scheitern. Auf künstlicher Intelligenz ruhen
insbesondere auch die Hoffnungen der Medizin: Die Verarbeitung riesigen
Datenmaterials ermöglicht noch nicht absehbare Verbesserungen der Diagnose,
Behandlung und Forschung. Zur Diskussion steht nicht der Fortschritt an
sich, sondern die Frage, ob Fortschritt nur im Geiste des traditionellen
olympischen Mottos „Schneller, höher, weiter“ (oder seiner seit 2020
gültigen Fassung „Höher, schneller, weiter – gemeinsam“) interpretiert
werden muss.
## Visionär Lafontaine
1985 schrieb Oskar Lafontaine, der ehemalige SPD- und spätere
Linke-Politiker, ein Buch mit dem Titel „Der andere Fortschritt“. Darin
verhandelte er die These, [2][dass Wirtschaft auch ohne Wachstum ein gutes
Leben ermöglichen könne]. „Technischer Fortschritt ist nur bedingt ein
fortgesetzt positiver Prozeß“, hielt Lafontaine fest. Die
Industriegesellschaft sei an ihre Grenzen gestoßen. Zwar habe in den
Industriestaaten Wirtschaft, Wissenschaft und Technik zu gewaltigen
Errungenschaften geführt, doch wögen diese nicht auf, was an Zerstörung
angerichtet und an existenzieller Gefährdung aufgebaut wurde:
Massenarbeitslosigkeit und Armut, Hungertod, Atomtod, Naturzerstörung und
soziale Not.
Damals konnte sich Lafontaines Sicht nicht durchsetzen. Er schien seiner
Zeit voraus zu sein. Heute debattiert die [3][Transformationsforscherin
Maja Göpel] dagegen an, Fortschritt in der ökonomischen Analyse mit
Wachstum gleichzusetzen. Der Mythos vom ständigen Wirtschaftswachstum als
Maxime des Fortschritts schaffe insbesondere eines: Ungleichheit und ein
Leben über unsere Verhältnisse als Menschheit. Damit stellt sie jedoch auch
die Konstante des Kapitalismus infrage, die nach Karl Marx Wachstum und
Profitmaximierung zur Voraussetzung hat.
Für die Annahme, dass der Kapitalismus in den Grenzen der natürlichen
Ressourcen überleben kann, ist noch kein Beweis erbracht. Die Grenzen des
Wachstums hat der Club of Rome 1972 benannt. Die Grenzen des Fortschritts
stehen 50 Jahre später im Mittelpunkt der Debatten.
Der Text ist erschienen im aktuellen Buch „Was kommt. Was geht. Was
bleibt.“ Der Band zum 225. Jubiläum des Verlags Herder versammelt
„Denkanstöße in der Zeitenwende“ von A wie Aktivismus bis Z wie
Zeitenwende.
9 Oct 2023
## LINKS
[1] /Aus-dem-Postwachstumsatlas-von-LMd/!5212954
[2] /Wachstumskritisches-Denken/!5960802
[3] /Klima-Aktivistinnen-treffen-Merkel/!5708797
## AUTOREN
Barbara Junge
## TAGS
Schwerpunkt Klimawandel
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