| # taz.de -- Digitalisierung und Mündigkeit: Die KI ist nicht am Zug | |
| > Vor digitalen Neuerungen können wir uns nicht drücken, wenn wir kommende | |
| > Engpässe überwinden wollen. Das Zauberwort dafür heißt Bildung – wie so | |
| > oft. | |
| Bild: Nicht die bösartige Maschine stellt die unmittelbare Gefahr dar, sondern… | |
| In Frankreich steht vor unbeschränkten Bahnübergängen ein Schild: | |
| „Attention. Un train en peut cacher un autre.“ Sinngemäß: der Zug, auf den | |
| sie achten, könnte den hinter ihm heranrasenden verdecken. Passen Sie auf, | |
| was sich hinter dem Vordergrund abspielt. Auch bei der Diskussion über | |
| sogenannte künstliche Intelligenz ist dieser Rat angebracht. | |
| Seit in diesem Frühjahr Millionen von Menschen mit [1][Chat-GPT] oder GPT | |
| 4, mal mehr, mal weniger ernsthaft gespielt und damit die Leistung des | |
| Systems verbessert haben, wird allenthalben über KI diskutiert. Auf der | |
| einen Seite verheißen die Entwickler eine Gesellschaft mit rationaler | |
| Bürokratie, smarten Städten und märchenhaftem Wachstum. Gleichzeitig warnen | |
| führende Betreiber von „künstlicher Intelligenz“ vor deren Gefahren: | |
| Unkontrolliert könne sie unzählige Menschen überflüssig machen und die Welt | |
| mit Fake News überschwemmen. Ultimative Steigerung: KI könnte die | |
| menschliche Zivilisation auslöschen. Die Entwickler forderten ein | |
| Moratorium – an das sie sich natürlich nicht hielten. | |
| Diese überdrehte Vernichtungsdrohung durch eine fehlfunktionierende oder | |
| gar bösartige Maschine durchzieht, trotz aller technischen Aufklärungen, | |
| nach wie vor die Feuilletons. Selbst seriöse Forscher hüllen sich oft in | |
| Skepsis, wenn sie gefragt werden, ob die Maschinen Selbstbewusstsein | |
| entwickeln können. | |
| Hinter den Märchen von mörderischer Software oder den Warnungen vor | |
| unüberprüfbaren KI-Entscheidungen gerät eine diffuse, aber machtvolle | |
| Entwicklung in den Hintergrund. Nicht eine aus dem Ruder laufende, sondern | |
| ein ganz normal funktionierende Digitalisierung könnte das kommende große | |
| Problem sein: die Vision einer Menschheit, in der die kooperativen [2][und | |
| kreativen Aspekte von Arbeit] in Algorithmen ausgelagert werden. | |
| Eine Menschheit, die mit manipulativem Marketing oder mit Anweisungen aus | |
| dem Zentralkomitee auf Trab gehalten und mit kultureller Billigware | |
| stillgestellt wird; in der Trolle und Fake News die Demokratie zersetzen | |
| und Menschen mit märchenhaftem Reichtum die Lieferketten und die | |
| Sinnfabriken kontrollieren; die Vision von automatisierten Grenzkontrollen | |
| und Technokriegen – diese Gefahren sind jedenfalls weit realistischer als | |
| eine diabolische Killer-KI. | |
| Auch wenn – oder gerade weil – sich das Fenster [3][für eine Zähmung der | |
| von Oligarchien getriebenen Umwälzungen] gerade rasant schließt: Wir können | |
| uns vor einer folgenreichen Diskussion nicht mehr drücken. Zum Beispiel | |
| darüber, wie wir Leben und Zusammenleben organisieren. Wollen wir die Alten | |
| von Robotern pflegen lassen, wollen wir lebendige Lehrer durch | |
| Lernautomaten ersetzen, die Vielfalt des Marktes durch ein paar | |
| planwirtschaftlich organisierte Oligopole planieren lassen? Wollen wir die | |
| Erziehung zur demokratischen Mündigkeit durch digitale Kontrollen à la | |
| Volksrepublik China oder durch die Lernsoftware welcher Multis auch immer | |
| ersetzen lassen? | |
| ## Wir werden Technik brauchen | |
| Auch wenn die Verheißung, dass das Internet Menschheitswissen fast | |
| kostenlos allen zugänglich machen werde, Computer eine rationelle Ökonomie | |
| und eine gerechte Verteilung möglich machen, arg lädiert ist – wir können | |
| auf beides nicht verzichten. Aus der Sackgasse der kapitalistischen | |
| Evolution kommen wir nur mit Algorithmen und menschlicher Intelligenz | |
| heraus. Wir werden Technik, auch die zur Überwachung und Planung, und | |
| automatisierte Prozesse brauchen, um die Engpässe der kommenden Jahrzehnte | |
| zu überwinden, um die Temperaturen und den Schwund von Fauna und Flora zu | |
| bremsen. | |
| Und das heißt auch: Je komplexer und allumfassender die kapitalgetriebene | |
| Technik wird, desto klüger, urteilsfähiger und politisch aktiver müssten | |
| die Menschen werden, wenn wir uns noch als Individuen wiedererkennen wollen | |
| und nicht als Anhängsel von Apps und Algorithmen. Und umso aufgeklärter | |
| müssen Politiker sein, vor allem aber: durchsetzungsstark gegen die | |
| techno-kapitalistischen Oligarchen. | |
| Das Zauberwort heißt Bildung. Auch die vorige große Epochenwende, hin zur | |
| bürgerlichen Gesellschaft und zum industriellen Kapitalismus, ging einher | |
| mit einer Bildungsrevolution. Angesichts einer erneuten Steigerung der | |
| manuellen und intellektuellen Fähigkeiten des Menschen durch ihre | |
| Automatisierung geht es darum, die technische, digitale, historische, | |
| literarische und anthropologische – kurz und knapp: die umfassende | |
| polytechnische und humanistische – Bildung zu steigern, und dazu die | |
| Motivation, die eigenen Leben nicht aus der Hand zu geben, sondern aktiv zu | |
| gestalten. | |
| ## Wo bleibt der Bildungsprotest? | |
| Die Forderung von „Bildung“ und nicht nur von Wissen für alle ist so alt | |
| wie die Neuzeit, aber heute geht es dabei, in den Politsprüchen und bei den | |
| Kapitalliberalen, eigentlich nur um Fachkräfteeinwanderung oder um | |
| „Startchancen“ – also um Rekrutierungshilfen für die Exportwirtschaft und | |
| zwei Lehrer für die schlechtesten 10 Prozent der allgemeinbildenden | |
| Schulen. Ein wirklicher Bildungswumms aber dürfte unter 100 Milliarden Euro | |
| nicht zu haben sein. | |
| Das wäre ein schöner Anfang, aber mehr auch nicht. Um die Bildungsausgaben | |
| um 30 Prozent zu steigern, bräuchte es 50 Milliarden Euro – jedes Jahr. Das | |
| ist nicht viel, es entspräche einer rund einprozentigen Steuer auf die | |
| Nettovermögen der Deutschen: eine Bildungssteuer, damit das Land vermögend | |
| bleibt – und Kinder die Chance haben, zu Bürgern zu werden, auch im | |
| Zeitalter der künstlichen Intelligenz. | |
| Warum das nicht möglich ist, obwohl es doch alle wissen und es | |
| durchargumentiert ist bis zum Abwinken? „Solange nicht jede Woche 10.000 | |
| Eltern und Lehrer in jedem Bundesland vor den Schulministerien | |
| demonstrieren, wird nichts geschehen, aber ich glaube, das würde etwas | |
| ändern.“ Das sagte kürzlich Michel Friedman auf der lit.cologne. Er fügte | |
| hinzu: Solange sie das nicht machen, werfen sie bitte nicht mit Dreck auf | |
| die da oben. | |
| 1 Nov 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Mathias Greffrath | |
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