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# taz.de -- Plaudern im Salon: Waschen, Schneiden, Schnauze halten
> In Berlin kommen Haarschnitte ohne den üblichen Small Talk in Mode. Was
> ist das für eine Welt, in der niemand mehr aus seiner Blase will?
Bild: Waschen, Schneiden, Quatschen
Nicht, dass seit dem schnellen Siegeszug von „Cut an Go“ noch sehr viel
übrig geblieben wäre vom guten, alten Friseur*innenbesuch. Aber dass es nun
auch noch in Friedrichshain, Kreuzberg, Charlottenburg und Prenzlauer Berg
erste Salons gibt, bei denen Besuchende einen „Silent Cut“ buchen können,
um sich nicht einmal mehr während der raschen Wäsche, dem hektischen
Schnitt und Selberföhnen am Schluss kurz übers Wetter, die weltpolitische
Lage oder wenigstens [1][die neue Pony-Frisur von Anne Hathaway]
auszutauschen: Das ist wirklich zu haarsträubend.
Vor allem den Jüngeren muss es wohl kurz erklärt werden: Früher waren
Termine im Friseursalon Wochen vorher zu buchen, für den einfachsten
Haarschnitt ohne Strähnchen, Dauerwelle und ähnliche Scherereien war
mindestens eine Stunde einzurechnen. Manchmal sieht man es noch in alten
Hollywoodfilmen und Vorabendserien, wie Frauen unter der Haubenreihe über
ihre Männer und den Rest der Welt zoteten, während sich Männer bei der
Rasur über ihre Frauen und den Rest der Welt ausließen.
Noch in den Achtzigern gab es vor allem auf dem vermeintlich ereignisarmen
Land viele gutbürgerliche Frauen, die mindestens alle zwei Wochen zum
Friseur gingen. Nie hätten sie daran gedacht, bei ihrem Jour fixe mit der
Friseurin ihres Vertrauens aufs Plaudern zu verzichten.
Natürlich werden es trotz des [2][spontanen Haarschnitts zwischen zwei
Terminen, der heute in der Großstadt gang und gäbe geworden ist], immer
auch teure Friseursalons weiter existieren, wo es zugeht wie vor 100
Jahren: Vielleicht ist das vergleichbar mit der Lust auf Schallplatten
trotz Musikhören auf dem Handy. Trotzdem sollte es bedenklich stimmen, dass
nicht nur die Friseur*innen selbst „Silent Cuts“ wünschen, sondern auch
die Kund*innen.
## Jede*r auf seiner Insel
Denn in den Bezirken, in denen neuerdings Waschen, Schneiden, Schnauze
halten angeboten wird, ziehen tatsächlich zunehmend Menschen zu, die sich
gern panzerartige Autos kaufen und diese am liebsten in ihren Tiefgaragen
mit direktem Aufzug in die Wohnung abstellen. Es ist kein Klischee, dass
sie sich von der Gesellschaft entkoppeln und meinen, auf einer Art eigenen
Insel leben zu können, indem sie etwa das Gespräch mit den
geringverdienenden Erzieher*innen ihrer Kinder, ihren Haushaltshilfen
oder Taxifahrer*innen versuchen zu meiden.
Dabei ist es durchaus möglich, mit Friseur*innen Gespräche zu führen,
die weit über das Wetter, die Weltpolitik oder die neuesten Frisuren aus
Hollywood hinausgehen. Gespräche zum Beispiel, in denen viel über die
Brutalität unserer sozialen Schere zu erfahren ist.
Silence ain’t golden: Was wäre das für eine Welt, in der niemand mehr aus
seiner Blase will?
1 Feb 2023
## LINKS
[1] /Anthologie-Serie-Solos/!5777705
[2] /Die-Wahrheit/!5901252
## AUTOREN
Susanne Messmer
## TAGS
Geringverdiener
Klassengesellschaft
Reichtum
IG
Friseure
Mindestlohn
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