Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: El Schero und sein Ausdünner
> Beim Friseur. Aber nicht im palastähnlichen Salon für die Reichen und
> Schönen. Nein, beim Billig-Coiffeur.
Bild: Exakt um 1,4 Zentimeter sollten die Haare gekürzt werden, so war es vorh…
Mir schwant bereits Übles, als ich meinen Termin beim Kreuzberger
Edelfigaro absagen und mir stattdessen in der fremden Stadt einen anderen
Friseur suchen muss. Termine bekomme ich dort auf die Schnelle natürlich
keine. Zumindest nicht beim Terminfriseur, sondern nur zwei Klassen
drunter, beim Friseur, wo man einfach hingeht, wartet, drankommt. Ein
Friseur ohne Terminvergabe ist wie ein Anwalt ohne Zulassung, irgendwo im
Graubereich zwischen Grundversorgung, Pfusch und Kleinkriminalität.
„Kommen Sie einfach vorbei“, sagt am Telefon der Discountfriseur, „das ge…
dann ratzfatz.“ – „Ratzfatz“ klingt aus dem Mund eines Friseurs wenig
vertrauenerweckend. Auf seiner Homepage steht „Herren ab 11 Euro“ – dafür
dürfte ich bei meinem nicht mal in die Bild der Frau gucken. Elf Euro sind
als Preis für eine Friseurdienstleistung ähnlich suspekt wie ein Kilo
Schweinenacken für 3 Euro 99. Ein unanständiges Angebot, an dem vieles nur
faul sein kann. Wahrscheinlich stammen die Mitarbeiter aus Käfighaltung,
und statt Schere und Kamm gibt es Heckenschneider und Laubbläser, aber ich
habe leider keine Alternative.
Dabei schmerzt mich schon der bloße Gedanke an das zu erwartende Ergebnis
aus dem Gruselkabinett dieses Schweinekastriererschuppens. Was die
Wahl meines Frisiersalons betrifft, bin ich nämlich – das gebe ich durchaus
zu – ein geschmäcklerischer Schnösel. Das ist nun mal mein Spleen. Ich
finde, ein Friseurbesuch nur zur Haarentfernung ist wie Essen nur zum
Sattwerden oder Vögeln nur zum Sackentleeren: menschenfeindliche
Freudlosigkeit, die an Gefängnis, Kirche oder Krankenhaus gemahnt.
## Styling durch Spitzenkräfte
Deshalb lebe ich in diesem Punkt bewusst über meine Verhältnisse und tummle
mich vorzugsweise in einem Preissegment, das sich weit über meinem
sonstigen Konsumniveau befindet. Zum Styling suche ich so stets erlesene
Spitzenkräfte der Coiffeurskunst aus Japan, China und Sevilla auf, die in
einem palastähnlichen Salon im Graefekiez ihr Werk an den dortigen Reichen
und Schönen versehen.
Denn reich und schön möchte ich ebenfalls sein, und sei es auch nur im
Rahmen eines kurzen Aschenputtelausflugs in eine andere, magische Welt. Für
diese faszinierende Illusion bezahle ich gern ein paar Euro mehr. Überdies
versteht man es nur in besagtem Laden meisterhaft, mir diesen neckischen
kleinen Frontwirbel zu verpassen, der mich seit jeher über Stammgrenzen
hinweg bei sämtlichen Vielzellern zum unangefochtenen Schwarm der Damenwelt
stempelt.
„Und? Wie möchten Sie haben?“, fragt mich der Billigfriseur und reißt mich
in seinem Frisierstuhl aus meinen selbstverliebten Träumen. Immerhin fragt
er, da bin ich ja fast schon angenehm überrascht. Ich dachte, der
Hilfsbarbier setzt mir einen Topf auf, zieht unten um den Rand mit
Filzstift eine Linie, haut alles unter der Linie mit der Maschine weg und
alles drüber mit einer Machete.
Ich gebe ihm eine Länge von 1,4 Zentimetern vor, um die ich die Frisur oben
gekürzt haben möchte. Er nickt verständig. Ich beschreibe ihm, wie ich mir
die Seiten wünsche, und er wiederholt, fragt interessiert und kenntnisreich
nach und wiederholt am Ende alles noch einmal. Ich spüre, wir sind ein
Team.
## Zuviel an Betonung
Mutiger geworden schildere ich ihm daraufhin ausführlich, wie ich mir
insgesamt den „Style“, den Cut, den Chic, die Shape, das Arrangement
vorstelle, und erneut nickt er bereitwillig und motiviert, bestärkt mich in
meinem Plan, ehe ich zum wichtigsten Detail komme, dem Sahnehäubchen auf
der Sahneschnitte, jenem einzigartigen Stirnschneckerl nämlich, einem
elegantasmisch nur angedeuteten, höchst sensiblen Konstrukt, bei dessen
Gestaltung jeder Hauch eines Zuviel an Betonung, an Gewolltheit, an
geckenhafter Chuzpe das gesamte Äußere sofort ins abgrundtief Vulgäre
abkippen ließe und das eben noch epochale Sexsymbol mit einem Schlag zur
bizarren Witzfigur degradierte, zu einem Haufen Scheiße mit wirren Flusen
drauf. Ich spreche leise, eindringlich und halte anschließend den Atem an
in Erwartung seiner Reaktion.
Er zuckt nicht mit der Wimper, fühlt sich der kaum standesgemäßen Aufgabe
offenbar dennoch gewachsen. „Wir können die Ausdünnschere nehmen“, sagt er
und zeigt mir ein mit kleinen Zähnen versehenes Spezialscherchen, „damit
können wir das machen, genau so, wie Sie gesagt haben. Wollen Sie?!“
„O ja.“ Ich klatsche in die Hände. Es ist ja längst nicht alles schlecht,
was wenig kostet. Und umgekehrt ist nicht alles, was teuer ist, seinen
Preis auch wert. Das weiß man doch. Wie konnte ich das vergessen? Beruhigt
lehne ich mich zurück.
Er legt die „Ausdünnschere“ beiseite, greift zu einer Art
Schafschermaschine und zieht mir das laut brummende Gerät entschlossen
durch die Kopfwolle. Das stille Lächeln, das dabei auf seinem Gesicht
steht, verrät seine Gedanken. Ausdünnschere, denkt er sicher, nee, schon
klar, der Typ hat echt Humor. Logo, ziehe ich ihm die Haare einzeln mit der
Pinzette raus und trag ihn hinterher mit der Sänfte aus dem Laden. Das
macht dann aber 12 Euro.
27 Dec 2022
## AUTOREN
Uli Hannemann
## TAGS
Friseure
Haare
Billigangebote
Olaf Scholz
Juli Zeh
Geringverdiener
Die Wahrheit
Schwerpunkt Klimawandel
Apotheken
Bargeld
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Schnuppimat mit Soße
Olaf Scholz und andere Zögerer, die uns seelisch vorbereiten auf die
Unbillen unserer Zeit. Anmerkungen zum allgegenwärtigen Zweckpessimismus.
Die Wahrheit: Im Gemüsegarten des Verstands
Abrechnung mit der Dummheit: „Nebenmänner“ von April Schrottwange. Der
Roman aus dem Flachland. Eine Rezension.
Plaudern im Salon: Waschen, Schneiden, Schnauze halten
In Berlin kommen Haarschnitte ohne den üblichen Small Talk in Mode. Was ist
das für eine Welt, in der niemand mehr aus seiner Blase will?
Die Wahrheit: So cringe, der vierte Heilige König
Aufruhr in Bethlehem: Die Geschichte der Bibel muss neu geschrieben werden.
Wurden auch Tiere gecancelt?
Die Wahrheit: Die letzte Mücke des Jahres
Die Klimakrise bietet Killertieren jetzt ganzjährig ein Betätigungsfeld.
Ein erschütternder Schmerzreport.
Die Wahrheit: Wir Kinder von der Zoo-Apotheke
Der Kauf von Nasenspray zieht immer Vorhaltungen am Tresen der Pillendreher
nach sich. Eine dringende Suada.
Die Wahrheit: Bar lacht das Herz
10.000 Euro sind nicht genug! Die geplante Obergrenze für Cash-Zahlungen
ruft diverse systemrelevante Berufe auf den Plan.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.