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# taz.de -- Die Wahrheit: Schnuppimat mit Soße
> Olaf Scholz und andere Zögerer, die uns seelisch vorbereiten auf die
> Unbillen unserer Zeit. Anmerkungen zum allgegenwärtigen Zweckpessimismus.
Bild: Abwarten und irgendwas schlürfen: Olaf Scholz’ bewährte Taktik
Fast überall in Deutschland gehen die Lichter aus. Nur in der Industrie
brennt noch Licht, weil die Arbeitenden sonst nicht sehen, was sie
herstellen, doch unsere tollen Denkmäler werden nun nachts nicht mehr
beleuchtet. Jammerschade.
Ein Ende hat die schöne Zeit, da man bei Einbruch der Dämmerung eine
Thermoskanne mit Hagebuttentee in den Teddyrucksack packte, um sich als
Höhepunkt des Abendspaziergangs vor den angestrahlten Alten Fritz zu
setzen, und dort still zu träumen, zu masturbieren oder ein mitgebrachtes
Butterbrot zu essen. Vorbei.
Doch das ist lediglich eine von zahlreichen Sparmaßnahmen, bei denen die
öffentliche Hand mit gutem Beispiel vorangeht. Denn die Lage bleibe für uns
alle schwierig, steckt Bundeskanzler Scholz schon mal die Erwartungen für
die Zukunft ab.
## Turnhistorische Sammlung
Er meint es ja nur gut. Wir sollen seelisch vorbereitet sein auf Teuerung
und Energieknappheit. Ehrlich heraus, sogar einmal ganz ohne das berühmte
Scholz’sche Zögern, das eines Tages neben dem Brand’schen Kniefall und der
Giffey’schen Rolle Rückwärts in die turnhistorische Sammlung der SPD
eingehen wird. Er weiß ohnehin: Egal, was er sagt – man wird ihm nicht
glauben. Ob er die Situation schlimmer darstellt als sie ist, sie
beschönigt, in den Raum tanzt, oder ganz verschweigt. Schnuppimat mit Soße.
Daher versucht er es hier gleich mit der Wahrheit. Denn je niedriger die
Erwartungen, sollte man eigentlich denken, desto kleiner am Ende die
Enttäuschung, wenn das Schlechte letztlich eintrifft. Gemäß dem Motto: Wir
wissen doch schon Bescheid, was kann uns da noch negativ überraschen?
Aber wappnet dieser Psychotrick uns überhaupt gegen das eintreffende
Ungemach? Scrollt man in den sozialen Medien durch die verheultesten
Jammerforen, wird dort generell das Schlimmste herbeigeunkt und zugleich
dennoch am lautesten gezetert. Vorauseilender Pessimismus scheint vielen
Menschen zwar eine eigenartige destruktive Befriedigung, doch keinen echten
Trost zu bieten. Und trifft die komplette Katastrophe am Ende doch nicht
ein, wird niemals Abbitte geleistet, sondern der Bonus mit einem sinnlos
gezischten, „Ist doch wahr, ey“, wie selbstverständlich mitgenommen.
## Scholz könnte sich ohrfeigen
Na und, dann haben „die blinden Hühner da oben“ eben zufällig mal ein Korn
gefunden – das ist doch nicht ihr Verdienst. Entlastungspakete,
Energiepreisbremse, Flüssiggasterminals? Das hätte auch ein Schimpanse
geschafft, und in einer Diktatur würde das ohnehin besser funktionieren. Da
wäre dann wahrscheinlich gar kein Krieg.
Olaf Scholz könnte sich ohrfeigen: Hätte er doch bloß wieder gezögert und
gar nichts gesagt. Denn jedes Mal, wenn er ausnahmsweise doch mal etwas
anpackt, beschließt oder äußert, geht es durch die Bank fürchterlich
schief, ob Cum-Ex oder G20-Gipfel. Er ist wirklich ein Pechvogel, ein
Tollpatsch sondergleichen, ein sagenhafter König Mierdas, dem alles, was er
anfasst, sofort zu Scheiße gerät.
Deshalb macht er ja normalerweise lieber gar nichts – das kann man voll
verstehen. Schon als Kind war ihm die Entscheidung zwischen Vanille- oder
Erdbeereis zu schwer, und Waffeln wollte er sowieso nicht haben, geschweige
denn an andere Kinder liefern. Dann lieber gar kein Eis.
## Hochgesteckte Erwartungen
Auch mir selbst erspart diese Herangehensweise eine Menge Arbeit. So
schenke ich mir jedes aufwändige Projekt, dessen Erfolg nicht von
vorneherein garantiert ist. Allzu hochgesteckte Erwartungen hätte ich mir
eh nicht abgekauft. Wir sind schlechte Lügner vor uns selbst – kein Wunder,
wenn Lügner und Detektiv im selben Kopf direkt nebeneinander sitzen. Für
mich ist das Glas stets vollkommen leer, es ist nämlich schon vor langer
Zeit zerbrochen.
Was geschieht, geschieht doch so oder so: Die eigenen Erwartungen ändern
nichts daran, denn etwas wie Karma oder Gott existiert eher nicht, und
selbst wenn doch, würde es erst recht machen, was es wollte, und sich nicht
nach unseren Vorstellungen richten. Nur ein vom Gebettel armseliger
Kreaturen absolut unabhängiges Agieren wäre einem höheren Wesen wirklich
angemessen, denn könnten wir bei ihm unser Geschick bestellen wie einen
Espresso, wäre es ja bloß ein Dienstleister.
Eine echte spirituelle Instanz würde uns da schön was husten, und
vermutlich extra das Schlechtestmögliche eintreffen lassen, nur um zu
zeigen, wer hier die Chefin ist. Das Schicksal ist kein Wunschkonzert.
Schon allein deshalb ist man mit Zweckpessimismus auf jeden Fall besser
dran.
14 Mar 2023
## AUTOREN
Uli Hannemann
## TAGS
Olaf Scholz
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Franziska Giffey
Napoleon
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Die Wahrheit
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