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# taz.de -- Die Wahrheit: Engel der Bürokratie
> Besuch bei einer Behörde mit göttlicher Verwaltungskraft in der
> paradiesischen Provinz. Tränenreicher Bericht einer besonderen Begegnung.
Bild: Auf dem Amt sind sonst alle nur Nummern
Auf einer Provinzbehörde muss ich die Kopie eines Schriftstücks beglaubigen
lassen. Es ist ein Erlebnis der anderen Art. Man zieht dort keine
vierstellige Nummer, wie ich es aus der Hauptstadt gewohnt bin, sondern
wartet neben anderen Bittstellern auf einem von vier Stühlen vor der Tür
des Amtszimmers, um nach einer Viertelstunde dranzukommen.
Für mich als Berliner ist das nervlich kaum zu stemmen. In meinem Hals
bildet sich sofort ein dicker Kloß, denn dass die Beamtin nun auch noch
ohne jede Tücke einfach meinem Wunsch nachkommt, ist zu viel für mich. Und
meine Augen werden feucht, als sie aus ihrem reich bestückten
Stempelständer, offenbar nur nach dem Knauf urteilend, fachkundig mehrere
Stempel auswählt und in sorgsam choreografierter Reihenfolge so sanft wie
zielsicher aufs Papier drückt. Dabei strahlt sie die birkenwäldchenhafte
Gechilltheit stillgelegter Bahnhofsgelände aus. Es ist eine Sternstunde der
Bürokratie, und sie ist der Engel.
Womöglich liegt meine Rührung auch an dem Gefühl der Geborgenheit, das der
nostalgische Vorgang in mir auslöst. Es ist eine Mischung aus ASMR-Clip auf
Youtube und Zeitreise. Alles ist wie früher, bevor seelenlose Computer
Stempel und Papier ersetzten. Mutter Staat kümmerte sich aufopferungsvoll
um uns Bürgerbabys, man schlug der Kellnerin auf den Hintern, rauchte im
Krankenhaus und Unionspolitiker verschoben niemals die „Grenzen des
Sagbaren“, weil es schlicht keine gab. Ein warmes Bad in den Wägbarkeiten
der Nachkriegszeit; Ordnung, Verlässlichkeit, Sicherheit, Mondscheintarif,
nach Hause telefonieren. Alles ist so wunderschön. Mit großer Mühe
unterdrücke ich ein Schluchzen.
## Heilige Mission
Das Tun der jungen Frau fasst mich im Innersten an, mit so
leidenschaftlichem Ernst geht sie in ihrer heiligen Mission auf, den
Amtsschimmel zu füttern und zu striegeln. Sie müsste eine leuchtende Krone
aus Aktenordnern tragen und zur Rechten Gottes sitzen, alles andere wäre
eigentlich unnormal. Ich fixiere das Heftgerät auf ihrem Schreibtisch, um
nicht aus tiefster Seele heraus unkontrolliert loszuschreien.
Vielleicht sollte ich an dieser Stelle hinzufügen, dass ich nüchtern bin.
Das ist ja das Komische. Ein derart umfassender und im Nachhinein der
Situation natürlich komplett unangemessener Meltdown stellt sich bei mir
sonst üblicherweise nur in Verbindung mit einem leichten Kater am Morgen
nach dem Gelage ein.
## Leichter Kater
In diesem biochemisch bedingten Schwebezustand autoempathischer
Zerbrechlichkeit muss ich bei der Edeka-Weihnachtsreklame weinen, oder wenn
nach der Ansage „Zurückbleiben“ auf dem U-Bahnsteig „Bitte“ ertönt. A…
auch nur minimal Menschelnde wirkt, ungeachtet jeglicher Kitsch-Alerts,
dann wie ein Lösungsmittel, das mich aufweicht bis hin zur völligen
Zersetzung. Doch es darf immer nur ein leichter Kater sein und keinesfalls
so ein destruktiver Megafetzen, mit Übelkeit, Kopf- und Weltschmerz, als
hätte einem einer ins Hirn geschissen und nicht runtergespült, sonst
funktioniert das nicht. Der Effekt muss sich wenigstens in Teilen noch
konstruktiv anfühlen, so wie man es ja auch oft von anderen Drogen kennt:
also zwar ein paar Antennen, wie zum Beispiel die der Vernunft oder
Selbstbeherrschung, eingefahren, dafür aber andere, oftmals völlig
unbekannte, weit herausgezogen.
Ein ähnliches Phänomen scheinen Frauen während der Schwangerschaft zu
erleben. So erzählte eine Freundin mal, wie ihr wegen der hormonellen
Kapriolen schon die Tränen kamen, wenn sie beobachtete, wie sich zwei
Nachbarn freundlich grüßten. Damit bestätigt sich auch mein lang gehegter
Verdacht, dass besoffen und schwanger praktisch dasselbe ist: erst Rausch
und dann Reue.
Aber ich bin ja nicht einmal verkatert. Als mich die Mitarbeiterin im
Dorfrathaus nun auch noch fragt, ob ich eventuell einen Umschlag haben
wolle für das Papier, und ich sage: „Ja, das wär lieb“ – „lieb“, wo…
ich tatsächlich wie weichgespült –, „falls es regnet“, ist eine weitere
Eskalation kaum mehr zu verhindern. Sie antwortet verständig, „ja, genau,
falls es regnet“, reicht mir gratis eine brandneue Klarsichthülle, und da
brechen mir beim Gedanken an den bald zuverlässig prasselnden Landregen,
der das Vieh tränkt und uns Brot und Früchte schenkt, endgültig alle Dämme.
4 Apr 2023
## AUTOREN
Uli Hannemann
## TAGS
Bürokratie
Behörden
Provinz
Skateboard
Insekten
Napoleon
Die Wahrheit
Olaf Scholz
Juli Zeh
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