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# taz.de -- Die Wahrheit: Rührstück mit blauem Band
> Ächz, stöhn, schwitz! Warum der nun anbrechende Frühling für Mensch und
> Tier eine einzige Zumutung ist.
Bild: Schluss mit Frühlingsgebimmel! Auch tierisch genervte Störche haben es …
Der Lenz ist da. Als wäre ein Schalter umgelegt worden, verdient sich das
Tageslicht auf einmal wieder seinen Namen. Überall im Park singen die
Vögel, sprießen die Büsche, gehen die Leute spazieren.
Doch wer jetzt bloß wieder eines jener besinnungslosen Schmalzrührstücke
erwartet, mit denen die üblichen Verdächtigen – Bänkelsänger, Lyriker und
andere protoesoterische Volksverhetzer – den Frühling kontrafaktisch
propagieren, sei hier eines Wahrhaftigeren belehrt.
Der Frühling ist ein Arschloch.
Nach außen hin spielt er das sanftmütige Kerlchen, ist jedoch eigentlich
ein Diktator, der sein geknechtetes Volk im eisernen Griff seines Lärm-,
Temperatur- und Farbenterrors hält. Kluge und herzensreine Menschen
verachten diese Jahreszeit. Räumen wir einmal Schritt für Schritt mit der
bekloppten Frühlingsgrütze auf.
Ja, warum „singen“ denn die Vögel wohl so laut? Sentimentale Schwachköpfe
wollen uns weismachen, sie „begrüßten“ voller „Freude“ den nahenden
Frühling. „Hört“, quaken diese Halbfaschisten uns ihr Parallelwissen in d…
schmerzenden Ohren: „Wie sie balzen, um dann gemeinsam mit ihren Partnern
ein Nest zu bauen, Eier zu legen und die Jungen großzuziehen. Wie süß!“
## Vollkommen zugedröhnte Natur
Süß am Arsch. Könnten sie deren Sprache verstehen, wüssten sie, dass die
Vögel lautstark abkotzen über die heteronormative Zumutung, zu der sie eine
offenkundig vollkommen zugedröhnte Natur zwingt und die der klassische
Frühlingsdepp à la „Alle Vögel sind schon da“ auch noch verblödet abfei…
Und wie sie das warme Wetter nervt! Die Amseln schwitzen höllisch unter
ihren schwarzen Federn. Kein Vogel, der auch nur halbwegs bei Sinnen ist,
hat Bock darauf, ein Nest zu bauen. Die Schlepperei ist einfach nur
superätzend. Danach dürfen sie im Regen irgendwelche bescheuerten Eier
ausbrüten und bis zum Burn-out brutal hässliche Vogeljunge füttern, die,
statt auch nur einem Wort des Dankes, nonstop piepend wie beim Zahnarzt den
Schnabel aufsperren. Die Eltern denken unablässig an Mord. Viel lieber
wären sie ungebunden, polyamor aktiv und würden irgendwas mit Kunst machen.
Die bloße Aussicht auf das Elend lässt die Vögel in ohnmächtigem Zorn
aufbrüllen. Die wütende Kakofonie der Spatzen spricht Bände. Nicht umsonst
klingt, schließt man die Augen und fühlt sich in den Tenor hinein, das
Tschilpen nur wie ein stakkatoartiges, „Scheiße, Scheiße, Scheiße …“
Die Büsche kotzen natürlich ebenfalls ab. Den Winter über war alles so
wunderbar leicht. Und jetzt? Blätter, Blätter, Blätter! Ächz, stöhn,
schwitz! Bald keuchen sie unter der Last des frischen Grüns, dazu knospt
und wuchert es in ihrem Inneren schier unerträglich. Wie Jugendliche, die
am als beängstigend und sinnlos empfundenen Wachstum der Brüste oder
Barthaare verzweifeln, klagen die Büsche in stummem Schrei eine hämisch
lachende Sonne an, die die Hauptschuld an dem Desaster trägt.
## Wie gehirngewaschene Lemminge
Auch die Menschen sind schlimm dran. Von allen wird erwartet, wie auf
Kommando ganz besonders gut drauf zu sein. Ja, aber warum denn nur, um
Gottes willen? Es gibt nicht den geringsten Grund, eher im Gegenteil. Wenn
uns jemand sagt, „spring vor die Straßenbahn“, tun wir das schließlich au…
nicht. Wenn es hingegen heißt, „geh doch raus, ist doch so schöner
Frühling“, stürmen alle wie gehirngewaschene Lemminge ins Freie.
In Massen laufen sie draußen herum, als ob’s kein Drinnen gäbe. Blöde
grinsen sie mich an, ich fühle mich permanent sexuell belästigt. Das muss
ein alternder cis-Moll-Mann erst mal schaffen, der sich bekanntlich nicht
gerade in den Top Ten der beliebtesten Geschlecht-Alter-Kombinationen
tummelt.
Am übelsten nehme ich dem Frühling im Grunde seine Falschheit. Er stresst
alle mega und hält sich dennoch für den King unter den Jahreszeiten. Dabei
kann er sich für nichts entscheiden. Hier ein bisschen Herbst, da ein wenig
Sommer, und an Ostern schneit es. Was für ein Idiot.
Zwar ist auch der Herbst so eine Mischsaison, aber bei ihm geht es
wenigstens verlässlich bergab. Wie überall und mit allem. Das ist
glaubwürdig. Über die charakterliche Qualität des Winters brauchen wir
ohnehin nicht zu sprechen, und sogar der ehemals nervende Sommer hat sich
mittlerweile ehrlich gemacht und bringt nun vielen wie selbstverständlich
den Hitzetod.
„Der Frühling lügt wie so’n Wessi“, lautet eine Redensart, die sich
zwischen Ostsee und Erzgebirge größter Beliebtheit erfreut. Das mag daran
liegen, dass der Frühling wegen seines Grünfimmels mit den dort so
verhassten Grünen gleichgesetzt wird. Bei denen vermisst man schlicht die
Klarheit, wie sie ja der Winter oder auch die tiefe russische Seele im
Übermaß besitzen sollen.
Apropos. Trotz vernachlässigbarer Ausnahmen wie Erster oder Zweiter
Weltkrieg gilt in unseren Breiten die buchstäbliche Faustregel: Im Frühling
beginnt der Krieg.
21 Mar 2023
## AUTOREN
Uli Hannemann
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