# taz.de -- Entstehung einer ökologischen Klasse: Alte Weltbilder umstülpen | |
> Trotz Alarmsignalen passiert wenig in der Klimakatastrophe. Bruno Latour | |
> und Nikolaj Schultz setzen auf den Begriff der „ökologischen Klasse“. | |
Bild: Klimagipfel: Die indigene Aktivistin, Umweltschützerin und Politikerin S… | |
Kurz vor seinem Tod hat der französische [1][Soziologe und Philosoph Bruno | |
Latour] noch ein schmales Bändchen veröffentlicht. Darin versucht er | |
zusammen mit seinem Co-Autor Nikolaj Schultz, den Begriff der Klasse zu | |
retten. Als „ökologische Klasse“ bezeichnen sie Menschen, die fundamentale | |
Veränderungen zur [2][Rettung der Lebensgrundlagen] für notwendig halten. | |
Allerdings haben diese bisher keine gemeinsamen sozialen Erfahrungen, | |
sondern setzen sich zusammen aus Aktivistinnen, gewöhnlichen Bürgern, | |
Gärtnern, Industriellen, Indigenen und Investoren. Warum die Autoren am | |
Begriff der Klasse unbedingt festhalten wollen, ist nicht plausibel. Auch | |
die Zuschreibung „links“ behalten sie bei und begründen das mit einer | |
„Ablehnung einer Verselbständigung der Wirtschaft auf Kosten der | |
Gesellschaften“. | |
Auf den folgenden Seiten aber finden sich dann doch spannende Gedanken. Die | |
Autoren umkreisen das Paradox, dass seit 40 Jahren die Alarmglocken | |
schrillen, Millionen Menschen durch Dürren und Überschwemmungen bereits | |
ihre Lebensgrundlagen verloren haben und sich die Mehrheit inzwischen | |
unwohl fühlt – und trotzdem so wenig passiert, was die Katastrophe | |
aufhalten kann. „Nichts wird uns retten, und ganz bestimmt nicht die | |
Gefahr.“ | |
## Macht euch die Erde untertan | |
Panik und Lähmung resultierten aus der bisherigen Fortschrittsperspektive: | |
Wo es stets darum ging, sich die Erde untertan zu machen, bedeuten Umwelt- | |
und Ressourcenschutz Freiheitsverlust und Einschränkungen. Doch die | |
realistische und von immer mehr Menschen wahrgenommene Perspektive ist: | |
Die Menschheit ist völlig abhängig vom Planeten. | |
„Auf einmal ist die Natur kein Opfer mehr, das es zu schützen gilt; sie | |
besitzt uns.“ Die Welt, in und von der wir leben, ist der Rahmen, in dem | |
Emanzipation künftig stattfinden muss. Das ist das Gegenteil der von | |
Rousseau beschriebenen Einhegung, bei der Leute einfach Flächen einzäunen | |
und behaupten, der Boden gehöre nun ihnen. Nur die Einsicht, dass wir | |
völlig von der Erde abhängen, kann heute neue Perspektiven und | |
Gestaltungsräume eröffnen. | |
Viele dominierende Vorstellungen müssen umgestülpt werden. Indigene, die | |
als „Wilde“ und „unzivilisiert“ diffamiert wurden, wissen tatsächlich … | |
mehr von einer zukunftsfähigen Lebensweise als die von Naturwissenschaften | |
geprägten, modernen Ausbeutungskulturen. Die Jugend repräsentiert nicht | |
mehr die Zukunft des Produktionssystems, die archaische Techniken | |
überwindet. Vielmehr betrachten sie die Alten und ganz besonders die | |
Babyboomer als „verwöhnte und unreife Teenis“, die die Zukunft im Voraus | |
verschlungen haben. | |
Noch sind solche Positionen in den wirtschaftlichen und politischen | |
Machtstrukturen marginalisiert, die durch Bürokratie und staatliche | |
Strukturen stabilisiert werden. „Keine Beamtin, kein Abgeordneter vermag | |
anzugeben, wie der Wechsel von Wachstum – und dessen damit einhergehenden | |
Elendsformen – zur Prosperität … gelingen kann.“ Klagen und Proteste in | |
diese Richtung gehen also ins Leere. | |
## Den Machtanspruch infrage stellen | |
Zugleich stellen viele Vertreter*innen marginalisierter Gruppen | |
Machtansprüche per se infrage – schließlich haben sie zu den fatalen | |
Entwicklungen geführt, wodurch die Menschheit heute am Abgrund steht. | |
Demgegenüber fordern die Autoren, dass die „ökologische Klasse“ | |
Institutionen und Funktionen auf allen Ebenen durchdringt und dabei durch | |
vielfältige Vernetzung die Transformation in Richtung Dezentralität, | |
situativer Angepasstheit und vielfältiger und komplexer Bezogenheit | |
vorantreiben. | |
„Es gibt Zeiten, in denen die Versuchung groß ist, sich der Verzweiflung | |
hinzugeben“, räumen die Autoren in ihrem Nachwort ein und verweisen darauf, | |
dass der Krieg gegen die Ukraine wesentlich stärkere Leidenschaften | |
hervorruft als die unbarmherzige Zerstörung der Biosphäre. Doch zugleich | |
gehen sie davon aus, dass die meisten Menschen in ihrem tiefsten Inneren | |
begriffen haben, dass die alte Weltordnung am Ende ist. „Man muss bereit | |
sein, jede unerwartete Gelegenheit beim Schopfe zu packen“, so das | |
Plädoyer. | |
Das Büchlein bezeichnet sich selbst als Memorandum und ist ein durchaus | |
inspirierender Beitrag zu den vielfältigen Suchbewegungen in Richtung | |
Transformation. Die Thesen, die längst nicht alle überzeugend und stringent | |
sind, regen im Kopf der Leserin Auseinandersetzungen mit den eigenen | |
Positionen an – und das ist nicht wenig. | |
21 Jan 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Nachruf-auf-Bruno-Latour/!5883777 | |
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## AUTOREN | |
Annette Jensen | |
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