# taz.de -- Nachruf auf Bruno Latour: Das Recht der Dinge | |
> „Wir sind Erdlinge, nicht Menschen“ – sagte der Philosoph und | |
> Wissenssoziologe Bruno Latour. Nun ist er mit 75 Jahren gestorben. | |
Bild: Bruno Latour | |
„Der berühmteste und der am wenigsten verstandene französische Philosoph“, | |
so nannte ihn einmal der New Yorker. Als bekannt wurde, dass in der Nacht | |
auf den 9. 10. der französische Soziologe und Philosoph Bruno Latour | |
gestorben war, explodierte das Internet vor [1][Kommentaren und | |
Trauer-Posts]. | |
Berühmt war Latour auf jeden Fall, einmal wurde er sogar zum meistzitierten | |
Philosophen der akademischen Welt gekürt. Seine Bücher waren Bestseller in | |
über 20 Ländern. In einer Welt, in der es Pop-Philosophen auf der einen und | |
eine verschlossene akademische Welt auf der anderen Seite gibt, war Bruno | |
Latour eine Ausnahme: Er war beides zugleich, öffentlicher Intellektueller | |
und Fachgelehrter. | |
Nein, „unverstanden“ war Bruno Latour nicht. Neben [2][Judith Butler] gab | |
es in den letzten 40 Jahren kaum einen Philosophen, dessen Werk so tief auf | |
die kollektive Vorstellung dessen einwirkte, was der Mensch, was die Welt | |
und was Wissen ist – und wie alles miteinander zusammenhängt. | |
Latours frühe und radikale Kritik technischen Machbarkeits- und | |
Fortschrittsglaubens, seine späteren Aufrufe für eine Hinwendung zum | |
„Terrestrischen“, als Alternative zur neoliberalen Globalisierung genauso | |
wie zur nationalistischen Abschottung: Sie haben eine ganze Generation | |
geprägt. Nach dem Tod von [3][Pierre Bourdieu] gab es keinen anderen | |
Soziologen, dessen Ideen ich so unterschiedslos an besetzten Flughäfen, auf | |
Biobauernhöfen, in Theatersälen oder Ausstellungen, akademischen und | |
aktivistischen Kongressen antraf. | |
## Ein Generalist, auf allen Gebieten aktiv | |
„Ich betrachte mich als Philosophen, auch wenn es die Philosophen nicht | |
tun“, sagte mir Latour einmal ironisch. Er war ein Generalist, auf allen | |
Gebieten aktiv. Im halben Jahrhundert seiner Karriere beschäftigte sich | |
Latour, geboren 1947, mit schlichtweg allem: Recht, Technik, Religion, | |
Mythen der Moderne und natürlich Ökologie. Latour hat dem | |
Milchsäurebakterium genauso seine Aufmerksamkeit geschenkt wie einer neuen | |
Metrolinie. Der Coronapandemie wie der oft verspotteten | |
[4][Gaia-Hypothese], der Flüchtlingspolitik genauso wie Kafka. | |
Seine „Unverständlichkeit“ lag vor allem in der Zertrümmerung aller | |
modernen, oft auch linken Denkverbote. In seiner in den 70er und 80er | |
Jahren entwickelten „Soziologie der Assoziationen“ verflüchtige sich der | |
zentrale Gegenstand seiner Disziplin (die menschliche Gesellschaft) nicht | |
nur in Foucaultsche „Diskurse“, sondern wurde gleich [5][ganz zugunsten von | |
Objekt-Subjekt-„Assemblagen“ aufgegeben.] | |
Verglichen mit Latours Ansatz schienen postmoderne Bemühungen zur | |
Zerstörung des Subjektbegriffs geradezu zaghaft. In seinem Erstling | |
„Laboratory Life“ (1979) bezeichnete er die Beschränkung der Soziologie auf | |
menschliche Akteure als „moderne Selbsttäuschung“. Das Ozonloch, eine | |
Bodenschwelle, eine Kuh, ein Schlüsselanhänger oder ein Kühlschrank wurden | |
in seinen wissenssoziologischen Schriften zu gleichberechtigten sozialen | |
„Aktanten“. | |
Neben dem kurzen, prägnanten „Terrestrischen Manifest“ (2018) ist Latours | |
epochaler Essay „Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen | |
Anthropologie“ (1995) wohl am wirkmächtigsten geworden. Darin kam seine | |
Soziologie kurz nach dem Fall der Berliner Mauer zu sich selbst: Sie | |
erhielt eine moralische und politische Konsequenz. | |
## Ein „Parlament der Dinge“ | |
Im letzten Kapitel des „Versuchs“ fordert Latour ein „Parlament der Dinge… | |
eine politische Ökologie, einen Übergang von der modernen Doktrin der | |
Naturbeherrschung zu einer Doktrin der Partizipation aller an der | |
Demokratie, auch der „Ding-Kulturen“: „Wir haben keine Wahl. Wenn wir nic… | |
in ein anderes gemeinsames Haus ziehen, werden wir die anderen Kulturen, | |
die wir nicht mehr beherrschen können, nicht darin unterbringen.“ | |
Was bleibt von Bruno Latour, der – unseren Planeten in all seiner | |
Komplexität beschreibend – selbst einen Planeten an Wissen, Querverweisen, | |
Ideen geschaffen hat? Im Anschluss die fünf zentralen Punkte der | |
Latourschen Wissensrevolution für eine Welt, die zwischen Fake-News und | |
Aktivismus, Überinformiertheit und Handlungsunfähigkeit gefangen ist. | |
Eins: Die Wahrheit ist immer relativ. Latours Erstling „Laboratory Life“ | |
ist, wie so oft in wissenschaftlichen Karrieren, sein radikalstes Buch. | |
Nach einem Forschungsaufenthalt an der Elfenbeinküste kehrt der junge | |
Anthropologe nach Europa zurück und richtet seinen analytischen Blick auf | |
das Herz des europäisch-imperialen Wissens: auf das Labor, auf die | |
sogenannte „wissenschaftliche“ Wahrheit. Wobei die Wahrheit nicht relativ | |
an sich ist, sondern relativ in Bezug auf die Beziehungen, in denen sie | |
auftaucht. | |
Wer sucht wonach, mit welcher Reputation, mit welcher Förderung und in | |
welchen Netzwerken? Auf einen Schlag pulverisiert Latour das, was spätere | |
Theoretiker „Herrschaftswissen“ nennen werden. | |
## Erdlinge, keine Menschen | |
Zwei: Das Reale ernst nehmen. Verglichen mit Latours wissenssoziologischen | |
Klassikern – nach „Laboratory Life“ sollte er noch zu vielen weiteren | |
Forschungseinrichtungen, Krankheiten und technisch-zivilisatorischen | |
Großkomplexen schreiben – wirkt die heutige Institutionskritik oft | |
ideologisch: alles nur Macht, alles nur Konstruktion! Aber auch Latour | |
selbst kämpfte gegen den Vorwurf, ein typisch postmoderner „Post-Truth | |
Philosopher“ zu sein. | |
Dabei war seine Botschaft radikal realistisch: Das Verschwinden der | |
„objektiven“ Wahrheit macht Platz für eine viel komplexere kulturelle und | |
ökologische Untersuchung des Planeten. Der Blick richtet sich auf das | |
„Netzwerk“, in dem Tatsachen entstehen, nicht mehr nur auf die Tatsachen | |
selbst. Womit der Mensch sichtbar wird als genauso abhängiges wie | |
verletzliches, in der Biosphäre ausgesetztes Wesen. | |
Drei: Wir sind Erdlinge, nicht Menschen. Eine Konsequenz aus Latours | |
relationalem und materialistischem Wirklichkeitsverständnis ist die Idee | |
der Endlichkeit. Das Fortschrittsprojekt der Aufklärung stützte sich statt | |
auf die verfügbare auf eine virtuelle Vielzahl von Erden. Dem setzt Latours | |
Soziologie eine radikale Immanenz entgegen: „We are locked in“, wie er | |
einmal sagte, die Zone des Lebens ist dünn und lokal. Nach Hunderten von | |
Jahren, in denen sich der Mensch als extraterrestrisches Wesen verstand, | |
müssen wir wieder „landen“, im Hier und Jetzt. | |
Vier: Wir alle sind wie Trump. Die Postmoderne – und Latour selbst – hat | |
uns mit der Idee der Relativität aller Wahrheit eine gefährliche Erbschaft | |
hinterlassen. Denn die Waffe des Skeptizismus sollte sich spätestens im | |
Zeitalter des Rechtspopulismus gegen die Aufklärung selbst wenden.Die | |
Herrschaftskritik wurde zur Waffe der Herrschenden – und richtete sich | |
gegen den Planeten insgesamt. Oder wie Donald Trump es einmal ausdrückte, | |
als ihm jemand die Fakten zum Klimawandel vorlegte: „Das ist Ihre Meinung, | |
lassen Sie mich meine haben.“ Das Problem ist nur: Wir alle sind wie Trump. | |
Man muss den Klimawandel nicht leugnen, um weiterhin ein „abstraktes“ Leben | |
zu führen, das in keiner Weise der kommenden Katastrophe entspricht. | |
Fünf: Seien wir radikal. „Nach hundert Jahren Sozialismus, der sich auf die | |
Umverteilung der Gewinne der Wirtschaft beschränkte, ist es an der Zeit, | |
einen Sozialismus zu erfinden, der die Produktion als solche in Frage | |
stellt“, schrieb Latour während des Lockdowns. Im letzten Buch, das von ihm | |
ins Deutsche übersetzt wurde („Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown“) | |
erklärt er Gregor Samsa – Kafkas Figur, die in einen Käfer verwandelt wird | |
– zum Helden unserer Zeit: Der Anti-Elon-Musk, der finale Erdling, | |
eingeschlossen im Lokalen, gezwungen, mit seiner Kreatürlichkeit | |
fertigzuwerden. | |
Ich traf Bruno Latour über die Jahre vielleicht fünf oder sechs Mal, ab und | |
zu telefonierten wir. Mit der „General Assembly“ versuchten mein Team und | |
ich, sein „Parlament der Dinge“ 2017 in die Realität zu übersetzen: | |
Abgeordnete der Bienen, der Ozeane, des Klimas, der Waffen- und | |
Autoindustrie debattierten mit Diplomaten, Politikern, Aktivisten. Auch | |
unsere „School of Resistance“ ging auf eine von Latours Ideen zurück: Ein | |
Gegennetzwerk globaler Aktivisten, Bauern, Anwälte und Wissenschaftler zu | |
schaffen, eine alternative Globalisierung des widerständigen Wissens. | |
Als ich letztes Mal in Paris war, in der Hektik des Nach-Covid, vergaß ich, | |
Latour zu treffen, obwohl mir die Schwere seiner Krankheit bewusst war. Das | |
bedauere ich nun sehr. | |
[6][Milo Rau, Leiter des belgischen Stadttheaters NTGent]. Zuletzt von ihm | |
erschien: „Theatre is Democracy in Small“, EPO Publishers 2022 | |
10 Oct 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Franzoesischer-Philosoph-und-Soziologe-wurde-75/!5886616 | |
[2] /30-Jahre-Judith-Butlers-Gender-Trouble/!5664165 | |
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[5] /Wissenschaft-und-Forschung/!5886614 | |
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## AUTOREN | |
Milo Rau | |
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