# taz.de -- 30 Jahre Judith Butlers „Gender Trouble“: Gewissheiten in Frage… | |
> Das Werk gab entscheidende Impulse für die Weiterentwicklung des | |
> Feminismus. Der Kampf um die Deutungshoheit dauert bis heute an. | |
Bild: Judith Butler bei einem Vortrag, 2018 in Barcelona | |
Als „Gender Trouble“ in Deutschland einschlug, war ich 21 Jahre alt und | |
studierte gerade Philosophie in Berlin. Für uns in der Lesegruppe war | |
„Gender Trouble“ mit seinen vielen philosophischen Bezügen nur schwer zu | |
verstehen, ein richtiger Brocken, aber total faszinierend. Mühsam | |
klamüserten wir zusammen, dass diese Judith Butler, von der wir noch nie | |
zuvor etwas gehört hatten, den [1][Feminismus] auf die Füße stellen wollte, | |
indem sie die vielen frauenpolitischen Diskussionen um den weiblichen | |
Körper für nicht so wichtig erklärte. Biologie – so what? Hetero als Norm, | |
pffffff. | |
Nicht die Natur, auch nicht das angeborene Geschlecht bestimme schließlich | |
den Status einer Person, sondern kulturell variable Zuschreibungen. | |
Entscheidend sei das kulturelle Geschlecht, gender, und das sei nur lose | |
mit dem biologischen verbunden. Gleichzeitig bestimmen vor allem die | |
Geschichten, die über das natürliche Geschlecht erzählt werden, die | |
allgemeinen Vorstellungen von Natur. Diese Überlegungen hatten es in sich. | |
Man wurde nicht einfach als Mädchen oder Junge geboren? Das brach mit fast | |
allem, was unsere Eltern uns bislang beigebracht hatten. Ernst nach und | |
nach lernten wir Gender zu buchstabieren. | |
Dass das Biologische vom Kulturellen zu trennen ist, verband sich mit der | |
nicht weniger aufreizenden Idee, dass jeder Mensch das kulturelle | |
Geschlecht ständig neu aufführen und unter Beweis stellen müsste, ob mit | |
der Stimmlage, der Kleidung, dem Hüftschwung, Augenaufschlag oder was auch | |
immer. Erst wenn die Performance des gewollten oder zugeschriebenen | |
Geschlechts gelingt, wenn sie also ins Bild und in den Kontext passt, | |
verleiht sie ihrer Träger*in Autorität. Geht sie schief, macht sich die | |
Person lächerlich. In jedem Fall gilt: It’s the culture, stupid! Und Kultur | |
ist immer eine Konstruktion. Also veränderlich. | |
Natürlich hatte [2][Simone de Beauvoir schon 50 Jahre] zuvor erklärt, dass | |
niemand als Frau geboren, sondern erst zu ihr gemacht werde. Doch Butler | |
ging weiter und konzentrierte sich auf Menschen, die sich selbst als queer | |
bezeichneten. Nicht mehr der Gegensatz zwischen Mann und Frau galt ihr als | |
die zentrale Achse der Macht. Vielmehr stellt sie den Unterschied zwischen | |
Selbst- und Fremdbestimmung aller Geschlechter in den Mittelpunkt ihrer | |
Überlegungen. | |
Heute sprechen informierte Kreise von non-binary und das deutsche | |
Verfassungsgericht entschied vor ein paar Jahren, dass die Festlegung | |
allein auf die Kategorien „Frau“ und „Mann“ herabwürdigend ist. Es mü… | |
auf jeden Fall eine dritte Option geben. „Gender Trouble“ kann als | |
Nährboden für diese Überlegungen verstanden werden. Davon ahnten wir damals | |
nichts. Uns begeisterte etwas anderes. Wenn es bei sozialen Machtfragen vor | |
allem um die kulturelle Konstruktion von Geschlecht geht, dann war da | |
wieder Luft für Veränderung. Denn Kultur ist ja nie in Stein gemeißelt. Das | |
gab uns Hoffnung. | |
## Sofortige Gegenwehr | |
Unsere Freude teilten viele, aber längst nicht alle. Die großen | |
Gegenspieler in der etablierten Philosophie, die Hegelianer oder | |
Habermasianer, nahmen Dekonstruktions- und Performance-Theorien ohnehin nur | |
in den Mund, um sie sofort auf die Müllhalde der philosophischen Irrtümer | |
zu spucken. Und dann kommt auch noch diese Lesbe und Feministin daher. | |
Unerhört! Aber auch viele Frauenrechtlerinnen traten sofort nach Erscheinen | |
von „Gender Trouble“ wütend auf den Plan. Was für ein amerikanischer Unfu… | |
dieses Gerede vom kulturellen Geschlecht, das sich so oder anders aufführen | |
lasse! Weder biologisch, soziologisch noch feministisch sei das ordentlich | |
gedacht. Menschen, so ihr Argument, werden mit einem männlichen oder | |
weiblichen Geschlecht in soziale Verhältnisse hineingeboren, da kommt man | |
mit Kostümierungen als queer oder trans (inter war damals noch kein Thema) | |
nicht raus. Performance? Das Leben ist doch keine Theaterbühne. | |
Doch warum sonst tragen Richter*innen Roben, Ärzt*innen Kittel und | |
Banker*innen Anzüge? Sie gliedern sich damit in eine Tradition ihres | |
Berufsstands ein, wiederholen Rituale und verschaffen sich so Ansehen in | |
einem Berufsstand, noch ganz unabhängig von ihrem jeweiligen individuellen | |
Handeln. Ähnliches gilt für Kleiderordnungen, die das Geschlecht | |
sicherstellen sollen. Dass die Performance von Identitäten den Alltag jedes | |
Menschen bestimmt, war damals einfach noch kein eingeübter Gedankengang. | |
Die Aufregung in feministischen Kreisen war groß, und es öffneten sich | |
tiefe Gräben. | |
Butler reagierte auf die Kritik mit einem zweiten Buch „Körper von | |
Gewicht“. In diesem widersprach sie dem Eindruck, dass ihre Theorie | |
biologische Körper in ihrer Bedeutung für Kultur auslöschen wolle. | |
Natürlich spielten sie eine Rolle, wenn auch nicht die wichtigste: „Bodies | |
matter.“ | |
## Inklusiv und progressiv | |
Im Kern geht es immer um die Deutungshoheit darüber, was Feminismus | |
ausmacht. Wer sind die zentralen Akteur*innen, wer kann sich emanzipieren, | |
wer sollte befreit werden? In der Zweiten Frauenbewegung (grob gesagt von | |
1945–1990) machten weiße, heterosexuelle Frauen, die von Männern | |
unterdrückt wurden, das Epizentrum des Feminismus aus. „Gender Trouble“ | |
hingegen rief Frauen* als das Subjekt des Feminismus aus, besser noch alle | |
diskriminierten Geschlechter, die sich dagegen wehren. Damit konnten auch | |
Männer* Feministen sein. Heute ist das weithin anerkannt. Als der ehemalige | |
US-amerikanische Barack Obama sich als Feminist bezeichnete, kam niemand | |
auf die Idee, dieses Bekenntnis als Angriff auf Frauen* oder Gleichstellung | |
zu verstehen. Doch vor 30 Jahren bedeutete die Forderung, feministische | |
Kämpfe auch für Männer* zu öffnen, für viele einen Verrat an | |
frauenpolitischen Idealen. Penis und Feminismus, das könne nicht gut gehen. | |
Butler griff diese Gewissheit an. | |
Wenn heute in feministischen Kreisen über Sinn und Unsinn vom | |
[3][intersektionalem Feminismus mit ähnlicher Härte gestritten wird], | |
wiederholt sich vieles aus der Diskussion von damals. Wieder geht es um die | |
Frage: Wer macht das Herz des Feminismus aus? Ist es die „normale Frau“, | |
die weiße, nicht offensichtlich behinderte Frau, mal hetera, mal lesbisch? | |
Oder sollte Feminismus sich für die Vielheiten und Verschiedenheiten der | |
Lebenswelt öffnen und Gleichberechtigung und Selbstbestimmung für alle | |
Geschlechter fordern, unabhängig von zugeschriebener Hautfarbe, Kultur und | |
möglichen Be/hinderungen? Ich denke Letzteres. Feminismus darf Ausschlüsse | |
und Marginalisierungen nicht wiederholen, nur weil sie allgemein | |
gesellschaftlich anerkannt sind. Erst die Inklusivität erlaubt ein | |
progressives Denken und Handeln. | |
Judith Butler ist heute 63 Jahre alt und wohl die berühmteste lebende | |
Philosoph*in der Welt. Seit 27 Jahren lehrt sie Komparatistik in Berkeley | |
und füllt international Hallen, egal wo sie vorträgt. | |
Dass sie Anfang der 1990er Jahre von ihren Kollegen belächelt und von | |
zahllosen Feministinnen in Europa angefeindet wurde, ist kaum noch | |
vorstellbar. Das von Butler mit Wucht in feministische Debatten | |
eingebrachte Konzept „Gender“ hat sich von ihr emanzipiert und bewegt sich | |
längst unabhängig von Diskussionen an der Uni durch die Alltagssprache. Im | |
Alltag allerdings sorgt gender oft noch immer für Verwirrung. Feminismus | |
dreht sich doch um Frauen, oder? Nein, nicht nur. In aller erster Linie | |
streitet Feminismus für die Gleichberechtigung aller Geschlechter und also | |
für eine Kultur der Gewaltfreiheit. Happy Birthday, Gender Trouble! | |
28 Feb 2020 | |
## LINKS | |
[1] /!t5008172/ | |
[2] /Simone-de-Beauvoir-und-Feminismus/!5609524 | |
[3] /Intersektionaler-Feminismus/!5533294 | |
## AUTOREN | |
Ines Kappert | |
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