# taz.de -- Roman „Die Unzertrennlichen“: Eine Geschichte über Freundschaft | |
> Posthum erscheint ein Roman der französischen Schriftstellerin Simone de | |
> Beauvoir. Eine leidenschaftliche Erzählung über die Rebellion junger | |
> Frauen. | |
Bild: (Zaza und Simone in Gagnepan im September 1928 – links (unten sitzend) … | |
Wie unendlich weit der Weg war von der strenggläubigen braven „Tochter aus | |
gutem Hause“ zur Philosophin, Vordenkerin der Frauenbewegung, Autorin von | |
„Sie kam und blieb“ und „Das andere Geschlecht“, dokumentiert einmal me… | |
„Die Unzertrennlichen“, ein soeben auf Deutsch erschienener Roman aus dem | |
Nachlass von Simone de Beauvoir. | |
Das Manuskript entstand in den Jahren 1954/55, gleich nachdem die | |
Schriftstellerin für „Die Mandarins von Paris“, ihren Schlüsselroman über | |
die Pariser Intellektuellenszene der Nachkriegszeit, mit dem | |
hochangesehenen Prix Goncourt ausgezeichnet worden war. Nachdem Jean‑Paul | |
Sartre es gelesen hatte, riet er von einer Veröffentlichung ab. | |
Als Kind, im Alter von fünf Jahren, wurde die kleine Simone de Beauvoir von | |
ihren gutbürgerlichen, konservativen Eltern in ein katholisches | |
Mädcheninternat gesteckt. In der vierten Klasse nahm eine Neue, Elizabeth | |
Lacoin, genannt Zaza, neben ihr Platz. „Sie kam mir sofort wie eine | |
Persönlichkeit von Bedeutung vor. Ich war erstaunt, wie sie mit den | |
Lehrerinnen sprach. Alles, was sie sagte, war interessant oder amüsant“, | |
erinnerte sich Beauvoir in ihren Memoiren. Sie war fasziniert von dem | |
lebhaften, kapriziösen Mädchen. | |
## „Ich kann nicht mehr leben ohne Sie“ | |
Die intelligente, musikalisch begabte Mitschülerin verdrängte Simone bald | |
in fast allen Fächern von ihrem Platz als Klassenbeste. Trotzdem waren die | |
beiden Kinder unzertrennlich, und als Zaza verspätet aus den Ferien | |
zurückkam, spürte Simone, dass sie „ohne sie nicht mehr leben kann“. Die | |
beiden werden bis zu Zazas Lebensende mit nur 21 Jahren eng befreundet | |
bleiben. Der plötzliche, frühe Tod der Freundin bedeutete für die angehende | |
Autorin einen traumatischen Verlust, mit dem sie sich mehrfach literarisch | |
auseinandersetzen sollte. | |
In dem kurzen Roman – Simone de Beauvoir selbst bezeichnete ihn als lange | |
Novelle –, der als Manuskript keinen Titel trug und von der Herausgeberin | |
treffend „Die Unzertrennlichen“ genannt wurde, berichtet die Icherzählerin | |
Sylvie/Simone von der Verwandlung ihrer abgöttisch geliebten | |
Kindheitsfreundin Zaza Lacoin, im Roman Andrée Gallard, in eine wider | |
Willen angepasste, von religiösen Gewissensfragen gequälte junge Frau. Als | |
drittes von sieben Kindern – in der Realität waren es neun! – war sie | |
weniger behütet aufgewachsen als Sylvie, die nur zwei Schwestern hatte. | |
Mit fünfzehn aber nahm dieses scheinbare Gewährenlassen ein abruptes Ende. | |
Während der Ferien auf einem der Landsitze der schwerreichen, | |
klassenbewussten Gallards beobachtete Sylvie, wie unerbittlich die Freundin | |
von dieser Familie traditionell militanter Katholiken in ihre künftige | |
Rolle als Frau und Mutter in einer arrangierten Ehe gedrängt wurde. Weil | |
die Mutter des Nachbarsjungen, in den sich Andrée verliebt hatte, Jüdin | |
war, kam eine Verbindung nicht in Frage, und die Liebesgeschichte wurde von | |
Madame Gallard brutal beendet. | |
## Ihr Zuhause war wie ein bewachtes Gefängnis | |
In ihrer Verzweiflung war Andrée nahe daran, sich umzubringen, fügte sich | |
am Ende aber doch ihrer über alles geliebten Mutter. „Ich hatte Andrée oft | |
um ihre Freiheit beneidet, plötzlich erschien sie mir viel weniger frei als | |
ich. Da war diese Vergangenheit hinter ihr; um sie herum dieses große Haus, | |
die riesige Familie: ein Gefängnis, dessen Ausgänge sorgsam bewacht | |
wurden.“ | |
Und Sylvie ist froh, dass sie selbst aufgehört hat, an Gott zu glauben, und | |
fast dankbar, dass die prekäre Situation ihres Vaters, der nach dem Krieg | |
sein Vermögen verloren hatte, sie in ihrem immer stärker werdenden Drang | |
nach Emanzipation unterstützte: Ohne Mitgift, musste sie studieren, einen | |
Beruf erlernen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. | |
Obwohl Andrée nun volljährig war, wiederholte sich das Drama sechs Jahre | |
später, als zwischen ihr und einem Studienfreund, Pascal Blondel, eine | |
Liebesbeziehung entstand. Da der ebenfalls gläubige Katholik Pascal (hinter | |
dem sich nur wenig verschlüsselt der spätere Philosoph Maurice | |
Merleau‑Ponty verbirgt) aus „Angst vor Versuchung und Sünde“ und aus | |
Rücksicht auf seine alleinstehende Mutter eine Verlobung vorläufig | |
ablehnte, sollte Andrée ihn auf Wunsch ihrer Familie aufgeben. Kurz darauf | |
starb sie innerhalb weniger Tage, offiziell an Enzephalitis, in | |
Wirklichkeit erdrückt von den Zwängen ihrer Klasse. | |
In den letzten Sätzen ihrer „Memoiren einer Tochter aus gutem Hause“ | |
resümierte Simone de Beauvoir/Sylvie ihre Freundschaft mit Andrée/Zaza: | |
„Zusammen hatten wir gegen das empörende Schicksal angekämpft, das uns | |
erwartete, und lange habe ich geglaubt, ich hätte meine Freiheit mit ihrem | |
Tod erkauft.“ | |
## Leidenschaftlich und tragisch | |
Daraus klingen unüberhörbar Schuldgefühle. Beauvoir hatte da gerade | |
Jean‑Paul Sartre kennengelernt und vernachlässigte die Freundin zugunsten | |
der neuen geistigen Abenteuer, die ihr die Aussicht auf ein | |
selbstbestimmtes Leben und ein eigenständiges Werk an der Seite des | |
künftigen Philosophen der Freiheit zu eröffnen begannen. | |
Die kaum fiktionalisierte Geschichte ihrer ersten großen Liebe hatte Simone | |
de Beauvoir schon zwanzig Jahre zuvor in „Marcelle, Chantal, Lisa … Ein | |
Roman in Erzählungen“ und 1958 im ersten Band ihrer Memoiren teilweise | |
wörtlich übereinstimmend thematisiert. In einem Zeitungsinterview verriet | |
die Beauvoir-Rechte-Erbin und Herausgeberin Sylvie Le Bon nun, dass sich im | |
Nachlass noch drei weitere unveröffentlichte Manuskripte zu diesem Thema | |
befänden. | |
Wenn man im Anhang des Buches nun einige sehr schöne Fotos der | |
Unzertrennlichen von 1929, Zazas Todesjahr, betrachtet – zwei junge Frauen | |
im damals modischen Stil, ärmellose Kleider, kurze Haare –, fällt die | |
Diskrepanz auf zwischen der damaligen Befreiung aus der jahrtausendealten | |
verhüllenden weiblichen Kleiderordnung und der Tatsache, dass die | |
gesellschaftliche, juristische, psychologische Emanzipation der Frauen noch | |
Jahrzehnte auf sich warten lassen würde. Simone de Beauvoir wird mit ihrem | |
Grundlagenwerk zur Geschichte und zur sozialen Situation der Frau, „Das | |
andere Geschlecht“ von 1949, erheblich dazu beitragen. | |
14 Nov 2021 | |
## AUTOREN | |
Uli Aumüller | |
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