| # taz.de -- Milo Rau, Aktivist und Künstler: Eine Oper für die Multitude | |
| > Regisseur Milo Rau ist Lieblingsfeind des konservativen Feuilletons. In | |
| > Antwerpen inszenierte er gerade Mozart, 2024 leitet er die Wiener | |
| > Festwochen. | |
| Bild: Die Menge in Aktion: Milo Raus Mozart-Inszenierung im belgischen Antwerpen | |
| Ein Treffen mit Milo Rau an einem sonnigen, spätsommerlichen Montagmorgen | |
| in Antwerpen. Den Abend zuvor hatte seine Interpretation der Mozart-Oper | |
| „La clemenza di Tito“ in der Vlaamse Opera Antwerpen Premiere. Danach | |
| Standing Ovations für den Schweizer Regisseur – Balsam für einen zeitweise | |
| schwer Gescholtenen. Denn was die einen lieben, scheint für die anderen | |
| kaum erträglich. | |
| Der konservative Teil des Feuilletons reduziert den 1977 geborenen Autor, | |
| Film-, Theater- und Opernregisseur Rau gerne auf einen linken Aktivisten, | |
| einen politischen Provokateur mit begrenztem künstlerischen Durchblick. So | |
| attestierte FAZ-Kritiker Simon Strauss ihm im Mai „PR-Strategien wie ein | |
| Spitzenpolitiker“. Spitzenpolitiker und Politiker im Allgemeinen gelten im | |
| neokonservativen Kritiker-Milieu als eher mindere Gattung schmutzig | |
| handelnder Akteure. | |
| „Im Theater gewesen, sich schuldig gefühlt“, so lautet die Überschrift von | |
| Strauss’ Artikel. Sie unterstellt, von Inszenierungen wie Milo Raus | |
| „Antigone im Amazonas“ moralisch belehrt und um den ästhetischen Genuss | |
| gebracht zu werden. Ein sich wiederholendes Behauptungsschema. Wer wie Rau | |
| und [1][sein belgisches Ensemble in Gent mit brasilianischer | |
| Landlosenbewegung (MST)] und indigenen Darstellerinnen zusammenarbeitet, | |
| muss links-dogmatisch, populistisch und eindimensional sein. | |
| Die Brechungen Raus durch eine avantgardistische Bühnenästhetik? | |
| Nebensächlich. Der Schweizer Regisseur arbeitet mit Fragmenten des | |
| Dokumentarischen, recherchiert, versucht Marginalisierte und deren | |
| Positionen in den Kanon einzubringen, aber mit künstlerischer Distanz, | |
| Verfremdung und Spiel. Wie ideologisch ist, wer dies unterschlägt? | |
| ## Die Relevanz von Kunst | |
| Jan Brachmann urteilte (ebenfalls in der FAZ) anlässlich Raus Genfer | |
| Erst-Inszenierung von „La clemenza di Tito“ 2021 noch eine Spur roher: „D… | |
| Schweizer Soziologe und Krisengebietsreporter Milo Rau macht seit knapp | |
| zwei Jahrzehnten auch Theater, weil ihm – dem Analysten unserer aktuellen | |
| Ökonomie der Aufmerksamkeit – nicht entgangen ist, dass die Kunst immer | |
| noch höhere Renditen abwirft als die Publizistik. | |
| Nun hat er am Grand Théâtre in Genf mit Wolfgang Amadé Mozarts letztem | |
| Bühnenwerk La clemenza di Tito erstmals eine Oper inszeniert, was das Genre | |
| insofern ehrt, als sich Rau damit noch einmal einen Hinguckerzuwachs und | |
| einen Empörungsprofit verspricht. Denn mit der vielbeschworenen Relevanz | |
| von Kunst verhält es sich doch im Grunde so: Sie wächst nicht durch | |
| Aktualisierung und Politisierung, vielmehr ist sie schon da und lässt sich | |
| zur Verstärkung von Agitation und Selbstdarstellung nutzen.“ | |
| Vorurteile wie aus dem Tagebuch eines ästhetisierenden Konterrevolutionärs. | |
| Brachmann behauptet, die Relevanz von Kunst sei per se „schon da“. Relevanz | |
| qua Relevanz. Milo Rau kein Künstler, sondern ein verkleideter „Soziologe | |
| und Krisenkriegsreporter“ auf der Jagd nach „Empörungsprofit“ und „hö… | |
| Renditen“. | |
| Doch zum Verdruss dieser Kritiker wurde Rau zwischenzeitlich auch noch zum | |
| künstlerischen Leiter der Wiener Festwochen berufen. In Österreich | |
| verantwortet er das Programm des renommierten Kunstfestivals ab 2024. | |
| Parallel beendet er nun seine Intendanz [2][am Nationaltheater Gent.] So | |
| richtig scheint die Gatekeeper-Funktion der konservativen Kritik nicht zu | |
| funktionieren. Dennoch bleibt die Frontstellung bemerkenswert. | |
| ## Nach der Dekonstruktion | |
| Raus neues Volkstheater kommt gerade bei Jüngeren gut an. Auch weil er auf | |
| den erhobenen Zeigefinger in den Inszenierungen weitgehend verzichtet, sich | |
| hinterfragt und die Entwicklungen der letzten Jahre ästhetisch reflektiert. | |
| In seinem aktuell bei Rowohlt aufgelegten Buch „Die Rückeroberung der | |
| Zukunft“ schreibt er, wie ihn das Schauspielhaus Zürich unter der Intendanz | |
| von Stefanie Carp und Christoph Marthaler Anfang 2000 faszinierte. „Da | |
| wüteten Schlingensief, [3][Marthaler, die Jungs vom Golden Pudel Club und | |
| so].“ Sie konfrontierten mit neuen performativen Praxen, antiautoritären | |
| Haltungen, explizit für ein klassenübergreifendes Publikum. | |
| Die Zeit ungebrochen dargebotener großer Erzählungen schien endgültig | |
| vorbei. In Ost-Berlin hatte die Volksbühne nach dem Mauerfall westliche | |
| Pop- und Subkultur oder auch französische Theorien ins Haus geholt. Ihr | |
| Hausherr, Frank Castorf, machte den Einsatz von Videokameras und | |
| Liveprojektionen für die Bühne selbstverständlich und verdeutlichte so auch | |
| ein gebrochenes Verständnis von Kunst und Wahrnehmung. Die Aura des | |
| Authentischen, sie schien jetzt noch lächerlicher als zuvor. | |
| Die 1990er und 2000er waren die Jahre der Dekonstruktion. „Dekonstruktion, | |
| das war die einzige Aufgabe meiner intellektuellen Generation“, schreibt | |
| Rau in seinem Buch. Doch, so stellt er retrospektiv fest, war damit auch | |
| „in den Neunzigern, als ich zur Schule ging, die Arbeit getan.“ [4][Etwas | |
| Neues musste entstehen.] | |
| Der Philosoph und Vordenker [5][der italienischen Autonomia], Antonio | |
| Negri, trat Anfang der 2000er Jahre vor Massenpublikum im Züricher | |
| Schauspielhaus oder der Berliner Volksbühne auf. Er sprach von der | |
| Multitude, „Singularitäten, die gemeinsam handeln“. Intellektuelle wie Rau | |
| loteten deren Potenzialität für die Bühnen aus. Seither sind viele Theater- | |
| und Opernvorhänge auf- und niedergegangen, manche ganz abgenommen worden. | |
| In einigen Institutionen haben sich Hierarchien, Themen und Repräsentanzen | |
| merkbar geändert. In anderen nicht. Der mittelalte weiße Mann Milo Rau ist | |
| sicherlich nicht der Einzige, der an der „Rückeroberung der Zukunft“ | |
| arbeitet, methodisch jedoch einer der interessantesten. | |
| ## Anleihen beim Situationismus | |
| Sinnbildlich für sein künstlerisches Arbeiten an der Multitude mag der | |
| Prolog, die Auftaktszene von „La clemenza di Tito“ in der Oper Antwerpen | |
| stehen. Während aus dem Orchestergraben Töne vom Einstimmen der Instrumente | |
| erklingen, sich der Saal langsam mit Publikum füllt, schlendern Menschen in | |
| Alltagskleidung, Bademänteln, Trainingsanzügen, teils ausgestattet wie | |
| Securitypersonal mit Leuchtwesten, über die Bühne. | |
| Sie schlürfen Sekt, stehen rum, unterhalten sich, bestaunen Fotografien und | |
| Malereien des Bühnendekors. Im Vordergrund am Bühnenrand eine Staffelei – | |
| es könnte sich auch um die Eröffnung einer Kunstausstellung handeln. Die | |
| Bühnenausstattung wird den ganzen Abend zwischen höfisch-feudalem Ambiente, | |
| Trailerpark-Trash und städtischer Gegenwart hin und her mäandern. | |
| In einem der Akte stellen die Bühnenflaneure ein Gemälde von Eugène | |
| Delacroix nach. „Die Freiheit führt das Volk“ von 1830. Es ist das berühm… | |
| Werk auf dem die barbusige, „weiße“ Marianne mit der Tricolore in der Hand | |
| den bewaffneten Jakobinern über tote Soldaten hinweg voranstürmt. | |
| Auf der Opernbühne überführt Rau das Motiv des Gemäldes in eine | |
| Menschenskulptur der Jetztzeit. Im Zentrum dieses Reenactments mit | |
| Verfremdungseffekt steht nun ein „schwarzer“ Darsteller mit pathetisch | |
| entblöstem Oberkörper. Statt französischer Tricolore hält er einen Ast in | |
| die Höhe, daran ein orange-roter Fetzen aus Papier- oder Plastikmüll. | |
| ## Laien und Profis | |
| Neben dem ganzen schönen Luxus, mit glänzend ausgebildeten | |
| Opernsolist:innen, Techniker:innen, Ausstatterinnen und Musiker:innen | |
| arbeiten zu dürfen, hat Rau auch in Antwerpen wieder einer Schar von | |
| Laiendarstellern um sich versammelt. Sorgsam gecastet, wie Rau im Gespräch | |
| betont. Amateure und Profis sind bei den Proben fünf Wochen zusammen – dass | |
| sie sich gegenseitig im Rahmen einer solchen Inszenierung etwas geben | |
| können, ist nicht voraussetzungslos. | |
| „Demografisch und sozial gesehen“, so Rau, sollen sie zudem, „möglichst | |
| umfassend die Antwerpener Stadtgesellschaft runtergebrochen auf 18 Leute | |
| abbilden.“ Die Oper soll mit der Stadtgesellschaft kommunizieren. | |
| „Kunst ist Macht“ steht im Hintergrund des Bühnenraums groß auf einer | |
| herabhängenden Leinwand gepinselt. Und Macht ist Kunst sagt Rau, der solche | |
| Widersprüche liebt und sich auch auf die historische Avantgardebewegung des | |
| Situationismus bezieht. Doch Raus Interpretation von Mozarts „La clemenza | |
| di Tito“ („Die Milde des Titus“) zielt vor allem auf das, was Herbert | |
| Marcuse 1965 mit dem Begriff der „repressiven Toleranz“ bezeichnete. | |
| Die von Titus als Herrscher praktizierte Toleranz diene einzig und allein | |
| dessen Machterhalt, so Rau. In seinen Augen setzte Mozart die | |
| Kompositionskunst 1791 vor allem dafür ein, der Revolution in Frankreich zu | |
| schaden. | |
| Eine ziemlich harsche Kritik und Auslegung Mozarts. „La clemenza di Tito“ | |
| war damals zwar eine Auftragsarbeit für den Habsburger-Herrscher Leopold | |
| II. Der Erzherzog von Österreich, Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, war | |
| aber auch als Aufklärer und Befürworter einer möglichen konstitutionellen | |
| Monarchie bekannt. | |
| ## Kein Naturalismus | |
| Doch zu solch strittigen Feinheiten dringen Raus Kritiker oft gar nicht | |
| vor. Sie reiben sich an den partizipativen Momenten der Inszenierungen. Wie | |
| etwa Anna Kardos in der NZZ am Sonntag diesen September. Unter der | |
| Überschrift „Theatraler Elendstourismus“ wendet sie sich gegen Raus | |
| Versuche, mit Bewegungen wie dem brasilianischen MST, [6][Flüchtlingen in | |
| Italien] oder [7][irakischen Kurden in Mossul künstlerisch] zu kooperieren. | |
| „Fakt ist,“ schreibt Kardos, „wer in Milo Raus Inszenierungen mitwirkt, | |
| steht unter Einsatz seiner echten Biografie auf der Bühne, damit ein | |
| Regisseur seinem aufmerksamkeitsheischenden Beruf nachgehen kann. Das Leben | |
| der anderen wird zum Material für Milo Raus Kunstprodukt.“ | |
| Wie die eingangs zitierten Kollegen von der FAZ will sie Laien und | |
| Aktivist:innen auf der Bühne nicht als vollwertigen Teil einer | |
| künstlerischen Inszenierung begreifen. Dem Regisseur gehe es nur um „seine | |
| eigene Profilierung“. | |
| Rau lässt in Antwerpen gegen Ende der Aufführung die | |
| Laiendarsteller:innen einzeln hervortreten. Eine Opernsolistin stellt | |
| sie singend, spielerisch überhöht und biografisch fragmentarisch vor. Es | |
| sind sehr unterschiedliche „Singularitäten, die gemeinsam handeln“, eine | |
| angedeutete Multitude, von der Negri spricht. Ohne Raus Bestehen auf eine | |
| sichtbare Individualität, eine Solidarität in Differenz, könnte die | |
| Behauptung leicht ins Totalitäre kippen. Raus Gegner missdeuten sie als | |
| naturalistische Geste. | |
| „Profitiert nicht auch Milo Rau von den Biografien seiner | |
| Laiendarsteller?“, raunt Kardos in der NZZ. „Nutzt er ihre Welt nicht für | |
| seine eigene Profilierung?“ Doch mit solch billigem Verdachtsgeschwurbel | |
| bringt man einen ästhetischen Rebellen und Herz-Jesu-Marxisten wie Milo Rau | |
| nicht zur Strecke. | |
| Transparenzhinweis: Die Recherche wurde von der Vlaamse Opera Antwerpen | |
| unterstützt | |
| 1 Oct 2023 | |
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| Andreas Fanizadeh | |
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