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# taz.de -- Wiener Festwochen: "Ich krieg den Tresor nicht auf"
> Christoph Marthaler mit "Riesenbutzbach" und Schorsch Kamerun mit "Bei
> aller Vorsicht" auf den Wiener Festwochen. Zwei von Musik und
> antiautoritärer Sprache geleitete Regisseure.
Bild: Schorsch Kamerun: Moralische Antiinstanz zum Bohlen-Populismus
Wanderer, trittst du in Wien auf den Balkon und schaust auf grüne Hügel in
der Ferne, dann, ja dann hörst du mit großer Wahrscheinlichkeit den Ruf
einer Krähe (oder ists ein Raabe?): "Krahkrah". Es rauscht so sicher aus
der Luft heran wie das Zischen vorbeifahrender Autos von der Erde. Vogel-
und Motorengeräusche gehören zu den strukturierenden Klangelementen in
Christoph Marthalers Revue "Riesenbutzbach". Es ist eine der großen und
gefeierten Produktionen auf den Wiener Festwochen. Eine kleinere ist
Schorsch Kameruns "Überprüfungsspaziergang" durchs Wiener Praterviertel.
Für Marthaler hat die Theaterdirektorin der Festwochen, Stefanie Carp, die
Texte geschrieben und Dramaturgie geführt. Den Punkmusiker Schorsch Kamerun
hat sie einst für die Bühne entdeckt und dort von Hamburg über Zürich den
Weg geebnet. Marthalers System greift von der klassischen Musik und
Bildungsfülle auf die aktuellen Stoffe zu und zertrümmert sie. Kamerun
inszeniert sich aus den unteren Sprachen des Pop und Punkrock ans Theater
heran, der vierte Stand sozusagen. Zwei sehr verschiedene Ausgangslagen,
vereint jedoch durch musisches und antiautoritäres Prinzip,
Kleinbürgerschmäh, organisiert um die Carpsche Rhetorik einer
aktualisierten Nach-68er-Kapitalismuskritik.
Beide sind für ihre Szenen exponierte Figuren, rufen Fans wie Neider auf
den Plan: Marthaler, der zur Weltelite der Theatermacher gehört, sich aber
dem klassischen Habitus verweigert, was zusammen mit der mitunter furiosen
Dogmatik seiner Chefdramaturgin Carp dazu führt, dass er wie in Zürich als
Intendant eine ganze Stadt zum Köcheln bringt, ohne selber je ein lautes
Wort zu sagen. Und wie gesagt Kamerun, der Emporkömmling, der Mann von der
norddeutschen Küste, Kfz-Lehre, Punkdandy, massentauglich und moralische
Antiinstanz zum Bohlen-Populismus.
Ein solches Spektrum trifft auf natürliche Feinde, aber auch Bewunderer von
höchster Ebene. Nun lobte auch der Theaterkritiker der FAZ Marthalers
Wiener Inszenierung plötzlich in den höchsten Tönen. Ein Missverständnis?
"Bin ich in der Mitte oder schon unten, muss ich mich verschrotten," sagt
Ueli Jäggi an einer Stelle der Marthaler-Inszenierung. Das konservative
Feuilleton, es verlangt derzeit nach kapitalkritischen Studien (und lässt
sich von Ex-Spex-Chefredakteuren in Metallica-Konzerte einführen). Das
scheint dem Marthalerschen Kosmos der soziokulturellen Vermischung und
Bastardisierung nahezukommen, wenn auch die Intention ein Aneignungs- und
weniger ein Aufhebungsdiskurs ist.
Marthalers Inszenierungsweise ist lustig und unterhaltend - "Ich krieg den
Tresor nicht auf" -, harmlos ist sie nicht. Sie ist frei und assoziativ,
eine ständige Mischung aus Abstraktion und Konkretion, räumlichen,
soziologischen und musischen Denken. Man kann der
sprachlich-grammatikalischen Ordnung folgen oder sich stärker
poetisch-musisch durch den Abend gleiten lassen. "Merde", schimpft ein
Darsteller (Marc Bodnar) auf Französisch, bei Bettina Stucky klingt das
abrupt und ins Publikum gesprochen so: "Spinnst eigentlich!" Raphael Clamer
verheddert sich in Kabeln, sagt nichts, ist aber als Sicherheitstechniker
dauernd präsent. Lars Rudolph spielt sehr speziell auf seiner Trompete usw.
Das Einzelne gehört zu einer fein abgestimmten Komposition. Überlassen
bleibt einem dabei selbst, wie ernst oder eben ironisch man die
finanzkritische Krisenrhetorik nehmen will.
Marthaler arbeitet mit klaren Pointen, Entgegensetzungen und einem
mehrdeutig ineinander verschränktem System. "Ich habe im Traume geweinet" -
nicht alles ist Parodie, aber auch nichts darf nach falscher Erhabenheit
klingen. Kein Gag, kein Lied, keine Romantik, keine Szene wird bis zum Ende
ausgespielt. Stattdessen: brechen und überdehnen, Ernst mit Satire
kombinieren.
Marthalers Ensemble - geführt in den musischen Teilen von Tenor Christoph
Homberger, den Keybordern Jürg Kienberger, Clemens Sienknecht und dem
Pianisten Bendix Dethleffsen - muss dauernd und abrupt die Genres wechseln.
Schubert oder Beethoven, Bee-Gees oder Volkslieder. Das Ensemble aus
perfekt aufeinander abgestimmten Einzel- und Charakterdarstellern ist seit
der Vertreibung aus Zürich ohne feste Spielstätte. Es gelingt ihm aber
scheinbar mühelos, sich an improvisierten Orten (in Wien in den Filmstudios
auf den Rosenhügeln) neu auf- und einzurichten. Entscheidenden Anteil daran
hat Marthalers langjährige Bühnenbildnerin Anna Viebrock. Diesmal hat sie
ein "Riesenbutzbach" auf die Bühne gebaut, drei Garagen, begehbare
Schränke, gläserne Treppenaufgänge, Ladenkontor im Hintergrund, Balkone,
Straßenlaternen, Fragmente des normalen kleinstädtischen Lebens. In Wien
variieren Marthaler und Viebrock so bereits früher erprobte Systeme. Der
Wechsel der Garagenmusik von "Stayin alive" (Bee-Gees) zu Fidelio (Ludwig
van Beethoven) deutet musisch die Weite des Marthalerschen Kosmos an. "O
welche Lust, in freier Luft den Atem leicht zu heben!", intonieren Chöre
aus Garagen und mit einem Gesangsmeister in Tracht aus dem rückwärtigen
Kontor, man muss es hören und sehen. "Riesenbutzbach" gastiert im Juni in
Neapel, im Juli in Athen und Avignon, später in Warschau, Chur und Tokio,
aber nicht in Deutschland. Hier fand sich kein Koproduzent für die neuste
Inszenierung dieses seit Jahren erfolgreichsten deutschsprachigen
Theatermachers. "Ich bin doch nicht schuld, das Geld ist schuld", möchte
man einen Satz Bernhard Landaus aufgreifen, des Sparkassenangestellten in
der Inszenierung.
Mit wesentlich bescheideneren Mitteln als Marthaler musste Kamerun bei
seiner Revue "Bei aller Vorsicht" auskommen. Auf ein Bühnenbild im
klassischen Sinne verzichtet er weitgehend, inszeniert wird auch hier
außerhalb klassischer Spielstätten im "Haus der Begegnung" in der Wiener
Leopoldstadt. Kamerun hat "Die Politik der Angst" im Visier, Überwachung,
Ausländerfeindlichkeit & Co und steckt beim Straßenumzug, dem zweiten Akt
der Inszenierung auf der Straße, selber in einem Iphone-Kostüm: "Yeah, wie
findet ihr das - das ist ein Hilfeschrei und kein Klingelton."
"Hallo ich bin Schorsch Kamerun aus Deutschland", hatte er das Stück im
Saal eröffnet. Direkte Ansprache wie schrille Überdrehtheit sind
Markenzeichen des Punksängers auf der Bühne. Kameruns Wiener Inszenierung
muss zu guten Teilen der deutsche (Star-)Schauspieler Fabian Hinrichs im
Alleingang stemmen. Unterstützt wird er lediglich von Theaterstatisten in
der Rolle des Securitypersonals und diversen Audiodigitaltechnikerinnen der
Festwochen.
"Was bewegt mich, was sind meine Wünsche und Ziele … schließe deine Augen."
Hinrichs spielt den esoterischen Einflüsterer, den käuflichen Versteher
sehr charmant. "Schauen Sie jetzt ihren Nachbarn tief in die Augen und
sagen Sie: Du siehst gut aus!" Das Festwochenpublikum schließt tatsächlich
die Augen und antwortet im Chor.
Wunderbar ist auch das Kammerorchester, neben Hinrichs auf der Bühne
postiert. Die neoklassisch-experimentelle Musik Carl Oesterhelts erweist
sich als ästhetische Klammer der gesamten Inszenierung und ist gelungenes
Gegenstück zum Populärtrash ("Ozzy Osbourne hat einmal gesagt, nur weil ich
Paranoia habe, heißt das nicht, das ich verfolgt werde").
Doch im Unterschied zu Marthaler scheint Kameruns Methode noch
verfeinerungsbedürftig. Die rohe und grobe Gesellschaftskritik hatte in
Wien etwas zu sehr Moralisierendes und blieb vom künstlerischen Sprechen
oftmals abgesprengt.
25 May 2009
## AUTOREN
Andreas Fanizadeh
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