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# taz.de -- „Anna Bolena“ an der Deutschen Oper: Zerbrechliche Königinnen
> „Anna Bolena“ ist True-Crime aus dem 19. Jahrhundert. Hochkarätige
> Sänger:innen machen die Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin
> sehenswert.
Bild: Nebenbuhlerinnen: Vasilisa Berzhanskaya und Federica Lombardi in „Anna …
Dann lichtet sich das Gewusel der Nebenfiguren, nur noch Protagonistin und
Antagonistin sind übrig. Das Duett zwischen [1][Anne Boleyn] und ihrer
Nebenbuhlerin Jane Seymour ist einer dieser Momente in der Oper, an denen
sich emotionale Spannung entlädt. In dem politischen Spiel, das beide
Frauen in „Anna Bolena“ spielen, ist die eine der Untergang der anderen.
Und doch verzeihen sie einander. Dann schiebt das Schicksal sie weiter:
Anne zum Schafott, Jane in eine toxische Ehe.
Wer als Solistin bei diesem Duett einfach auf der gleichen Intensität
durchbulldozert, verliert das Publikum. Nicht so [2][Federica Lombardi als
Anne] und Vasilisa Berzhanskaya als Jane in der Deutschen Oper Berlin.
Lombardi schwingt glasklar und scheinbar mühelos hin und her zwischen dem
verletzlich-leisen Ton einer betrogenen Frau und den geschmetterten Höhen
einer empörten Königin. Berzhanskaya schöpft die Wärme ihres Mezzoklangs
aus und spielt gekonnt mit dem stimmlichen Kontrast. Dirigent Enrique
Mazzola häkelt derweil das Orchester mit spitzen Fingern durchs filigrane
Gefühlsgewebe. Könnte das Duett doch ewig dauern! Nein, auch Primadonnen
brauchen Pausen.
Die Deutsche Oper hat in dieser Spielzeit „Anna Bolena“ als Inszenierung
der Oper Zürich von 2021 übernommen. Gaetano Donizettis Oper um die
todgeweihte englische Königin ist „True Crime“ aus dem frühen 19.
Jahrhundert. Das damalige Publikum war heiß auf die Ränkespiele lang
verstorbener König:innen, und so landete Donizetti 1830 in Mailand mit dem
Stück den größten Überraschungserfolg seiner Karriere. Schon im Jahr drauf
startet die Oper in London und Paris. Ein royaler Justizskandal, ehrgeizige
Frauen, ein tyrannischer König? Certo, Yes please, Absolument, riefen
Adlige wie Bürgerliche in Europas Metropolen.
Donizetti gilt als Meister musikalischer Dramatik, er baute feinste
Gefühlsnuancen in seine Musik ein. Das passte in eine Zeit, in der das
Interesse an Kriminalität und Psyche wuchs. Opernfiguren zerbrachen
neuerdings vor den Augen des Publikums: zweifelten laut, verzweifelten
leise – und verloren immer öfter den Verstand.
Premiere trotz Husten
Für die Singenden heißt das: Leistungssport. Schnelle Wechsel zwischen soft
und kraftvoll, hochgefährliche Sprünge nach oben. Diesem technisch so
kniffligen Stück stellt sich in Berlin eine Riege hochkarätiger
Solist:innen: neben Lombardi und Berzhanskaya noch der Bass Riccardo Fassi
als Tyrann Henry VIII. und Tenor René Barbera als Annes Jugendliebe Percy.
Barbera, am Premierenabend mitten in einer Viruserkrankung, hustet sich
standhaft durch die Arien und soll fairerweise außerhalb jeder Bewertung
stehen.
Aber auch Lombardi als „Anna“, hat zu kämpfen. Gleich zu Beginn packt die
Sopranistin einige höhere Töne „mit Kraft“, anstatt sie souverän „komm…
lassen“. Das kann bedeuten, dass sie stimmlich keinen guten Tag hat – und
im Finale ins Schlingern geraten könnte. Dennoch ist die musikalische
Qualität im Laufe der nächsten drei Stunden exquisit. Schwächen weist
hingegen die [3][Inszenierung von David Alden] auf.
Unter visuellen Gimmicks werden die Figuren förmlich begraben, im
Bühnenwirrwarr fehlen Fokuspunkte. Verschlimmert wird die überladene Optik
von grellem Stadionlicht, das von unten die Bühne flutet. Schlagschatten
liegen quer über Gesichtern, deren Mimik man lesen möchte. Nach jedem Blick
auf die Übertitel ist das Auge verloren. Das ist anstrengend und sabotiert
die Story. Dasselbe gilt fürs Kostüm: Vasilia Berzhanskaya, die 30 Jahre
alt ist, steckt in derart unschmeichelhaften und ältlichen Outfits, dass
die junge Geliebte des Königs von Weitem aussieht wie seine Patentante.
Intime Wahnsinnsszene
Schließlich kommt der Moment der Wahrheit: die Finalszene. Als „hardcore
singing“ hat die Weltklasse-Sopranistin Diana Damrau sie mal bezeichnet.
Alleingelassen von Volk und Orchester verzweifelt Anne im Kerker, die
Königin ist plötzlich ein ängstliches Kind. Federica Lombardi meistert
diese intime Wahnsinnsszene mit Bravour. Verletzlichkeit und Noblesse
mischt sie, keinen Konsonanten verschludert sie, kein sotto voce gehauchter
Ton entgleitet ihr.
Als aber dieser Moment durchgestanden ist verlangt der Komponist, dass sie
als nächstes ein fulminantes Fortissimo in den Saal schmettert. So etwas
bringt jede Stimme an ihre Grenzen. Da kann alles schiefgehen, auch für
eine Top-Sopranistin wie Lombardi. Tut es dann auch. Lombardi verpatzt
einen der letzten hohen Töne. Das Charlottenburger Publikum zeigt Größe –
und feiert sie trotzdem.
20 Dec 2023
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## AUTOREN
Peter Weissenburger
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