| # taz.de -- Oper „Carmen“ auf 360-Grad-Bühne: Gehobenes Schwofen | |
| > Die 360-Grad-Raumbühne Antipolis im Staatstheater Kassel ist | |
| > beeindruckend und macht eine Operninszenierung von „Carmen“ zum | |
| > Sensationserfolg. | |
| Bild: Tatsächlich immersiv: die 360-Grad-Theaterbühne in Kassel | |
| Mit dem Prädikat „immersiv“ schmücken sich ambitionierte Kunstanstrengung… | |
| heute fast schon zwanghaft. Oft bleibt das Versprechen allerdings | |
| marktgängige, weil politisch gewollte Behauptung, die Subventionen sichert. | |
| Da insbesondere ritualisierte Kulturtechniken wie Konzert oder Theater der | |
| Durchlässigkeit eher zu widersprechen scheinen. Dabei ist im Theater die | |
| Idee der fürs Immersive gemachten Raumbühne schon etwa 100 Jahre alt. | |
| Wirklich durchsetzen konnte sich das Prinzip nie, aber immer mal wieder | |
| wird das Gegenmodell der klassischen Guckkastenbühne neu erdacht und in | |
| unterschiedlichsten Formen wiederbelebt. | |
| Die Chancen liegen auf der Hand: Eine Raumbühne ermöglicht unmittelbare | |
| Nähe zum Bühnengeschehen und liefert durch die gewollten Einblicke in den | |
| Maschinenraum des Theaters und das Making-of einen erhellenden | |
| Verfremdungseffekt quasi gratis mit. | |
| ## Widerständige Namen | |
| Ein Faible für die Raumbühne hat der [1][Kasseler Staatstheater-Intendant | |
| Florian Lutz]. Bereits an der Oper Halle, seiner vorherigen Wirkungsstätte, | |
| ließ er seinen Stamm-Bühnenbildner Sebastian Hannak eine erste Raumbühne | |
| installieren, die auf den schönen, widerständigen Namen „Heterotopia“ | |
| hörte. Das Experiment stieß vor Ort nicht nur auf Wohlwollen, kassierte | |
| aber prompt den „Faust“-Theaterpreis. | |
| In Halle folgte darauf die erweiterte Variante „Babylon“. Am Staatstheater | |
| Kassel wuchtete Hannak dann die dritte Raumbühne namens „Pandaemonium“ – | |
| ein hübsches Wortspiel mitten in der Pandemie – in den ungleich größeren | |
| Theaterraum. Die Installation wurde mit Alban Bergs „Wozzeck“ eingeweiht | |
| und diente zudem als Kulisse für zahlreiche weitere Produktionen. | |
| Erneut gab es einen Preis, diesmal den Deutschen Bühnenbildpreis „Opus“ | |
| 2023. Seit Oktober ist in Kassel nun „Antipolis“ – die Anti-Stadt – | |
| aufgebaut, die diesmal gleich für die gesamte Spielzeit halten muss. Diese | |
| gigantische Installation muss nämlich das Problem abfedern, dass die marode | |
| Bühnentechnik nicht mehr zum Einsatz kommen darf, aber eine für die Zeit | |
| der fälligen Sanierung nötige Ersatzspielstätte noch nicht gefunden ist. | |
| ## Aus der Not eine Tugend gemacht | |
| Wie schon während der Coronapandemie – als die Raumbühne die nötigen | |
| Abstände gleich mit einbaute – wird aus der Not eine Tugend gemacht. Die | |
| Raumbühne „Antipolis“ übertrifft alle ihre Vorgängerinnen allerdings um | |
| Längen. Nicht nur breitet sie sich bis an die Ränder des Zuschauersaals | |
| aus, sie wird sich über die gesamte Spielzeit auch mehrfach verwandeln und | |
| immer wieder neue Perspektiven bieten. | |
| Zur Eröffnung von „Antipolis“ gab es dort „Carmen“ zu sehen, die neben… | |
| „Zauberflöte“ beliebteste Oper überhaupt. Kaum ein Repertoire-Hit ist | |
| derart umstellt von Klischees wie die unverwüstlichen Opéra-comique, | |
| inszeniert vom Intendanten Florian Lutz höchstselbst. | |
| Er macht aus der Titelheldin eine unbequeme Revolutionärin und | |
| Klassenkämpferin. Die eigentliche Hauptrolle aber spielt die Raumbühne: Hat | |
| man eine Karte im Bereich „Antipolis“ gebucht, geht man durch den | |
| Backstagebereich zur Bühne, zunächst in einen muffigen Raum, wo man vom | |
| „Verfassungsdienst“ empfangen und instruiert und zur Spionage in der | |
| revolutionär unterwanderten Fabrik aufgefordert wird. | |
| ## Zuschauer im Blaumann | |
| Dann darf man auf die Bühne, muss einen blauen Kittel anziehen und ein | |
| Haarnetz aufsetzen, denn nun mischt sich das Publikum mit dem Chor und | |
| Extrachor in jener Zigarettenfabrik, in der auch die aufmüpfige Carmen | |
| arbeitet. | |
| „Antipolis“ breitet sich über die gesamte Bühne, den Orchestergraben, die | |
| Hinter- und Seitenbühnen aus und wächst im Zuschauerraum an den Seiten bis | |
| zum Rang hinauf. Unzählige Monitore und mehrere „Cam-Operatoren“ lassen | |
| nichts unbeobachtet, das Orchester sitzt ziemlich weit hinten auf der | |
| Bühne, das singende Personal wird leicht verstärkt. | |
| Florian Lutz erzählt unverschnörkelt und mit viel Sinn für Situationskomik | |
| die Geschichte von Freiheitsliebe, Aufbegehren, Eifersucht und Lebensgier | |
| im Milieu von Kleinkriminellen. Dabei geht es lustig zu auf der Bühne, zur | |
| Party werden (alkoholfreier) Sekt und Bier gereicht, man darf auch | |
| mitschwofen, und die Nähe zu den aufgekratzt spielfreudigen Akteuren macht | |
| tatsächlich Spaß, der den musikalischen Substanzverlust durch das weit | |
| entfernte Orchester verschmerzen lässt. | |
| ## Überraschter Intendant | |
| Tatsächlich ist die 360-Grad-Oper [2][„Carmen“] ein Sensationserfolg, das | |
| immersive Theatererlebnis kommt an, selbst in der gehobenen Altersklasse | |
| schwingt man enthemmt das Tanzbein. Vom Erfolg ist der Intendant | |
| überrascht: „Wir müssen jeden Abend bis zu 50 Leute wieder wegschicken, die | |
| keine Karten mehr kriegen. | |
| Es ist wohl eine Mischung aus dem populären Stück und dem Erleben der | |
| Raumbühne, die als spektakulär wahrgenommen wird.“ Insgesamt 150 | |
| Darstellende plus Orchester und Besucher mischen sich im ersten Teil der | |
| Aufführung auf der Bühne, das Publikum gerät durch die blauen Kittel mitten | |
| hinein in die Handlung. Die Initialzündung für das immersive Theater | |
| erlebte der Intendant bei der Beschäftigung mit der Neuen Musik, in der | |
| solche Konzepte teils bereits angelegt sind. | |
| „Ich fand es verblüffend, wie auch bei sperrigen Stücken in dem Moment, wo | |
| das Klangerlebnis ein räumliches Erlebnis wird, plötzlich musikalische und | |
| inhaltliche Barrieren kleinere Rollen spielen. Sobald man sich bewegen | |
| kann, fühlt man sich durch die räumliche Nähe angesprochen und wird | |
| reingezogen. Man findet ein anderes Verhältnis zum Zuschauersein.“ | |
| 24 Nov 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Streit-um-Stadttheater/!5574292 | |
| [2] https://www.staatstheater-kassel.de/play/carmen-2805 | |
| ## AUTOREN | |
| Regine Müller | |
| ## TAGS | |
| Kassel | |
| Oper | |
| Theater | |
| Theaterrezension | |
| Oper | |
| Oper | |
| Oper | |
| Theater | |
| Theater | |
| Kunst | |
| Schwerpunkt Iran | |
| Sasa Stanisic | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Barrie Kosky inszeniert „Hercules“: Von Anfang an wird durchgedreht | |
| Am Berliner Schillertheater bringt Barrie Kosky die Händel-Oper „Hercules“ | |
| auf die Bühne. Der Inszenierung fehlt es leider an Spannung und Herz. | |
| „Anna Bolena“ an der Deutschen Oper: Zerbrechliche Königinnen | |
| „Anna Bolena“ ist True-Crime aus dem 19. Jahrhundert. Hochkarätige | |
| Sänger:innen machen die Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin | |
| sehenswert. | |
| „Moses und Aron“ in Oper Bonn: Der Kern ist der Verzicht | |
| Grandioses Bildertheater: In der Reihe „Fokus ’33“ bringt die Oper Bonn | |
| Arnold Schönbergs Opernfragment „Moses und Aron“. | |
| Magdeburger Schauspieldirektorin: Schwein in Sonderrolle | |
| Roboter, Molche und Schweine: In den Inszenierungen von Clara Weyde wandeln | |
| fantastische Figuren mitten unter Menschen. Ein Porträt. | |
| Theaterstück über deutsche Schuld: Grauzone zwischen Recht und Unrecht | |
| „Frau Schmidt und das Kind aus Charkiw“ handelt von deutschen Verbrechen in | |
| der Ukraine. Anne Habermehl zeigt das Stück an den Münchner Kammerspielen. | |
| Neues Museum in Hamburg: Ein Haus für digitalen Kitsch | |
| Hamburg bekommt das weltgrößte Rekordmuseum für digitale Kunst. Es soll ab | |
| 2025 superbunte Bildchen begehbar machen – klimaneutral natürlich. | |
| Oper „Ich bin Carmen“ am Theater Bremen: Carmen sein und fliegen | |
| Mezzosopranistin Hasti Molavian erzählt am Theater Bremen ihre Kindheit im | |
| Iran. Dafür nutzt sie Georges Bizets unverwüstliche Oper. | |
| Schwerin spielt Saša Stanišićs Roman „Das Fest“: Keine Angst vor Abseiti… | |
| Regisseur Martin Nimz gelingt mit seiner Stanišić-Inszenierung eine | |
| ungeschönte, aber nicht minder zärtliche Liebeserklärung an die Weiten | |
| Ostdeutschlands. |