| # taz.de -- Theaterstück über deutsche Schuld: Grauzone zwischen Recht und Un… | |
| > „Frau Schmidt und das Kind aus Charkiw“ handelt von deutschen Verbrechen | |
| > in der Ukraine. Anne Habermehl zeigt das Stück an den Münchner | |
| > Kammerspielen. | |
| Bild: Walter Hess, und Johanna Eiworth in „Frau Schmidt und das Kind aus Char… | |
| Als Anne Habermehl das erste Mal in die Ukraine reisen wollte, kam Corona | |
| dazwischen. Dann hatte sie einen Flug für den 25. Februar 2022. Der Beginn | |
| [1][des russischen Angriffskrieges] einen Tag davor machte ihre Reisepläne | |
| zunichte, ihr Schreibvorhaben nicht. Auch wenn „Frau Schmidt und das Kind | |
| aus Charkiw“, uraufgeführt an den Münchner Kammerspielen, streng genommen | |
| kein Stück über die Ukraine geworden ist, gehen darin zwei Menschen über | |
| die Grenze. 1944 ist es ein Mann, Erich, von Beruf Ingenieur, der im | |
| Auftrag seiner Firma offenbar [2][„Ostarbeiter*innen“] rekrutiert oder | |
| überwacht. 1977 ist es das Baby Mykhailo, das in einem Laster in die | |
| Gegenrichtung fährt, um von einem Paar adoptiert oder eher gekauft zu | |
| werden. | |
| Mit Zwangsarbeit und Menschenhandel beleuchtet die Autorin zwei Stellen, an | |
| denen Deutsche in der Ukraine verbrannte Erde hinterlassen haben. Nicht mit | |
| aufklärerischem Anspruch die Millionen während der Nazi-Besatzung getöteten | |
| Ukrainer oder das Geschäft mit Adoptionstourismus und Leihmutterschaft | |
| beziffernd, sondern eher exemplarisch und emotional. | |
| ## Das Schweigen darüber und wohin es führt | |
| Habermehl meidet alles, was aus ihrer Außenperspektive auch anmaßend wäre. | |
| Es geht ihr um Taten in der Grauzone zwischen Recht und Unrecht, um das | |
| Schweigen darüber und die Frage, wohin es führt. | |
| Damit bleibt sie ganz in Deutschland, wo ihre Schmidts leben. Zwei Familien | |
| sind es, nicht miteinander verwandt. Der Name Schmidt ist ein Platzhalter, | |
| hinter deren Schuld und Halbwissen über die Ukraine sich eine Menge | |
| Deutscher versammeln könnten. | |
| ## Voller magischer Elemente | |
| In ihrer Europa-Trilogie hat sich Anne Habermehl unterschiedliche | |
| binneneuropäische Traumata vorgenommen. In Teil eins – „Frau Schmidt fährt | |
| über die Oder“ – ging es um Spätaussiedler, und der von der Dramatikerin | |
| selbst auf die Bühne gebrachte Abend ging im Figuren- und Zeitengewirr | |
| unter. Auch Teil zwei inszeniert Habermehl wieder selbst. Er ist klarer, | |
| fokussierter, stringenter erzählt, wenn auch voller magischer Elemente. | |
| Da sind etwa die Schuhe, die der Junge Micha in den vierziger Jahren trägt | |
| und die seine Eltern in Panik versetzen. Warum, versteht man als | |
| Zuschauer*in erst, als sie in den Neunzigern bei Mykhailo wieder | |
| auftauchen. Immer noch brandneu, also logisch nicht erklärbar. Magische | |
| Bande verbinden auch die beiden Paare. | |
| ## Anfassen wie ein fremder Mensch | |
| Als der Ingenieur Erich 1944 aus der Ukraine kommt – mit mindestens halbem | |
| Herzen noch bei Svetlana, die dort von ihm ein Kind erwartet – bittet ihn | |
| seine Frau, sie in den Arm zu nehmen. Und beide zittern und weichen mit | |
| kurzen, hilfsverblosen Sätzen dem vielen aus, was zwischen ihnen steht. | |
| Als den anderen Schmidts ein halbes Jahrhundert später ihr Adoptivkind | |
| abhandenkommt, das nach seiner Herkunft sucht wie nach einem fehlenden | |
| Körperteil, bittet der Mann seine Frau: „Kannst du mich mal anfassen wie | |
| ein fremder Mensch? Nicht zärtlich, nicht schön, nur neu.“ Edmund | |
| Telgenkämper sagt es ganz leise, emotional implodierend. Johanna Eiworth | |
| ist eher fürs (manchmal allzu) Explosive zuständig. | |
| ## Zu bedeutungsvoll-pathetisch | |
| Sie spielen beide Paare, deren innere Zerrissenheit mal sehr berührt und | |
| mal von der Regisseurin Habermehl zu bedeutungsvoll-pathetisch | |
| ausbuchstabiert wird. Da wird die Nähmaschine traktiert oder Asche zwischen | |
| den Fingern zerrieben. Frangiskos Kakoulakis als Kind geht da schön trocken | |
| dazwischen. Walter Hess sorgt als Arzt, Priester oder Geist für Ironie und | |
| manchmal auch Fragezeichen. | |
| Vieles von dem, was sie sagen, ist monologisch, als würden sie Briefe | |
| verlesen, was sie auch tun. Wenn der Adressat weit weg ist, fallen die | |
| Worte leichter. Das passt zum Thema Verdrängung. Aber Schweigen durch | |
| Verschweigen zu thematisieren ist ein Problem: Bloße Andeutungen sind nicht | |
| abendfüllend. Der im Stück geäußerte Appell, man möge sich alles erzählen, | |
| damit die Erinnerung daran nicht verschwindet, bleibt unerhört im Raum | |
| hängen. | |
| 26 Nov 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sabine Leucht | |
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