# taz.de -- Oper „Ich bin Carmen“ am Theater Bremen: Carmen sein und fliegen | |
> Mezzosopranistin Hasti Molavian erzählt am Theater Bremen ihre Kindheit | |
> im Iran. Dafür nutzt sie Georges Bizets unverwüstliche Oper. | |
Bild: Sie ist Carmen: Unter, vor, auf und im Auto singt Hasti Molavian ihre Bio… | |
Wow!, das also kann Oper, wenn man sie nur lässt: „Carmen“, die | |
Wunschpartie jeder Mezzosopranistin, ist sonst eher das guilty pleasure | |
der gewieften post-machistischen Operngänger, ohne Sternchen, ohne | |
Binnen-I. Auch mal schön, aber am Ende doch in genau dieser Schönheit | |
problematisch. | |
Die Bremer Produktion „Ich bin Carmen – mæn kārmen hastan und das ist kein | |
Liebeslied“ ist aber ganz etwas anderes. Sie firmiert als Musiktheater nach | |
Georges Bizet. Die kurze Passage auf Farsi ist auch im Spielplan in | |
persischer Schrift gedruckt (das kriegt das taz-Redaktionssystem leider | |
nicht so ohne Weiteres hin). Sie unterstreicht, dass hier eine aneignende | |
Übermalung des wunderschönsten aller exotischen Schmachtfetzen stattfindet. | |
Auf, in und an einem weißen Auto – hier ist die Gelegenheit, sich daran zu | |
erinnern, dass [1][diese gängige Bezeichnung für Kraftfahrzeuge] denselben | |
Ursprung hat, wie der Präfix der Autobiographie und der Autonomie – stellt | |
Sängerin Hasti Molavian mithilfe von „Carmen“ und unterstützt durch den | |
Komponisten Tobias Schwencke, den Elektronik-Virtuosen Christopher Scheuer | |
und den Regisseur Paul-Georg Dittrich ihr Leben dar. Genauer: ihre Jugend | |
und ihre Kindheit im Iran. | |
Also in einem Staat, in dem diese Oper noch – oder: seit 1979 wieder – als | |
ein Medium unaussprechlicher Sehnsucht fungieren kann. Auf andere Weise als | |
im 19. Jahrhundert, aber doch mit der vollen Wucht. | |
## Ein Müllsack schützt die Geige | |
Weil sie dort für das Verbotene steht: [2][für westliche Musik], der | |
Molavian verfallen ist und die sie nur dank Camouflage – der Geigenkoffer | |
gehört in den Müllsack, um nicht Verdacht und Zorn der Wächter zu erregen – | |
nachgehen kann. Für Erotik. Und für eine Weiblichkeit, vor der ein | |
rückständiger Islam sich nicht weniger fürchtet als einst das Patriarchat | |
der Dritten Republik. | |
Als einer der wenigen echten Mythen der Moderne war „Carmen“ auch im 19. | |
Jahrhundert stets mehr als eine bloße Männerfantasie. [3][Prosper Mérimées | |
Novelle erzählt], eingebunden in die aggressive Erkundung des Fremden, des | |
vermeintlich Wilden, die ambivalente Story von der Unüberwindbarkeit der | |
Herkunft. Sie entwirft die Vision der freien, selbstbestimmten Frau als | |
Narrativ von ihrer Unfähigkeit sich zu binden und gepaart mit | |
Kastrationsängsten und Bildern der Zähmung. | |
Stierkampf kommt auch vor. [4][Bizets Musik hat diese irisierende Vielfalt | |
erst sichtbar gemacht]: Die Oper besteht eigentlich nur aus ewigen | |
Smash-Hits, die jede und jeder kennt, oft auch ohne es zu wissen. Die | |
Komposition macht klar: Dieser Stoff geht alle an. | |
Gerade das prädestiniert sie heute noch zum Erzählen des Eigenen. Und | |
gerade das macht es so sinnvoll, mit dem musikalischen Material zu spielen: | |
Die Mitsummmelodien triggern etwas im Hirn, noch wenn sie stark | |
fragmentiert und elektronisch fast zur Unkenntlichkeit verzerrt | |
daherkommen. | |
Schwencke, der selbst am Flügel sitzt, nähert den Klang seines präparierten | |
Klaviers dem metallischen Tönen einer Buzuq an, einer kurdischen Laute. Er | |
konfrontiert die Ausgangskomposition mit einer Fremdheit, die in Bizets | |
diatonischem Korsett noch keinen Raum gefunden hätte. | |
Hasti Molavian wiederum singt alles, auch die Lieder des Chors und spricht, | |
dank toller Technik-Tricks, den Text der Männer. Sie ist als Carmen | |
zugleich José. Vielleicht ist sie auch der Stier. | |
Der Kampf verlagert sich in eine auch durch dokumentarisches Material aus | |
dem gegenwärtigen Iran geprägte Seelenlandschaft, die dank Projektion offen | |
zutage tritt. Wer wird am Ende sterben? | |
Sensationell ist nicht nur die Kondition Hasti Molavians und wie artistisch | |
sie in ihrem 90-Minuten-Solo den Kleinwagen als von Pia Dederichs | |
eingerichtete und von Kai Wido Meyers eindrucksvoll mit Video bemalte Bühne | |
auf der Bühne bespielt: Sie gleitet durchs Schiebedach ins Innere, steht | |
auf der Kühlerhaube, liegt im Wüstensand unter ihr und droht von der über | |
ihr schwebenden Karre zerquetscht zu werden. | |
## Die Dressur eines Vogels | |
Sensationell ist aber vor allem, wie sie die Register ihrer großen Stimme | |
übergangslos zu wechseln vermag: In einem atemlosen Potpourri aus Pastiches | |
von „La Habanera“ switcht sie, Platzwechsel eingeschlossen, vom Original zu | |
dessen folkloristischer Vorlage in eine Schönberg- und dann Gershwin- oder | |
Weill-Version. | |
Sie singt Englisch, Kroatisch, Persisch Deutsch, zack-zack!, zack-zack!, | |
zack-zack!, zackzack. Nicht wie, sondern echt auf Kommando. Die Ausbildung | |
zur Opernsängerin, die doch bedeutet, den eigenen Traum endlich zu leben, | |
der Traum von Freiheit, den der Westen träumt, ist eine erbarmungslose | |
Dressur. | |
Denn nur wer ordentlich abgerichtet ist, wird dereinst das unsterblich | |
schöne Lied vom „oiseau rebelle“ singen dürfen, jenem aufsässigen Vogel, | |
den niemand zähmen kann: L’a-mour! L’a-mour! L’a-mour! L’amour. | |
27 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Automobil | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Philharmonisches_Orchester_Teheran | |
[3] https://www.projekt-gutenberg.org/merimee/carmen/carmen.html | |
[4] https://imslp.org/wiki/Carmen_(Bizet,_Georges) | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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