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# taz.de -- Opernfestival in Aix-en-Provence: Die alte und die junge Diva
> Der Zauber kommt zur Tür herein: Starker Start der Opernfestspiele in
> Aix-en-Provence mit Puccinis „Tosca“ und Mozarts „Requiem“.
Bild: Instruktion unter Sopranistinnen: Szene aus „Tosca“ von Christophe Ho…
Das Opernfestival in Aix-en-Provence hatte in den letzten elf Jahren unter
der künstlerischen Leitung von Bernard Foccroulle eine musikalische
Qualität von erstem Niveau, während die Regie-Handschriften eher zur
Kulinarik neigten. Nun hat Pierre Audi die Intendanz übernommen, nachdem er
30 Jahre lang Intendant an der Amsterdamer Nationaloper war. Er legt einen
prägnanten Start hin, der sich zum Experiment bekennt.
Zur Eröffnung zeigt er Romeo Castelluccis subtile, souverän mit
Assoziationen spielende Bühnenadaption von Mozarts „Requiem“, gefolgt von
Puccinis Opernschocker „Tosca“ in der gewagten Dekonstruktion des
französischen Filmregisseurs Christophe Honoré.
Beide Produktionen werden im Théâtre de l’Archevêché gezeigt, dem
Freilufttheater im Innenhof des Erzbischöflichen Palais. [1][Romeo
Castellucci] nähert sich erwartungsgemäß Mozarts Totenmesse nicht mit der
Erfindung einer Handlung, sondern mit einer Abfolge von Tableaus, die
archaische, überzeitliche Bilder beschwören und zugleich im Jetzt und Hier
stehen.
## Lange Liste des Verschwindens
An die Rückwand werden Erinnerungen an die Vergänglichkeit wachgerufen mit
der Einblendung von ausgestorbenen Tier- und Pflanzenarten, Sprachen,
Kulturdenkmälern, Bauten, auch diversen Ismen und Gebräuchen. Eine lange
Reihe des Verschwindens. Am Schluss steht da „5 Juillet 2019“, das Datum
der zweiten Aufführung. Auch dieser Tag ist dann fast schon vorbei.
Es beginnt still: Auf der Bühne (Castellucci und Silvia Costa) ein karges
Bett, eine alte Frau raucht stehend vor dem Fernseher eine (letzte?)
Zigarette, geht ins Bett und verschwindet darin. Raphaël Pichon (Dirigent
und Arrangeur) lässt dazu Gregorianik a cappella erklingen und hat Mozarts
Requiem ansonsten überwiegend mit Unbekanntem aus Mozarts Feder
angereichert, etwa der Meistermusik KV 477b und dem Miserere mei KV 90,
seine beiden Pygmalion-Ensembles (Chor und Orchester) musizieren auf
allerhöchstem Niveau, historisch informiert mit kristallklarer Intonation,
transparent-warmer Tongebung, sprechender Diktion und elaborierter
Rhetorik.
## Tröstet und befremdet
Der Chor agiert auf der Bühne überraschenderweise – es handelt sich um eine
Totenmesse – zumeist tanzend! Erst erinnern die hüpfenden und stampfenden
Schrittfolgen an irische Volkstänze, dann verweisen die Kostüme eher auf
den Balkan, später wieder an heutige Straßenkleidung.
Viele Tableaus und Bildfindungen beziehen sich anspielungsreich auf Ikonen
der Kunstgeschichte, die Hauptrolle spielt das Kollektiv, also der Chor
(und einige Profitänzer), die den Fragen nach den letzten Dingen mit der
scheinbaren Leichtigkeit des Tanzes nachgehen. Über dem allerdings ein
tieferer Ernst liegt, etwas Archaisches, das tröstet und befremdet. Ein
typischer Castellucci-Abend, aber einer seiner bislang intensivsten.
Für „Tosca“ findet Christophe Honoré am nächsten Abend eine ästhetische
Lösung, die kaum weiter entfernt sein könnte von Castelluccis Ritual.
Honoré spielt angstfrei mit den Konventionen der italienischen Oper und
stellt sowohl deren Starkult als auch ihr Dauer-Expressivo in den
Mittelpunkt seiner sezierenden Arbeit.
## Das Diventum ironisieren und feiern
Honoré geht es nicht um Parodie. Es gelingt ihm, das Genre Oper zu
zerlegen, die Geschichte zu verfremden, mindestens zwei Bühnenrealitäten
parallel laufen zu lassen, das Diventum zu ironisieren und gleichzeitig
auch wieder zu feiern. So, als würde es nichts helfen, den Zauber zu
entzaubern, denn er kommt zur nächsten Tür wieder herein.
Der wesentliche Kniff seiner Regie, die sich vieler Kameras und
Videoscreens bedient, ist die Mitwirkung einer großen Diva alter Schule,
einer der berühmtesten Toscas überhaupt: Catherine Malfitano. Die
71-jährige Sopranistin spielt sich selbst. Mit einer gehörigen Portion
Selbstironie und erstaunlich intakter Stimme ist sie ständig präsent auf
der Bühne, überwacht Proben, Vorsingen und berät die junge Angel Blue, die
ihr nun als Tosca nachfolgen soll (und für die es auch in ihrem realen
Leben ihre erste Tosca ist).
So oszilliert das detailreich inszenierte Geschehen auf der Bühne ständig
zwischen der Erinnerung, einer nüchternen Produktionssituation und jenen
Momenten, wo der Puccini-Krimi alle Beteiligten mitreißt in eine andere
Realität.
## Auf der Besetzungscouch
Dabei gelingen Honoré Momente von beklemmender Aktualität. Wenn etwa Angel
Blue die berühmte Tosca-Arie „Vissi d’arte“ singt, in der Tosca ihr Ungl…
beklagt, gleich vom skrupellosen Scarpia vergewaltigt zu werden, sitzt sie
hier auf der Besetzungscouch, der römische Polizeipräsident ist Agent,
seine Schergen sind seine Assistenten, und die Vorzeige-Arie wird zur
doppelten Pein.
Das ist raffiniert und pointenreich inszeniert. Die vielen Brechungen
schmecken dem Stammpublikum nur begrenzt, aber auch bei „Tosca“ ist die
musikalische Ausführung über jeden Zweifel erhaben. Daniele Rustioni
inspiriert das Orchestre de l’Opéra de Lyon zu lyrischem, differenziertem
Spiel. Angel Blues leuchtender Sopran ist eine ideale Tosca. Grandios in
ihrem Mut zur Selbstdemontage, die im Triumph endet: Catherine Malfitano.
11 Jul 2019
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## AUTOREN
Regine Müller
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