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# taz.de -- Open-Air-Konzerte im Sommer: Blau in Bayreuth
> Die Zeit der Klassikfestivals endet, Orchester kehren zurück in Säle,
> Opern in Häuser. Wie war es in Tanglewood, Luzern, Bayreuth, Salzburg?
Bild: Draußen im Sommer: Die Eröffnung der Salzburger Festspiele
Die Musik hat jetzt wieder ein Dach überm Kopf. Das ist jedes Jahr so,
Anfang September: Sommer vorbei, Schluss mit den Open-Air-Konzerten,
Picknick mit Debussy, Beethoven in der Scheune, Verdi auf der Burgruine,
Carmen am See. Das Wetter ist ab heute egal.
## Tanglewood: Das Paradies und der Matsch
Am 2. September, Sonntagnachmittag um 2 pm, wird das Boston Symphony
Orchestra in der Royal Albert Hall in London auf der Bühne sitzen, sicher
und trocken, frisch gelandet in Europa, und verkünden, mit Trompetensignal:
Achtung! Pan erwacht!
Sie servieren zum Auftakt ihrer Europatournee Mahlers populäre Dritte, mit
Frauen- und Kinderchor. Das Orchester ist gut in Form, hat Farbe, es kommt
direkt aus seiner Sommerresidenz auf Tanglewood Grounds, Massachussetts, wo
es acht Wochen verbrachte, mit Üben, Unterrichten und Konzertieren. Dort,
in Tanglewood, hatte ich es zuletzt gehört.
Erst mit Schostakowitschs Fünfter, unter Chefdirigent Andris Nelsons, dann
mit dem Klavierkonzert d-moll von Johannes Brahms, mit Rudolf Buchbinder,
dem in Österreich weltberühmten Pianisten, der deftig zupackte und heftig
bejubelt wurde. Und zum Schluss, als der Sturm kam, mit „La Bohème“.
Tanglewood, benannt nach Nathanel Hawthorne, gegründet 1937, ist die
Urgroßmutter aller Open-Air-Klassikfestivals. Ein altes Paradies. 200 Acres
Wald und Wiesen, fast 85 Hektar Land, eine Schenkung der Tappan-Familie an
das Bostoner Orchester. Darauf stehen Villen aus Holz und offene
Konzertsäle ohne Wände, aus denen es weit hinausschallt in die freie Natur.
Man kann laufen oder sitzen, wo man will, Schostakowitsch ist einfach
überall. Tagsüber wird geprobt, abends: Konzert.
Nelsons, dessen Vertrag in Boston noch bis 2022 läuft, nimmt die Symphonie
Nr. 5 d-moll von Schostakowitsch auf ungewöhnlich leichte Schulter, auch in
der Gesamtaufnahme. Neu und anders tönt das, differenziert und
durchsichtig. Brüche und Härten in der Musik werden nicht geleugnet, aber
sie werden auch nicht schlagzeilenartig an der Rampe ausgestellt, wie das
Dirigentenmode ist zurzeit: ecce homo, seht her, dieser Schmerzensmann,
Opfer und Zeuge des blutigen 20. Jahrhunderts.
Im umstrittenen Dur-Finale, der strahlend staatstragenden Coda des letzten
Satzes, steckt gewiss auch Ironie, aber eben auch eine gute Portion
russische Tradition, was traurig sein mag, aber auch tröstlich.
Eine Woche lang blieb es brüllend heiß im Paradies. Zum Abschied wünschten
sich alle einen Indianerregenzauber her, und um die Legende perfekt zu
machen, hätte noch eines der legendären kleinen Tanglewood-Unwetter
gefehlt, bei denen es Äste regnet von den Bäumen und die Picknicker durch
Matsch und Pfützen waten. Als „La Bohème“ beginnt, ist es noch leidlich
heiter. Samantha schickt mir eine Mail, sie hat einen Riesenblitz gesichtet
über den blauen Bergen, schwarze Wolken hängen tief: „It made me smile.
Your storm!“
Und wirklich, er kommt. Pünktlich zum ersten Aktfinale schneidet ein
martialischer Donner den Orchestersound in Stücke, und es prasselt so stark
aufs Holzdach von „The Shed“, dass drinnen wie draußen kein Mensch mehr
Sinn hat für Mimís Liebe auf den ersten Blick. Verstehen kann man sowieso
keinen Ton mehr.
## Luzern: Die Erschaffung der Welt im Schlaf
In Luzern, am Vierwaldstätter See, steht Riccardo Chailly am Pult des
Lucerne Festival Orchestra. Diese Formation ist angeblich einzigartig,
angeblich bestes Orchester der Welt, und wird immer noch als das heilige
Abbado’sche Privatorchester gehandelt. Chailly hatte es nach Claudio
Abbados Tod übernommen, ein nicht ganz unheikler Job, wie es heißt, den
Nelsons, der zuerst eingesprungen war, damals dankend ablehnte. Nur, was
ist daran heikel?
An sich funktioniert diese Luxusbanda, zusammengesetzt aus angereisten
Solisten und Konzertmeistern, nicht anders als jedes gewöhnliche
Telefonorchester auch. Man trifft sich punktuell, für zweimal vier
Konzerte, und zwar, wie Abbado gern zu sagen pflegte: „aus Freundschaft“.
Doch natürlich fließen (und flossen) außer Freundschaftstränen immer auch
größere Geldsummen. Circa 1,7 Millionen Franken pro Festivalsaison kostet
das LFO, was bedeutet: Es muss einfach richtig gut sein.
Einige Musiker gingen, als Chailly antrat, andere kamen. Es gab doofe
Gerüchte. Das ist überwunden, wie jeder Esel hören kann. Ein
Ravel-Programm, auf dem Papier nichts Besonderes, entpuppt sich am Abend in
der „Salle Blanche“ des schönen Nouvel-Hauses am See als eine atemraubend
virtuose Hochleistungsschau. Leicht und hell feiern die
Orchesterinstrumente sich selbst in der Apotheose des Tanzes, Soloflötist
Jacques Zoon brilliert am laufenden Band, ein frecherer, schnellerer
„Bolero“ lässt sich nicht ausmalen.
Anderntags, in der E-Dur-Symphonie Anton Bruckners, öffnet Kapellmeister
Chailly dann das Ohr neu für die subkutanen Zusammenhänge zwischen den
Bruckner’schen Blöcken, mit vollkommen durchgestalteten, traumhaft
legatoweichen Passagen.
Dass ausgerechnet der kleine Saal in dem von Jean Nouvel entworfenen Haus
am See „Luzerner Saal“ heißt, spricht nicht unbedingt für das
Selbstbewusstsein der Luzerner. Aber man hat sich dran gewöhnt. Er bietet
Platz für rund 800 Zuhörer und den Zeitgenössischen eine Zuflucht.
Kaum hat Dirigent Matthias Pintscher mit eleganter Geste den Einsatz
gegeben für die schweizerische Erstaufführung von „Genesis“, einem
Gemeinschaftswerk von sieben Komponisten, sinkt in der ersten Reihe eine
alte Dame in sich zusammen.
Nichts Ernstes, es gehört auch wahrscheinlich nicht zum Stück. Denn sie
schläft friedlich weiter, auch als das Chaos gebändigt ist, während Wasser
und Erde sich scheiden, das Himmelsgewölbe aufgehängt wird, Tiere und
Pflanzen entstehen, Schlagzeuggewitter tosen, Blechbläser dröhnen,
Kontrabässe seufzen und knarren. Und erwacht erst wieder kurz vor
Schluss, munter und rosig, um wie wild den fabelhaften jungen Musikern der
Festival Academy zu applaudieren. Großartig! Die Erschaffung der Welt im
Schlafe!
## Bayreuth: „Lohengrin“, ganz in blauer Pappe
Die besten Klassikschläfer sind nicht in der neuen Musik, sondern immer
noch auf den teuersten Plätzen der Bayreuther und Salzburger Festspiele
anzutreffen. Liegt an der angenehmen Dämmerung ringsum und an dem Umstand,
dass ein Opernakt, egal ob von Wagner, Verdi oder Monteverdi, grundsätzlich
etwas länger ist als andere Live-Acts.
„Bitte schlafen Sie auf Ihrem eignen Sitzplatz“, faucht hinter mir einer
seinen Nachbarn an, der ihm ab und zu seitlich zufällt, während Christian
Thielemann für seine Verhältnisse zügig durch den dritten „Lohengrin“-Ak…
der in diesem Falle „Aufzug“ heißt, nun ja, sagen wir, eilt. Wirklich
dirigiert Thielemann auffallend schnell, fein und filigran. Der Schläfer
entschuldigt sich, gleich zischt es von allen Seiten. Dann geht die Sache
wieder von vorne los.
Die in diesem Sommer meistgestellte Frage, auf dem Bayreuther Hügel, aber
auch außerhalb, lautete: „Wie fanden Sie den ‚Lohengrin‘?“ Dabei gibt …
darauf nichts zu sagen, außer: blau. Seltsam nur, dass jeder jeden fragt
und jede jede, obwohl doch alle miteinander, die es interessiert, wenn
nicht das Original, dann die Übertragung auf 3sat geguckt haben, und
jeder/jede eine eigene Meinung dazu haben und sich diese Frage hätte selbst
beantworten können.
Es wäre übertrieben, von einer neuen Wagnerdebatte zu sprechen. Ein Diskurs
über das Blaue? Eher handelt es sich um eine ins Pausengespräch
transferierte Twitterei, Redundanzen vervielfältigend, selbstreferenziell.
Das Volk von Brabant, blau wie Delfter Kacheln, tritt symmetrisch aus den
von Neo Rauch und Rosa Loy blau bemalten Gassen und baut sich zwischen blau
bemalten Pappkulissen auf. Die Solosänger – wunderbare Sänger! Pjotr
Beczala als operettig schnulzender Lohengrin eine Idealbesetzung! –
spreizen blaue Flügel, zerren an blauen Stricken oder recken blaue
Schwerter. Blau ist die Lieblingsfarbe der Deutschen, mit 19 Prozent liegt
es noch vor dem Grün (13 Prozent). Statistisch betrachtet haben die
Bayreuther Festspiele damit also wieder einen Erfolg eingefahren.
Es war ein Jubiläumsjahr, das da still und ungefeiert in Bayreuth
vonstatten ging. Vor zehn Jahren war Richard Wagners resolute Urenkelin
Katharina Wagner zur Leiterin der Wagner-Festspiele ernannt worden. Sie
macht einen guten Job. Es soll zwar immer noch ein paar ältere Herrschaften
geben, denen sie einfach zu jung und zu blond ist. Doch der Familienbetrieb
der Wagnerfestspiele steht wirtschaftlich und künstlerisch krisenfest da,
besser denn je, außerdem wurde wieder Richards altes Motto ausgepackt und
über die Tür genagelt: „Kinder, schafft Neues“.
Zum ersten Mal seit 1882 stand eine Uraufführung auf dem Spielplan der
Festspiele: Sensationell. Klaus Lang hatte im Festspielauftrag, im Rahmen
des neuen Wahnfried-Symposions zum Thema „Kunstverbote“, eine
abendfüllende Oper komponiert.
„Der verschwundene Hochzeiter“, inszeniert von Paul Esterhazy, gespielt vom
Ictus-Ensemble, handelt von einer alten Sage und von der Ewigkeit oder
davon, wie die Zeit vergeht, was der Komponist in 5.373 Sekunden
mathematisch durchstrukturiert und gespenstisch suggestiv instrumentiert
hat. Man fühlt sich im Flow dieser altneuen Musik, eingekreist von Glocken,
Menschenstimmen, Borduntönen und Obertonmischungen zugleich zu Hause und
fremd. Schlafen konnte, soweit ich das überblicken kann, niemand. Es gab
aber leider auch nur drei Aufführungen.
## Salzburg: Mozartkugelverkäufer im Glück
In Salzburg gab es 206 Aufführungen in 42 Tagen, davon 38
Opernvorstellungen mit 5 Neuinszenierungen und eine Auslastung von 97
Prozent. Jede Menge Streitkultur, nur gute Kritiken. Keine Produktion, die
man nicht gesehen haben muss. In jeder bricht etwas auf, öffnen sich
Fragen. Aus vielen Stücken geht man anders heraus, als man hineinging.
Einiges möchte man gern mehrmals sehen und seinen besten Freunden zu
Weihnachten schenken.
Mit anderen Worten: Intendant Markus Hinterhäuser hat einen Lauf. Sein
feines Publikum liebt ihn, im zweiten Jahr noch mehr als im ersten. Die
Künstler lieben ihn, die Medien ebenfalls, auch die Einzelhändler,
Straßenmusikanten, Mozartkugelverkäufer. Wie hält man so viel Liebe aus?
„Küsse, Bisse, Das reimt sich. Und wer recht von Herzen liebt, Kann schon
das Eine für das Andere greifen“, sagt Sandra Hüller am Ende. Nicht
erschöpft, nur erstaunt. In einem atemraubenden Zweierbeziehungskrieg, halb
gestelzte Schauspielersprechkunst, halb krasse Improvisation, hat sie sich
mit Jens Harzer Kleists „Penthesilea“ aufgeteilt. Er liegt nun tot, ein
freakiger Held Achill, sie eine zerbrechliche, zickige Amazone. Wiedersehen
kann man sie als Gastspiel in Hamburg, im Februar, im Thaliatheater, schon
im November holt Regisseur Johan Simons sie ins koproduzierende Bochum.
Anderes wird auf DVD/Bluray konserviert werden: Gewiss die üppigen
„Bassariden“ von Hans Werner Henze, in Krzyzstof Warlikowskis spröde
verstolperter Lehrstück-Inszenierung, mit dem alle Zweifel überstrahlenden
jungen Dionysos-Tenor von Sean Panikkar. Sicher Tschaikowskis „Pique Dame“
in der meisterhaften Regie- und Chorführung von Hans Neuenfels.
Hoffentlich auch die verstörende, von Romeo Castellucci ins helle, heilige
Licht der Tochter Zion verlegte „Salome“ von Richard Strauss, darin Asmik
Grigorian die Rolle ihres Lebens singt und ein Pferd namens Gerrit Hendrik
eine Statisten- zur Hauptrolle macht. Ein schönes Tier. Das sagten alle.
Gerrit gab zwei Fernsehinterviews. Zuzutrauen wäre es ihm, dass er, wie er
nach und vor dem Auftritt draußen im Toscaninihof herumgeführt und
umschwärmt wurde, auch ein paar Autogramme gegeben hat.
Abgesehen von einer Fehlbesetzung in der „Zauberflöte“ (Sarastro) und der
weitgehenden Abwesenheit lebender Komponisten war es ein großer,
großartiger Sommer in Salzburg. Festspiele, die für alle da sein und
niemals enden sollten. Herrlichstes Wetter. Ein, zwei Stürme und
Sturzfluten. Einmal regnete es so heftig durchs Dach des Großen
Festspielhauses, dass einige Reihen des Parkettpublikums gehen mussten, was
aber den Pianisten, Grigori Sokolov, nicht aus dem Takt gebracht haben
soll. Er spielt ohnehin immer nur für sich selbst. Jetzt werden Sponsoren
gesucht für die Renovierung.
31 Aug 2018
## AUTOREN
Eleonore Büning
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blau-dräuende Bühne stammt vom Künstlerpaar Neo Rauch und Rosa Loy.
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