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# taz.de -- Milo Rau über Inszenieren im Amazonas: Das radikale Nein
> Keine Bewegung habe ihn so beeindruckt wie die Landlosenbewegung. Mit
> Überlebenden des Massakers inszenierte Rau „Antigone im Amazonas“.
Bild: Milo Rau diskutiert mit Polizist*innen bei den Proben
In den vergangenen Wochen probte ich in Pará, dem Amazonas-Staat
Brasiliens, an einer Neufassung der „Antigone“ von Sophokles. In seinem
nördlichsten und politisch gewalttätigsten Bundesstaat gleicht Brasilien
weniger einer Nation als einem ökonomischen Prinzip. Auf gewaltigen
Monokulturen werden von Großkonzernen, die die Landwirtschaft von der
Aussaat bis zum Verkauf kontrollieren, Soja, Palmöl und Rindfleisch
hergestellt. Allein die für Mais und Soja genutzte Fläche entspricht
zweimal der Größe des einstigen Kolonisators Portugal.
Noch entscheidender ist aber: Über die Hälfte der landwirtschaftlichen
Flächen Lateinamerikas sind in den Händen von einem einzigen Prozent der
Bevölkerung – meist den direkten Nachkommen der ehemaligen Kolonisatoren
und Sklavenhalter.
Mit der industriellen Monster-Produktion gehen, wenn auch seit einigen
Jahren hinter „grünen“ Zertifikaten und der neoliberalen Rhetorik der
„Nachhaltigkeit“ versteckt, die Entwaldung des Amazonas und die Vertreibung
der indigenen Völker einher. Daran änderte auch die Landreform nichts, die
seit den 60er Jahren auf ihre Umsetzung wartet. Sie hätte für eine
demokratische Verteilung der kolonialen Latifundien sorgen sollen, wurde
aufgrund des Widerstands der großen Agrarkonzerne aber nicht einmal im
Ansatz realisiert.
## Die Landlosenbewegung MST
Weshalb 1984, direkt nach dem Ende der Militärdiktatur, die
Landlosenbewegung MST (portugiesisch Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem
Terra) gegründet wurde: die größte Bewegung landloser Bauern in
Lateinamerika, die sich für eine radikale Landreform und eine ökologische
Landwirtschaft einsetzt.
Keine andere soziale Bewegung hat mich je so beeindruckt wie die MST: Mit
Besetzungen und Enteignungen konnte sie bereits Landtitel für über 400.000
Familien erkämpfen. Kein Wunder, dass MST seit ihrer Gründung von den
mächtigen brasilianischen Agrotrusts bekämpft wird, jährlich werden
Dutzende von Aktivistinnen ermordet – oder verschwinden spurlos.
Die traumatischste Attacke der Staatsmacht trug sich nahe der Stadt Marabá
im brasilianischen Amazonas-Staat Pará zu. Dort wurden am 17. April 1996
auf einer Straße durch den Regenwald des Amazonas 19 Aktivisten anlässlich
eines „Marsches für die Landreform“ von der Militärpolizei erschossen –…
heute kam es zu keinem tragfähigen Prozess.
## Antigone im Amazonas
Auf Einladung der Landlosenbewegung begann ich [1][im Frühjahr 2020
gemeinsam mit den Überlebenden des Massakers das Stück „Antigone im
Amazonas“] zu inszenieren. Eine passendere Folie für den
bürgerkriegsähnlichen Kampf um Land in Brasilien zu finden als das
2.500-jährige [2][Stück von Sophokles, wäre schwer gewesen: „Antigone“] …
die Geschichte des Tyrannen Kreon, der seine Macht um jeden Preis erhalten
will – und Antigones, die sich ihm widersetzt.
Der moderne kapitalistische Staat tritt gegen die traditionelle
Gesellschaft an, das Prinzip der Verwertung und des Fortschritts gegen das
Prinzip des Gleichgewichts von Mensch und Natur, Leben und Tod. Dem
„Staatsfeind“ Polyneikes, der Kreon herausfordert, wird sogar das Begräbnis
verweigert – wie vielen der ermordeten und dann verschwundenen
Aktivistinnen der MST in den letzten Jahrzehnten.
Eine indigene Schauspielerin und Aktivistin, Kay Sara, spielt in unserer
„Antigone im Amazonas“ die Hauptrolle, der Seher Teiresias wird von dem
indigenen Philosophen und Kapitalismuskritiker Ailton Krenak gespielt. Die
Darstellerin der Ismene, Antigones Schwester, wuchs in einem Quilombo auf,
in einer ursprünglich von entlaufenen Sklaven gegründeten Gemeinschaft.
Der Chor schließlich besteht aus den Überlebenden des Massakers von 1996,
dazu kommen Schauspielerinnen aus Europa und dem Süden Brasiliens: ein
Cast, so widersprüchlich wie die brasilianische Gesellschaft selbst.
## In der Pandemie Proben online
Die erste Probenphase war von Covid unterbrochen worden (ich berichtete in
dieser Zeitung), wir gründeten die „School of Resistance“ und arbeiteten
online weiter. Im März 2023 schließlich begann die Probenarbeit an
„Antigone im Amazonas“ von neuem, und am 17. April besetzten wir gemeinsam
mit Hunderten von Aktivistinnen die Bundesstraße durch den Regenwald, am
Ort und zum Jahrestag des Massakers. Gemeinsam mit den Überlebenden
reenacteten wir das brutalste Beispiel brasilianischer Polizeigewalt – bis
in alle Details.
Die Sperrung der Straße, auf der Tausende von Lastern täglich Eisenerz,
Soja, Holz, Palmöl und Rindfleisch an die Küsten bringen, provozierte einen
Skandal in den brasilianischen Medien. Ein Fake, eine Provokation sei die
Reinszenierung des Massakers durch die Überlebenden und ihre Nachkommen,
hieß es auf Bolsonaro-nahen Blogs und Portalen. Die Bundespolizei versuchte
im letzten Augenblick, die Aufführung zu verhindern, was aber angesichts
der versammelten 500 Aktivisten, Politiker und Journalisten nicht gelang.
Und wie so oft, wenn vergangenes Unglück reenactet wird, lag in dem
radikalen künstlerischen Akt der Aneignung und Dissidenz ein Vorglänzen
zukünftiger Gerechtigkeit. Die Besetzung einer der Hauptschlagadern der
Zerstörung des Amazonas wurde für einige Tage zum Laboratorium einer
Gegengeschichte zu einem halben Jahrtausend der Eroberung, Unterwerfung und
Ausbeutung.
Oder wie es eine der Überlebenden aus dem Chor beschreibt: „Es war hart,
das alles noch einmal zu spielen. Aber es hat mir gezeigt, wie nötig unser
Kampf ist.“ Was aber bleibt von der Aktion? Im Folgenden einige –
vorläufige – Lektionen aus unserer Zusammenarbeit mit der MST.
## Augusto Boal und Werner Herzog
Der Chor ist die Hauptperson. Célia Maracajà, die in der „Antigone im
Amazonas“ Kreons Ehefrau Eurydice spielt, ist wie Kay Sara eine indigene
Aktivistin. In den 80ern arbeitete sie eine Zeitlang zusammen mit Augusto
Boal und dann – eine absurde Koinzidenz – mit Werner Herzog.
Indigene oder überhaupt brasilianische Darstellerinnen traten in Herzogs
„Cobra Verde“, der zum Teil in der legendären Amazonas-Goldmine Serra
Pelada – 20 Minuten entfernt vom Ort unserer Straßensperrung – gedreht
wurde, bestenfalls als stumme Gehilfen des Übermenschen Klaus Kinski auf.
„Aber für mich waren sie die eigentlichen Hauptdarsteller“, so Célia.
Und so ist es auch in unserer „Antigone im Amazonas“: Der Chor der MST, das
indigen-aktivistische Kollektiv ist der Protagonist, im Stück, bei der
Besetzung und natürlich in der realen politischen Arbeit.
Während linke europäische Bewegungen oft an den Minimaldissensen ihrer
Mitglieder zerbrechen – und Chöre auf europäischen Bühnen rhythmisch
trainierte, aber politisch bewusstlose Klangkörper sind – spannen in der
Landlosenbewegung Nachkommen der Versklavten, Wanderarbeiterinnen, indigene
Aktivistinnen und queere Kämpferinnen zusammen. Es sind gerade ihre
ständigen, täglich ausgetragenen Meinungsverschiedenheiten, die sie
vereinen und ihren Kampf unwiderstehlich machen.
Diese fast magische Macht der MST, Dissens in Energie zu verwandeln, zeigte
sich auch beim Einsatz der Bundespolizei. Eine Sprecherin der MST machte
den Schwerbewaffneten klar, dass die Besetzung im Sinne aller war. Das
Unglaubliche geschah: Die Polizisten halfen bei der Straßensperrung – und
schauten sich das Reenactment der Verbrechen ihrer Vorgänger an.
## Durchsetzung der Landreform
Wir kultivieren das Land und das Land kultiviert uns: So lautet einer der
schönsten Slogans der Landlosenbewegung. Als eine der ganz wenigen sozialen
Bewegungen kennt der Kampf der MST nur eine einzige Forderung: die
Durchsetzung der Landreform. Die Geschichte der MST ist deshalb wie erwähnt
nicht nur eine Geschichte der äußeren, sondern auch der inneren Kämpfe.
Viele der Überlebenden des Massakers, die bei uns im Chor mitspielen, kamen
zuerst als Goldsucher in den Amazonas, einer meiner Hauptdarsteller
arbeitete in der Serra Pelada – und war damit logischer Feind der
Indigenen. Sein Wunsch auf ein Stück Land steht im diametralen Widerspruch
zur indigenen Kosmologie, die Land nicht als Besitz, sondern als
gesamtheitliches Territorium, als geteilten Lebensraum von Mensch und Natur
versteht.
Vierzig Jahre voller Auseinandersetzungen hat das Verhältnis der MST zur
Landfrage in ein gesamtheitliches verwandelt, sogar der im Grund
kapitalistische Begriff „landlos“ stand immer wieder zur Debatte.
Entstanden ist dadurch, im Herzen des brasilianischen Ultrakapitalismus,
auf besetzten Monokulturen und Bundesstraßen, tatsächlich so etwas wie eine
Nation: die von Millionen gelebte Utopie einer Ökonomie im ursprünglichen
Wortsinn. Eines gemeinsamen „Hauses“ der Einheimischen und Zugezogenen, in
dem Land und Landarbeiter sich gegenseitig kultivieren und Identitäts-,
Besitz- und ökologische Fragen den gleichen Stellenwert einnehmen.
## Brasilianische Industrie des Greenwashings
Nachhaltige Zerstörung. Wenn es einen Begriff gibt, den die
Landlosenbewegung und indigene Aktivistinnen gleichermaßen ablehnen, dann
ist es der neoliberale Begriff der „Nachhaltigkeit“. In den letzten zehn
Jahren hat sich das brasilianische Agrobusiness in eine milliardenschwere
Industrie des Greenwashings verwandelt.
Wie in einem kafkaesken Wachtraum wird die sich ständig beschleunigende
Vernichtung des Regenwalds im Rahmen von abstrakten CO2-Deals, nur auf dem
Papier existierenden Schutzwäldern und immer neuen „Alternativen“ für
traditionelle Extraktionsmethoden als Lösung präsentiert.
Im Amazonas heißt Nachhaltigkeit: Der dringend nötige Rodungsstopp wird
nicht nur aufgeschoben, sondern der Aufschub selbst wird von globalen
Lobbies kapitalisiert. So kommt es, dass etwa der aus Amazonas-Soja
hergestellte Biodiesel – der für riesige Rodungen verantwortlich ist und
dadurch dreimal mehr CO2 verursacht als fossiler Diesel – in der EU per
Gesetz jedem Treibstoff beigemischt werden muss.
## Ferrero, Nestlé oder Danone
Für die Indigenen und Kleinbauern sind die Probleme aber noch viel
existenzieller: Der brasilianische Konzern Agropalma etwa,
Palmöl-Zulieferer von unter anderem Ferrero, Nestlé oder Danone, ist
gemessen an der Zahl der gegen ihn laufenden Prozesse wegen Verbrechen
gegen Mensch und Natur einer der kriminellsten Konzerne der Welt. Trotzdem
verfügt Agropalma über ein halbes Dutzend grüner Zertifikate, darunter das
offizielle Biolabel der EU. Und feiert, gemeinsam mit seinen europäischen
Abnehmern, sein Palmöl als „sustainable“, seine Firmenphilosophie als
„diverse“.
All diesen Widersprüchen – dem Fortbestand kolonialer Besitzverhältnisse,
der Vernichtung der Natur und der Vertreibung der Indigenen hinter der
Rhetorik der Nachhaltigkeit und der Diversität – schleudert die
Landlosenbewegung das radikale „Nein“ Antigones ins Gesicht. Oder wie unser
Teiresias, der indigene Philosoph Ailton Krenak, mir kürzlich sagte: „Ich
will kein Elektroauto. Ich will überhaupt kein Auto.“
Auf die alteuropäische manisch-depressive Ästhetik der Eroberung und der
Heldenreise auf der einen und der Schuldgefühle und der Melancholie auf der
anderen antwortet MST mit einer Philosophie des fröhlichen Kampfs und des
Lebens im Kollektiv. Sie ist damit, mit ihren Schulen, Kooperativen,
Kongressen, Theaterstücken, Besetzungen, mit ihren Feldern und Feiern viel
mehr als eine soziale Bewegung.
MST ist das radikale Nein zur kapitalistischen Wunsch- und Traummaschine,
die Realutopie einer Gemeinschaft, die einer Ökologie und Ästhetik der
radikalen Sorge folgt: nicht kolonisieren, sondern koexistieren, nicht zum
Mars fliegen, sondern endlich auf der Erde landen! Denn „wir werden nichts
kolonisieren“, so Krenak. „Das einzige, was wir kolonisiert haben, ist die
Erde. Und das ist schiefgelaufen.“
30 Apr 2023
## LINKS
[1] /Theaterprojekt-mit-Landlosen-in-Brasilien/!5670534
[2] /Antigone-Inszenierung-in-Berlin/!5926046
## AUTOREN
Milo Rau
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