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# taz.de -- In der Krisenwelt an Schönes denken: Blues und Bäume
> Die ökologische, die politisch-soziale und die kulturelle Katastrophe
> verstärken einander. Kann man da noch an etwas denken, was einfach schön
> ist?
Bild: Einfach schön? Mensch und Hund an einem kalten Wintertag in Chalet-a-Gob…
Worüber könnte man nicht alles sinnieren und sprechen in dieser Welt! Zum
Beispiel von einer neuen Generation von afroamerikanischen
[1][Bluesmusikern], die eine traumhafte Balance zwischen Tradition und
Aktualität finden: King Solomon Hicks, Christone Kingfish Ingram, Buffalo
Nichols oder auch – white female soul – Veronica Lewis. Oder, ganz was
anderes, über kulturelle [2][Vagina-Repräsentationen jenseits von pfui und
geil], im „Einfach schön“-Modus vielleicht.
Da könnte man sich einen Abstecher in die Legende eines Gemäldes leisten,
welches das Arbeitszimmer von Sigmund Freud geschmückt haben soll, aber
beständig verhangen werden musste, zumal, wenn weibliche Besucher zu
empfangen waren: Gustave Courbets „Der Ursprung der Welt“ aus dem Jahr
1866, mit 46 mal 55 cm nicht eben eine Miniatur zum Verstecken – und auch
der Titel ist ein späterer Euphemismus, während man das Gemälde so
beschnitten hat, dass das Gesicht der Frau verloren ging … Welch ein
mytho-poetischer Horrorslapstick!
Die Trennung des Geschlechts vom Menschen, die mehr oder weniger gewaltsame
Allegorisierung und dann dieses panisch-komische Spiel von Ver- und
Enthüllungen im Geburtshaus der Psychoanalyse – als Symptom, vielleicht,
[3][der phallomanischen Moderne des mitteleuropäischen Bürgertums].
Schließlich könnte man über Gegenwärtigkeit als Kunst-Ziel nachdenken. In
unserer Kunst, in Literatur und Film wird die Gegenwart scharf angesehen,
doch sie schaut als etwas Fremdes und Fernes zurück. Als wäre der Preis für
genauere Darstellung der Gegenwart der Verzicht auf Gegenwärtigkeit.
So führte vielleicht ein Schlenker über [4][Virginia Woolf] oder James
Joyce – womöglich auf weniger ausgetrampelte Pfade zu Erkenntnis und Glück.
Aber ach, die Verhältnisse, sie sind nicht so. Wir leben, wieder einmal, in
finsteren Zeiten. Und in denen müssen sich Themen wie diese den Vergleich
mit den Bäumen aus Bert Brechts Gedicht gefallen lassen, von denen zu
sprechen fast einem Verbrechen gleichkommt, weil es ein Schweigen über so
viel anderes bedeutet. Wir leben in einer dreifachen
Katastrophen-Erzählung, und kaum einem Gedanken kann und darf es noch
gelingen, sich von der Bindung an dieses unheilige narrative Dreieck zu
trennen:
## Dreiklang der Katastrophe
[5][Die ökologische Katastrophe]. Unabwendbar. Offenbar nicht trotz,
sondern noch beschleunigt durch eine Teilnahme der Grünen und ihrer
Klientel an Regierung und Diskurs. Ist es noch fünf nach zwölf oder doch
schon zehn nach? Die politisch-soziale Katastrophe. Offensichtlich
ebenfalls unabwendbar. Der Aufstieg der populistischen Autokratien
einschließlich ihrer Gewalt- und Kriegslüsternheit und die furchtbare
Allianz von Neoliberalismus, Populismus und „Post“-Faschismus … [6][Wenn
man sich in Italien umsieht], weiß man nicht, was erschreckender ist, der
Aufstieg der Rechtsextremen zur Regentschaft, der desolate, wenn nicht
suizidale Zustand der Linken oder die narzisstische Ignoranz der
Mainstream-Gesellschaft.
Diesseits der Alpen haben wir statt Meloni, Berlusconi und Salvini ein Trio
infernale von Lindner, Söder und Merz, und die Linke … reden wir von was
anderem, nämlich von der kulturellen Katastrophe. Das ist eine
Bildungskatastrophe, eine semantische Katastrophe und eine Katastrophe der
kulturellen Infrastruktur. Die Ver-Bild-ung und Verdschungelcampung hat
längst auf die einstigen „bürgerlichen“ Leitmedien übergegriffen, auf die
demokratische Utopie vom Zugang zu Bildung, Kultur und Kritik für alle ist
das populistische Marketing von Verblödung für alle gefolgt.
## Wechselwirkungen
Der Trick der Dreifach-Katastrophe liegt in ihren Wechselwirkungen. Auf der
einen Seite verstärkt jede der Krisen die beiden anderen. Verblödete
Menschen sind nicht in der Lage, die ökologische oder politische Krise zu
bearbeiten; angstzerfressene Menschen sind nicht in der Lage, Kultur als
Medium der sozialen Verbesserung zu begreifen; Prekarisierung macht
allenthalben erpressbar. Und zum anderen führt jeder Fortschritt an einer
der Katastrophen-Fronten, wie es scheint, automatisch zur Verschlechterung
der Lage an den anderen. Mit jedem ökologischen oder kulturellen
Fortschritt, und sei er noch so bescheiden, lockt man weitere Kräfte
[7][von der „konservativen“ auf die faschisierte Seite]; für jeden noch so
bescheidenen Schritt der sozialen Gerechtigkeit verlangt die
politisch-ökonomische Agentur des Kapitals ein ökologisches Opfer.
Bei allem Respekt für Menschen, die sich gegen die eine oder die andere der
Katastrophen zur Wehr setzen, und bei allem Zorn auf die „Konservativen“,
die sich durch deren Kriminalisierung bei ihren (gar nicht mehr so
post-)faschistischen Verbündeten in spe und ihren kapitalen Finanziers
beliebt machen wollen: Wenn eine Katastrophe nicht mehr die Form eines
dramatischen Ereignisses, sondern die eines Systems angenommen hat, dann
gibt es wohl nur eine einzige Hoffnung auf Verbesserung, nämlich die
Forderung nach einem fundamentalen Systemwechsel.
## Ein bisschen Lust am Leben
Horcht man indes in sich hinein, was man durchaus gelegentlich tun sollte,
dann tönt es mal verzagt, mal auftrumpfend zurück: Ja, aber … Und
spätestens dann könnte man begreifen, dass die Katastrophe kein äußeres
Geschehen allein ist, sondern sich auch im Inneren abspielt. Dort wo sich
kampfpanzerartige Gedanken mit Testergebnissen von veganen Grillwürsten und
Nachrichten von der Zinsgestaltung der EZB im Kreis jagen.
Wie wäre da noch an was zu denken, was „einfach schön“ ist? Beim Bächlein
helle nicht zugleich an die Verschmutzung, bei Bäumen nicht an Rodungen für
den nächsten Wachstumswahn, beim Himmel nicht an Drohnenangriffe? Sollen
wir uns wehren aus Angst vor dem Sterben, oder wenigstens ein bisschen noch
aus Lust am Leben? Manchmal ist es vielleicht doch nicht schlecht, sich
einen unausgetrampelten Pfad zu Erkenntnis und Glück zu suchen. Und wenn’s
aus Trotz ist.
8 Feb 2023
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## AUTOREN
Georg Seeßlen
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Faschismus
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