| # taz.de -- Das Wirtschaftswachstum und ich: Konsum ist keine Lösung | |
| > Wohlstand geht nur durch Wirtschaftswachstum: Das ist eine | |
| > Milchmännchenrechnung, mit der ich mich gar nicht wohl fühle. Wir sollten | |
| > das System ändern. | |
| Bild: Konsum macht Müll – hier an der Alsterwiese Schwanenwik in Hamburg | |
| Manches verstehe ich einfach nicht. Zum Beispiel, wie diese unfassbar | |
| vielen unterschiedlichen Lebensformen in der Natur nur durch Mutation und | |
| Selektion entstehen konnten. Oder warum mein Drucker immer genau dann, wenn | |
| ich es eilig habe, minutenlang herumrödelt und seltsame Geräusche macht, | |
| bevor er mir ein Blatt bedruckt. Aber ich hinterfrage diese Dinge nicht | |
| mehr, ich staune nur noch. | |
| Etwas schwerer fällt mir das bei anderen mysteriösen Phänomenen, zum | |
| Beispiel unserer Gläubigkeit an Heilsbringung durch Wirtschaftswachstum – | |
| also durch Konsum. Auf einem Planeten mit gleichbleibender Größe kann nun | |
| mal [1][nichts unendlich wachsen]. Wer behauptet, die Wirtschaft oder eine | |
| Bohnenranke könnten das, erzählt Märchen. Eigentlich wissen wir das ja, | |
| aber weil wir gerade keine Alternative kennen, machen wir so weiter und | |
| zerstören unsere Lebensgrundlage. | |
| Bei der apokalyptischen Rhetorik, mit der vom Absturz in die | |
| [2][Konjunkturkrise] berichtet wird, wundere ich mich, dass man noch nicht | |
| von der Konjunkturkatastrophe spricht. Um sich nebenbei um Banales wie den | |
| [3][Klimawandel] kümmern zu können, muss erst mal die Wirtschaft boomen, | |
| sonst gibt es angeblich kein Geld und auch nicht die Innovationen, die wir | |
| benötigen, um die Erde zu retten. Funfact: Die Kosten, die wir aufwenden | |
| müssen, um Umweltkatastrophen zu bekämpfen, steigern unser | |
| Bruttoinlandsprodukt sogar noch – und somit vermeintlich auch unseren | |
| Wohlstand. Das ist krank! | |
| Dabei gibt es so viele Menschen, die Sehnsucht nach einer ganz anderen Form | |
| von Lebensqualität haben, mit mehr Natur, Gemeinschaft und Sinn anstelle | |
| von materiellem Konsum. Vielleicht sind [4][Tauschregale], | |
| [5][Repair-Cafés] und Nachbarschaftskooperativen schon eine Form von | |
| Widerstand. | |
| Ich persönlich verabscheue „Shopping“, bin aber leider weit davon entfernt, | |
| weniger Dinge zu besitzen. Was ich noch mal brauchen könnte, bewahre ich | |
| auf, und aus dem Rest will ich irgendwann Kunst machen. | |
| Einmal, bei einem Frühstück mit einer Freundin, bevorratete sich ihr | |
| zweijähriger Sohn mit einem Berg Brötchen. Auf die Frage, ob er die alle | |
| essen wolle, antwortete er trocken: „Erst mal haben!“ Genau gegen dieses | |
| kleinkindliche (wahrscheinlich urmenschliche) Gefühl muss ich ständig | |
| ankämpfen. Zum Beispiel beim Kleidertausch oder wenn ich Treibholz sammele | |
| oder Obst einkoche. Nach „neuen“ Dingen gelüstet es mich zum Glück selten. | |
| Ich habe mehr Freude an einem guten Sperrmüllfund – zum Leidwesen meines | |
| Mannes. Aber auch ihn könnte ein gekaufter Steinpilz nie so glücklich | |
| machen wie ein gefundener. Ihn erfüllt auch jede Benutzung unseres | |
| Kaffeevollautomaten mit dem stolzen Gefühl, dem Scheißkonzern (der sich | |
| zwei Monate nach Ablauf der Garantie weigerte, ihn zu reparieren) ganz | |
| persönlich eins ausgewischt zu haben, indem er ihn seitdem in stundenlanger | |
| Tüftelarbeit immer wieder selbst in Ordnung bringt. Nie wieder wird | |
| Matthias so ein Ding kaufen, dann lieber Filterkaffee! | |
| Wenn man allerdings hört, welche Auswirkungen eine Rezession gerade auf die | |
| Geringverdiener hat – sollte man wohl beim [6][Konsumverzicht] ein | |
| schlechtes Gewissen haben. Ich gehe freiwillig im Rotkreuz-Laden einkaufen | |
| und fühle mich dabei noch besonders nachhaltig. Aber meine Freundin, die | |
| über 20 Jahre von der Grundsicherung leben musste, fühlt sich dort beschämt | |
| und entwürdigt. | |
| Man müsste eben doch das System ändern. Anstelle des Wirtschaftswachstums | |
| könnten wir beispielsweise „Mutter Erde“ anbeten, oder von mir aus auch | |
| meinen alten Tintenstrahldrucker, nur bitte nicht immer weiter so. | |
| 4 Sep 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Birte Müller | |
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