| # taz.de -- Landwirtschaft der Zukunft: Im virtuellen Gewächshaus | |
| > Wie schaffen wir es, dass auch weiterhin 8 Milliarden Menschen satt | |
| > werden? Der Geoökologe Claas Nendel lässt Nutzpflanzen in der Zukunft | |
| > wachsen. | |
| Bild: Diese Sojapflanze steht in Brasilien. In 30 Jahren könnte sie auch in No… | |
| Müncheberg taz | Wenn Claas Nendel testet, wie Soja auf Hitze reagiert, | |
| setzt er die Pflanze nicht der Sonne aus, sondern einem Koeffizienten | |
| namens „EndSensitivePhaseHeatStress:[ 540,°C d.]“. Denn Nendel – Wollpul… | |
| Glatze, randlose Brille – züchtet hauptberuflich virtuelle Pflanzen. „Mein | |
| Gewächshaus ist der Computer“, sagt der 50-jährige Geoökologe, der auch als | |
| Professor an der Universität Potsdam lehrt. „Atmung, Photosynthese, | |
| Entwicklung, Ertrag – alles funktioniert wie bei einem richtigen Gewächs.“ | |
| Anders ist, dass die Früchte seiner Arbeit nicht aus Getreidekörnern oder | |
| Kartoffeln bestehen, sondern aus mathematischen Formeln. Jede Eigenschaft | |
| und jede Außeneinwirkung, wie das Wetter, wird mit einem Koeffizienten | |
| beschrieben. Nendel sitzt im Haus 45 vom ZALF, dem Leibniz-Zentrum für | |
| Agrarlandschaftsforschung, in Müncheberg. Die Kleinstadt in Ostbrandenburg | |
| nennt sich selbst „Forscherstadt“. 1928 wurde hier das | |
| Kaiser-Wilhelm-Institut für Züchtungsforschung gegründet, eine der ersten | |
| Wissenschaftseinrichtungen, die sich der Kulturpflanzenzucht widmete. | |
| Pflanzenzüchtung hat in Müncheberg also Tradition, im Computer aber ist sie | |
| neu. | |
| Nendels Ziel ist es, virtuelle Pflanzen in der Zukunft wachsen zu lassen, | |
| um herauszufinden, wie sie auf den [1][Klimawandel] reagieren. Dafür | |
| projiziert er sie in eine Welt, in der die Menschheit keinen Klimaschutz | |
| betrieben hat, ins sogenannte RCP8.5-Szenario des Weltklimarates. Es | |
| beschreibt den Worst Case, bei dem die Durchschnittstemperatur in | |
| Deutschland Mitte des Jahrhunderts bereits zwei Grad wärmer sein wird. | |
| Parallel erforscht Nendel, was mit den Pflanzen passiert, wenn doch strenge | |
| Emissionsminderungen umgesetzt würden. | |
| „Um [2][acht Milliarden Menschen] satt zu bekommen, müssen wir unsere | |
| Ernährung neu denken“, sagt Claas Nendel. Denn der Klimawandel, der den | |
| Meeresspiegel ansteigen lässt, wodurch Ackerböden in den tiefen Lagen | |
| Bangladeschs, in Vietnam oder Niedersachsen versalzen, ist nur das eine | |
| Problem. Zusätzlich geht weltweit immer mehr Anbaufläche verloren, weil sie | |
| versiegelt, vergiftet oder übernutzt wird. Nendel möchte Bauern durch seine | |
| Forschung auf diese Schwierigkeiten vorbereiten und ihnen Anbauchancen | |
| zeigen. | |
| ## Mehr Soja hieße auch mehr Fläche | |
| „Soja könnte uns zum Beispiel helfen“, sagt Nendel. Er hat gerade ein | |
| Forschungsprojekt abgeschlossen, das die Anbaubedingungen dieser | |
| Hülsenfrucht in unseren Breiten untersucht. Das Besondere an den Bohnen: | |
| Sie enthalten bis zu 37 Prozent Eiweiß. Und die Qualität des Sojaproteins | |
| ist mit der von tierischem Eiweiß vergleichbar. Würden wir uns von Soja | |
| ernähren und auf tierisches Protein verzichten, wäre das ein klarer | |
| Vorteil, meint Nendel: „Wir sparen Fläche, die wir nicht mehr haben.“ Denn | |
| Tiere brauchen für die gleiche Menge Protein viel mehr Fläche. | |
| Der Nachteil: Sojapflanzen wachsen in Mitteleuropa nicht sehr gut. Während | |
| in Brasilien vor zwei Jahren 74 Millionen Tonnen Bohnen geerntet wurden, | |
| waren es in Deutschland 90.000 Tonnen. Ein Grund dafür ist unser gemäßigtes | |
| Klima, die Sojabohne mag es warm und trocken. Und Soja ist eine | |
| Kurztagpflanze, sie leidet unter den hiesigen langen Sommertagen. | |
| Claas Nendel schaut sich die Ergebnisse seiner Soja-Studie, die noch nicht | |
| veröffentlicht wurde, auf dem Computer an. Rote und gelbe Flächen | |
| erscheinen auf einer Europakarte. „Die roten Punkte belegen: Mit der | |
| Klimaerwärmung wird Sojaanbau Mitte des Jahrhunderts auch in ganz | |
| Deutschland möglich“, erklärt er. Um zu diesem Schluss zu kommen, hat der | |
| Wissenschaftler mit seinem Team virtuelles Soja im um 2050 vorherrschenden | |
| Klima angebaut, selbst in Norddeutschland gedieh die Saat. Neue Züchtungen | |
| würden mit den lauen Sommernächten besser zurechtkommen. | |
| Traditionelle Nutzpflanzen werden dagegen Schwierigkeiten mit der | |
| steigenden Klimaerhitzung bekommen. [3][Weizen könnte zum Problemfall | |
| werden], sagt Nendel: „Ist es bei seiner Blüte zu heiß, wird er steril.“ | |
| Die heißer werdenden Frühlingsmonate oder die zunehmende Trockenheit | |
| sorgten dafür, dass keine Körner mehr entstehen. „Wir wissen nicht genau, | |
| wie wir damit umgehen sollen“, gibt er zu. | |
| ## Es fehlt agronomisches Wissen | |
| Die Forschenden überlegen, ob man sich bei Hirse oder Linsen etwas | |
| abschauen könnte. „Das spannende an diesen Kulturen ist, sie hören einfach | |
| auf zu wachsen, wenn es zu trocken wird und warten auf bessere | |
| Bedingungen“, erklärt Nendel. Gerste oder Roggen haben solche Eigenschaften | |
| nicht, „sie gehen bei anhaltender Trockenheit in die Notreife“. Bauern | |
| sprechen dann vom „Schmachtkorn“: kleine Körner mit wenig Inhalt. Linsen | |
| und Hirse sei eine Zeit ohne Nass dagegen egal, wenn es wieder regne, | |
| wechselten sie aus dem Wartezustand in den Wachstumszustand zurück. | |
| „Was fehlt, ist agronomisches Wissen“, sagt Claas Nendel: „Wie sind die | |
| Fruchtfolgen? Wie kontrollieren wir die Verunkrautung? Welchen | |
| Pflanzenschutz brauchen wir? Wir müssen das ausprobieren!“Deshalb züchten | |
| Nendel und sein Team nicht nur virtuelle Pflanzen. Hinter dem Bürokomplex | |
| liegt ein zwei Hektar großes Versuchsfeld, wo im Sommer echter Mais, Soja, | |
| Lupinen und Roggen wachsen, der an seiner grün-bläulichen Farbe zu erkennen | |
| ist. | |
| Über den Saaten drehen dann Drachen im Wind, um Vögel zu verscheuchen, die | |
| das Messergebnis verfälschen könnten. Gegen die Kaninchen werden | |
| Plastikfüchse aufgestellt. „Im Boden sind Hunderte von Sensoren | |
| eingelassen“, sagt Claas Nendel als Erklärung für die Schaltkästen, die im | |
| Abstand von 20 Metern aufgereiht sind. Gärtner fahren mit Mobilen, die an | |
| Golfplatzbuggys erinnern, durch die Reihen. Neben der mobilen | |
| Beregnungsanlage gibt es einen „Rainout-Shelter“, eine Art Gewächshaus, das | |
| über einem Versuchsfeld Trockenheit simuliert. | |
| „Hier überprüfen wir, ob sich die virtuelle Pflanze richtig verhält“, | |
| erklärt Nendel. „Wir sagen dem Computergewächs, unter welchen Bedingungen | |
| es sich entwickelt, und realisieren exakt die gleichen Bedingungen auf dem | |
| Versuchsfeld.“ Stimmen Parameter wie Größe, Gewicht und Wassergehalt bei | |
| der Computerpflanze mit dem Feldgewächs nach einer Wachstumsperiode | |
| überein, ist das mathematische Modell geeignet, künftige Verhältnisse zu | |
| simulieren. | |
| „Im anderen Fall muss ich nacharbeiten und die virtuelle Pflanze umzüchten | |
| – also realer machen.“ Die Simulation der Wachstumsphasen im Computer ist | |
| im Vergleich zum Experimentieren auf dem Acker schneller und damit | |
| günstiger. Auf dem echten Feld dauert es drei bis vier Jahre, um aus einer | |
| Messreihe Ergebnisse zu ziehen. | |
| ## „Patch Cropping“ ist die Zukunft | |
| Im Labor wird in Müncheberg allerdings nicht umgezüchtet. Claas Nendel hält | |
| Pflanzenzüchtung zwar für einen wichtigen Baustein in der Anpassung an den | |
| Klimawandel, aber nicht für das „Allheilmittel bei der Suche nach der | |
| Ernährungssicherheit der Zukunft“. Die Art der Bodenbearbeitung, unser | |
| Umgang mit dem knapper werdenden Wasser, wie wir Felder bestellen – diese | |
| Fragen seien genauso wichtig. | |
| Nendel glaubt, dass der Traktor schon in wenigen Jahren Geschichte sein | |
| wird. „Stattdessen übernehmen paketgroße mobile Ernteroboter alle Dienste | |
| auf dem Feld: säen, Unkraut jäten, düngen und ernten.“ Er ist überzeugt: | |
| „Felder, wie wir sie heute kennen, wird es Mitte des Jahrhunderts nicht | |
| mehr geben.“ In Zukunft würde viel kleinteiliger angebaut: „Auf sandigen | |
| Kuppen werden trockenresistentere Nutzpflanzen wie Roggen ausgesät, in den | |
| feuchteren Niederungen zum Beispiel Weizen.“ | |
| Ein Versuchsfeld für diese neue Landwirtschaft haben sie in der Nähe von | |
| Müncheberg schon angelegt. Buchweizen wächst neben Gerste, Mais oder | |
| Triticale, einer Kreuzung aus Roggen und Weizen, in einem | |
| Schachbrett-Muster. „Patch Cropping“ heißt diese Anbaumethode in der | |
| Wissenschaft. Claas Nendel ist sich sicher: „Das ist die Zukunft!“ Was noch | |
| fehlt, sind die Ernteroboter. | |
| 27 Nov 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Nick Reimer | |
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