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# taz.de -- Gesundheitsversorgung in Gefängnissen: Krank im Knast
> In deutschen Gefängnissen fehlt es an Geld, Personal und Medikamenten –
> mit teils dramatischen Folgen für die Häftlinge.
Bild: Blick aus einem Fenster auf den Pausenhof des Krankenhauses in Fröndenbe…
Als Peter Bögel wie jeden Tag morgens um sieben von einem Justizbeamten der
JVA Gablingen die Tabletten gereicht bekommt, hinterfragt er nicht, dass er
eine Pille mehr als sonst erhält. Die Medikamente ähneln sich: in hellem
Pink, die gleiche Größe. Bögel denkt sich nicht viel dabei.
Das Prozedere ist schließlich immer das gleiche: Der Beamte nimmt die
Tabletten aus dem mit dem Namen des Häftlings beschrifteten Dispenser und
reicht sie ihm. Er macht den Mund auf, nimmt einen Schluck Wasser, macht
noch mal den Mund auf, um zu zeigen, dass er die Tabletten auch wirklich
geschluckt hat. Der JVA-Beamte kontrolliert und zieht weiter zum nächsten
Häftling. Ein Routinegang.
Doch an diesem Tag im August 2019 ist etwas anders. Ein Beamter holt ihn
knapp drei Stunden später aus seiner Zelle und schickt ihn zur
Krankenschwester der Anstalt. Bögel klagt über Schwäche, Herzstechen,
Gleichgewichtsverlust. Er habe die falschen Medikamente ausgehändigt
bekommen, sagt der Beamte. Die Schwester ruft den Notarzt.
Später notiert sie in einem Protokoll, das der taz vorliegt: „Der
Allgemeinzustand des Gefangenen verschlechterte sich rapide.“ Nur dunkel
erinnert sich Bögel an eine Person in orangefarbener Jacke, die sagt: „Herr
Bögel, bleiben Sie da.“ Im Universitätsklinikum Augsburg wird festgestellt,
dass die Sauerstoffsättigung des Patienten bei seiner Einlieferung bei nur
52 Prozent liegt.
Peter Bögel heißt eigentlich anders. Weil er seine Familie schützen will,
möchte er anonym bleiben. Bögel, 52, kurze Hose, blaue Turnschuhe,
blondgefärbte Spitzen und eine Goldkette um den Hals, ist ein freundlicher
Mann. Seine Schilderungen wirken glaubhaft, die Aussagen decken sich mit
den Schriftstücken des Rechtsanwalts.
Nach seiner Entlassung aus der JVA hat Bögel sich an den Rechtsanwalt
Thomas Galli gewandt, um gegen die JVA Gablingen vorzugehen. Sein Vorwurf:
Der Justizbeamte habe ihm an diesem Tag statt der normalen
Blutdruckmedikamente einen Blutverdünner, Krampfmittel,
Cholesterintabletten, Neuroleptika und das Methadon-Substitut L-Polaflux
gegeben. Das Substitut ist ein Medikament eines anderen Häftlings, das
eigentlich für Heroinabhängige oder bei schweren Schmerzen verwendet wird
und starke Nebenwirkungen haben kann.
Die Dokumente der JVA, die der taz vorliegen, bestätigen die Medikation des
anderen Häftlings. Durch den niedrigen Sauerstoffwert im Blut lässt sich
jedoch nicht feststellen, ob Bögel tatsächlich ein Substitut verabreicht
bekommen hat. Genauso gut kann es ein Zusammenspiel aus den fehlenden
Blutdruckmedikamenten und den Neuroleptika sein, das Bögel in Gefahr
gebracht hat. Er selbst erinnert sich an den Noteinsatz nur schemenhaft.
Der Oberarzt entlässt Bögel schon nach wenigen Stunden. Im Arztbrief steht,
er könne „in stabilem und gebessertem Allgemeinzustand“ in ambulante
Weiterversorgung entlassen werden. Von einer Anzeige sieht Bögel zunächst
ab. Er fürchtet, etwa seine Hafterleichterungen zu verlieren oder gar die
vorzeitige Entlassung zu riskieren.
Die JVA Gablingen räumt zwar ein, dass Bögel die falschen Medikamente
ausgehändigt bekommen hat, bestreitet jedoch, ihm das Heroinsubstitut
gegeben zu haben. Diese Medikamente würden in der JVA nur unter besonderen
Sicherheitsvorkehrungen ausgegeben.
Tatsächlich ist im Betäubungsmittelgesetz geregelt, dass nur medizinisch
geschultes Personal oder staatlich anerkannte Drogenhilfeeinrichtungen
Substitute ausgeben dürfen, nicht jedoch einfache JVA-Beamte. Bögel
hingegen sagt, die Häftlinge hätten während seiner Haftzeit alle
Medikamente regelmäßig von Beamten ohne Prüfung durch Fingerabdruck
bekommen, auch die Substitute.
Fragt man die JVA, wie es dazu kommen konnte, dass der Häftling ein
falsches Medikament verabreicht bekommen hat, spricht diese von einem
„bedauerlichen Versehen“. Aufgrund der Vielzahl an unterschiedlichen
Medikamenten könne leicht die Übersicht verloren gehen, sagt ein Sprecher.
Bögel habe sich „zu keiner Zeit in Lebensgefahr“ befunden.
Weiter heißt es: „Die normale, aber insgesamt niedrig-normale
Sauerstoffsättigung ist nach Einschätzung des ärztlichen Dienstes der
Justizvollzugsanstalt Augsburg-Gablingen eher auf den langjährigen schweren
Nikotinmissbrauch von Herrn Bögel zurückzuführen als auf die einmalige
falsche Medikamentengabe.“
Ein Arzt des Leipziger Universitätsklinikums hingegen sagt der taz, der
Sauerstoffwert im Blut sollte zwischen 95 und 99 Prozent liegen. [1][So ist
es auch in medizinischer Fachliteratur nachzulesen.] Auch bei Raucher:innen
ist ein Wert von 52 Prozent kein Normalzustand – sondern lebensbedrohlich.
Wie kann es passieren, dass Häftlinge falsche Medikamente ausgehändigt
bekommen, die sie in Lebensgefahr bringen? Recherchen der taz zeigen, dass
solche Vorkommnisse kein Einzelfall sind. Immer wieder gibt es in deutschen
Gefängnissen Fälle, in denen Gefangene falsch oder unzulänglich medizinisch
versorgt werden; fehlende Hepatitisbehandlungen, falsche Tuberkulosetests,
Isolation gesunder Häftlinge aufgrund mangelnder Prüfung.
## Strafe statt Behandlung
Ein Blick auf die Gesundheitsausgaben der vergangenen zehn Jahre in allen
deutschen Bundesländern zeigt: Auch wenn die Ausgaben flächendeckend
gestiegen sind, liegen sie in den meisten Bundesländern dennoch weit unter
den durchschnittlichen Gesundheitsausgaben der gesetzlichen Krankenkassen,
obwohl der Bedarf in Gefängnissen oft weitaus höher ist. An vielen Stellen
fehlt es an Medikamenten und medizinischem Personal. Gefangene in
Deutschland sind Patient:innen zweiter Klasse.
Zum Stichtag 31. März 2019 waren laut Statistischem Bundesamt in
Deutschland 65.796 Personen in Haft, was 90 Prozent der gesamten
Belegungskapazität entspricht. Schon eine Auslastung von 85 bis 90 Prozent
gilt im Strafvollzug als übervoll. Und das bundesweit. Seit der
Föderalismusreform 2006 obliegt die Gesetzgebung des Strafvollzugs dem
jeweiligen Bundesland.
Demnach gibt es keine einheitliche Regelung zur Gesundheitsversorgung,
geschweige denn ein Gesetz zur Höhe der Gesundheitsausgaben oder des
Personalschlüssels. Dessen ungeachtet muss der Staat eine medizinische
Versorgung „nach dem allgemeinen Standard der gesetzlichen Krankenkassen“
sicherstellen. Dieser „Äquivalenzgrundsatz“ ist in den
Strafvollzugsgesetzen der Länder klar formuliert.
Wenn ein Häftling krank wird, dann hat er im Gegensatz zu
Kassenpatient:innen das Recht, schnellstmöglich eine Ärztin oder einen Arzt
zu konsultieren, statt auf einen Termin zu warten. Die Ärztin untersucht,
sie verschreibt vielleicht ein Medikament oder veranlasst eine Überweisung
zu einem Facharzt. Eigentlich kein besonders schwieriges Verfahren.
Dennoch berichten Gefangene immer wieder von Mängeln in der
Gesundheitsversorgung. Auch, weil die Medikamente zwar von medizinischem
Fachpersonal in Dispenser gefüllt werden, die Ausgabe jedoch oftmals durch
ungeschulte Beamt:innen erfolgt wie im Fall Bögel.
Das Äquivalenzprinzip werde häufig nicht eingehalten, sagen Kritiker:innen
wie Christine Graebsch. Sie ist Professorin an der Fachhochschule Dortmund
und Expertin für Straf- und Migrationsrecht. Außerdem vertritt sie immer
wieder Gefangene als Verteidigerin. Als langjähriges Mitglied des
Strafvollzugsarchivs hat sie unzählige Geschichten von Häftlingen
begleitet. Sie sagt, die Gesundheitsversorgung in deutschen
Justizvollzugsanstalten entspreche nicht dem bundesdeutschen Standard.
„Das Hauptproblem ist, dass der Strafgedanke sehr stark ist“, sagt
Graebsch. „Das darf er aber bei der medizinischen Versorgung nicht sein.“
Oftmals werde Häftlingen eine medizinische Betreuung sogar verwehrt. Im
Juni vertrat sie einen Gefangenen vor dem Amtsgericht Augsburg. Er hatte
den Anstaltsarzt in der JVA Kaisheim im August 2019 wegen „Körperverletzung
durch Unterlassen“ angezeigt und ihm vorgeworfen, eine
Hepatitis-C-Behandlung verweigert zu haben.
Der Arzt hatte Gegenanzeige gestellt, die Staatsanwaltschaft den Gefangenen
schließlich wegen falscher Verdächtigung und Verleumdung angeklagt. Der
Gefangene wurde freigesprochen. Gegen den Arzt hingegen wurde nie
ermittelt.
## Problem im System
Die durchschnittlichen Gesundheitsausgaben pro Gefangenen in den meisten
Bundesländern liegen deutlich unter den Werten der gesetzlichen
Krankenversicherung (GKV). Während die Ausgaben der GKV pro Kopf im Jahr
2019 bei 3.108 Euro lagen, waren es beispielsweise in Sachsen im
Justizvollzug nur 1.942 Euro pro Person.
Das sächsische Justizministerium sagt auf taz-Anfrage, dass „ein Vergleich
zwischen den Gesundheitskosten für Gefangene und den Gesundheitskosten der
Allgemeinbevölkerung aber kaum möglich“ sei, und verweist auf Unterschiede
in Alter, Geschlecht und Berechnung der Kosten.
Dennoch müssten die Zahlen bei Gefangenen deutlich höher sein. Denn die
Mehrheit der Inhaftierten ist zwar jünger als der deutsche Durchschnitt,
aber überdurchschnittlich vorbelastet. Viele sind substanzabhängig, haben
schwere psychische Krankheiten.
„Nach meiner Erfahrung haben Inhaftierte einen überdurchschnittlich hohen
medizinischen Behandlungsbedarf“, sagt der Rechtsanwalt Thomas Galli. „Die
Haft ist eine Belastung für Körper und Seele. Eine hauptamtliche ärztliche
Betreuung der Justizvollzugsanstalten ist daher dringend notwendig und
letztlich ein Gebot der Menschenwürde.“ Es sei jedoch kein ernsthafter
Wille da, das Problem zu lösen.
Galli, 47 Jahre, groß, graue Locken, schwarzes Hemd, weiß viel über
deutsche Justizvollzugsanstalten. Zahlreiche Bücher zum Thema und Akten
seiner Mandant:innen, vor allem Häftlinge und Ex-Häftlinge, stapeln sich in
seiner Augsburger Kanzlei. Er ist einer der größten Kritiker des Systems
Gefängnis.
Über mehrere Jahre war er Direktor der JVA Zeithain in Sachsen sowie für
einige Monate Leiter der JVA Torgau. 2016 legte er die Leitung nieder und
veröffentlichte seither mehrere Bücher, in denen er für eine Reform des
Strafvollzugs wirbt. Galli sagt, die notwendige medizinische Betreuung
werde in deutschen Gefängnissen zwar gewährleistet, dennoch gebe es ein
„massives strukturelles Problem“.
In Schleswig-Holstein lagen die Gesundheitsausgaben in den
Justizvollzugsanstalten zuletzt knapp 11 Prozent über dem GKV-Schnitt. Dass
sie nicht noch erheblich höher sind, wunderte sogar den Landesrechnungshof.
Gefangene hätten einen wegen der Lebensumstände und der Lebensführung
prinzipiell höheren Behandlungsbedarf, heißt es in einem Ergänzungsbericht
zum Landeshaushalt.
Schwierig wird es jedoch bei der gesamtdeutschen Vergleichbarkeit: Die
Daten werden unterschiedlich erhoben, in manchen Bundesländern gibt es erst
gar keine Dokumentation der Pro-Kopf-Ausgaben. Auch die Pro-Kopf-Ausgaben
für Medikamente variieren stark: Wurden beispielsweise in Hessen in den
letzten fünf Jahren im Durchschnitt 768 Euro pro Häftling für Medikamente
ausgegeben, waren es in Sachsen nur 343 Euro.
Das hat konkrete Folgen. In den Jahren 2014 bis 2019 wurde bei 282
sächsischen Gefangenen eine Hepatitis-C-Erkrankung festgestellt – die
Infektionskrankheit ist eine der häufigsten Krankheiten von Menschen in
Haft. Doch nur 71 dieser Personen wurden auch während ihrer Haftzeit
entsprechend behandelt.
Eine Fachärztin für Infektionskrankheiten verweist auf Nachfrage der taz
auf sogenannte DAA-Therapien, die seit 2014 erfolgreich gegen Hepatitis C
eingesetzt werden. Jede:r gesetzlich Versicherte würde im Falle einer
Erkrankung eine solche Therapie erhalten, sagt die Expertin.
Die Kosten für eine DAA-Therapie fangen bei rund 30.000 Euro an. In Hessen
zum Beispiel ist seit 2019 im Koalitionsvertrag festgehalten, dass jede:r
erkrankte Inhaftierte eine moderne Hepatitis-C-Behandlung bekommen soll.
Offiziell sollen auch in Sachsen Gefangene bei Bedarf eine solche Therapie
erhalten, zugleich weist das zuständige Justizministerium darauf hin, nicht
jede Hepatitisinfektion sei behandlungsbedürftig. Die Ärztin widerspricht.
Die Zahl unbehandelter Infektionskrankheiten unter sächsischen Gefangenen
liegt sehr wahrscheinlich deutlich höher, wie aus den Antworten auf eine
Kleine Anfrage im Sächsischen Landtag vom Januar 2020 hervorgeht. Die
offizielle Zahl von 282 erfassten Hepatitis-C-Fällen stammt aus einer
äußerst lückenhaften Statistik. Vier von zehn sächsischen
Justizvollzugsanstalten liefern erst seit 2017 Zahlen. In zwei weiteren
Haftanstalten, darunter auch das einzige Haftkrankenhaus, wird laut
Justizministerium gar keine Statistik geführt.
Auch andere medizinische Leistungen, die für Kassenpatient:innen in
Freiheit üblich sind, sollen in sächsischen Gefängnissen mehrfach
ausgeblieben sein. Krankenunterlagen, die die taz einsehen konnte,
berichten von einem Gefangenen, der drei Jahre lang in Haft auf eine
Schulteroperation wartete, bis er schließlich ohne OP entlassen wurde. Ein
weiterer Gefangener der JVA Zeithain hätte physiotherapeutisch behandelt
werden müssen – und wurde dies trotz ärztlicher Anordnung nicht.
Noch gravierender ist der Fall des Frauengefängnisses Chemnitz: 2019 wurden
gesunde Frauen wegen Tuberkuloseverdachts präventiv in Einzelhaft isoliert
und teilweise mit Medikamenten behandelt. Sieben Frauen wurden bis zu 13
Tage isoliert, fünf von ihnen erhielten zudem das Chemotherapeutikum
Isoniazid.
Häufige Nebenwirkungen des Medikaments sind Nervenentzündungen,
Sensibilitätsstörungen, Schwindel, Erbrechen und Muskelzittern. Weil
Tuberkulose hoch ansteckend ist, muss jede:r neue Gefangene bei Haftantritt
auf die Krankheit untersucht werden – entweder mit einem Bluttest oder
mittels Röntgenuntersuchung. Beides sei laut Aussage einer Betroffenen in
Chemnitz jedoch nicht passiert. Ein Röntgengerät gibt es in der Anstalt
nicht.
Ein Sprecher des sächsischen Justizministeriums erklärt auf Anfrage: „Falls
aus zwingenden Gründen die genannten Untersuchungen nicht durchgeführt
werden können, kann ersatzweise ein Tuberkulose-Schnelltest zur Anwendung
kommen.“ Die ergeben allerdings keine eindeutige Diagnose.
Auch aus anderen Gefängnissen in Sachsen berichten derzeitige und ehemalige
Gefangene von massiven Mängeln. Vorgeschriebene Tuberkulosetests seien
nicht erfolgt. Tests auf Hepatitis oder HIV seien nicht angeboten worden,
obwohl es gesetzlich vorgeschrieben ist.
Das Bundesjustizministerium will sich zur Gesundheitsversorgung im Vollzug
nicht äußern und verweist auf die Länderzuständigkeit. Doch nach Anfragen
bei mehreren Bundesländern bleiben die Antworten auch von dort wenig
detailliert. Konfrontiert man das sächsische Justizministerium, verweist
man lediglich auf die allgemeinen Vorschriften.
Ein Sprecher des Ministeriums sagt der taz, die medizinische Versorgung sei
„durchgängig gewährleistet“. Zwar gebe es Schwierigkeiten, Stellen im
medizinischen Dienst zu besetzen, die dadurch entstehenden Lücken würden
aber durch externe Ärzt:innen ausgeglichen. In fünf von zehn Haftanstalten
in Sachsen gibt es keine:n festangestellte:n Ärzt:in.
„Es ist ganz schwierig, überhaupt Ärzte für den Justizvollzug zu finden“,
sagt Karlheinz Keppler. Er gilt als einer der renommiertesten
Gefängnisärzte in Deutschland. Als die taz ihn zum Gespräch anruft, ist er
gerade 400 Kilometer von seinem Wohnort Berlin entfernt in der JVA Vechta
und wartet auf Patient:innen. Obwohl er bereits im Ruhestand ist, springt
er immer wieder als Honorararzt in diversen Gefängnissen ein.
Der Job wird etwa fünfmal schlechter bezahlt als eine Stelle im Krankenhaus
und genießt nur wenig Ansehen. Etwa 13 Prozent der Stellen sind nicht
besetzt oder müssen durch externe Honorarkräfte besetzt werden. Mit Folgen
für die Gefangenen: Weniger Ärzt:innen bedeuten auch weniger Zeit für
Patient:innen.
Falls ein Häftling ins Krankenhaus oder zu einer:m externen Ärzt:in muss,
braucht es sechs Beamte pro Tag, die ihn oder sie bewachen – Ressourcen,
die viele Anstalten schlicht nicht aufwenden können. Keppler sagt, dass in
Notfällen auf jeden Fall gehandelt werde. „Aber natürlich werden in Zeiten
von Personalmangel nicht zwingend notwendige Behandlungen verschoben.“
Die größte Anzahl der Häftlinge findet sich in JVAs in Nordrhein-Westfalen,
gefolgt von Bayern und Baden-Württemberg. Letzteres Bundesland setzt in der
Gesundheitsversorgung seiner Gefangenen auf digitale Lösungen.
## Wie gut ist gut genug?
Seit 2018 ist Baden-Württemberg Vorreiter im Bereich Telemedizin. Dabei
werden externe Fachärzt:innen per Video zur Diagnose ins Gefängnis
zugeschaltet – rund um die Uhr.
Eine ressortübergreifende Kommission der Landesregierung arbeitet an einem
neuen Medizinkonzept für den Strafvollzug. Außerdem arbeitet das
Justizsystem eng mit freien Trägern des Netzwerks Straffälligenhilfe und
der Drogen- und Suchtberatung zusammen. „Baden-Württemberg steht dank
dieser einzigartigen Strukturen bundesweit gut da“, schreibt eine
Sprecherin des Justizministeriums auf Anfrage. Aber ist dieses „gut“ auch
gut genug?
Claudia Kircher verbringt ihre halbe Arbeitswoche in der JVA Rottenburg.
Sie ist Drogen- und Suchtberaterin seit mehr als 20 Jahren. In den
Beratungsgesprächen mit ihren aktuell 40 Klienten spielt das Thema
Gesundheit ständig eine Rolle. Krankheiten dominieren den Alltag von
Gefangenen. Wenn Kircher nicht in der JVA ist, arbeitet sie in einem
schmucklosen Büro in der Tübinger Weststadt. Ein großer Raum, Kunstteppich,
keine Bilder, keine Pflanzen. Kircher, blondes schulterlanges Haar, rotes
Shirt und blaue Jeans, redet langsam.
Grobe Mängel könne sie in der Gesundheitsversorgung der Gefangen zumindest
in Baden-Württemberg nicht beobachten. „Die Anstaltsärztinnen behandeln die
Häftlinge im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Sie geben ihr Bestes“, sagt
Kircher. Trotzdem bekomme sie als externe Beraterin auch manche Probleme
der Gefangenen mit. Das Vertrauensverhältnis zwischen Ärzt:in und
Patient:in sei zum Beispiel nicht immer gegeben.
## Komplexe Biografien, komplexe Anforderungen
Es gebe aber auch Gefangene, die ihr anvertrauten, dass der Strafvollzug
ihnen das Leben gerettet habe. Einige verwahrlosten durch jahrelangen
Alkohol- und Drogenkonsum und würden mit dem Besuch bei der Anstaltsärztin
oft zum ersten Mal seit Jahren durchgecheckt. Dann komme Routine,
regelmäßiges Essen, vielleicht ein Entzug oder Substitutionsprogramm.
Zudem haben viele der Gefangenen Traumata erlebt. Während die Rate der
psychischen Auffälligkeiten in der Gesamtbevölkerung bei rund 28 Prozent
liegt, ist dieser Wert hinter Gefängnismauern in ganz Deutschland meist
fast doppelt so hoch. Drogen- und Alkoholsucht, Traumata und psychische
Störungen, diese Krankheitsbilder machen die Anforderungen an den
Strafvollzug komplex.
Und die Zahl psychischer Auffälligkeiten steigt. Diese Entwicklung legt
auch die Häufigkeit der Belegung gesicherter Hafträume der JVAs nahe.
Gefangene werden in diesen Räumen eingesperrt, wenn Fremd- oder
Selbstgefährdungsrisiken drohen. Seit 2010 stieg die Zahl allein in
Baden-Württemberg um das beinah Vierfache auf 1.119 Belegungen im Jahr
2018.
In einem überlasteten System kann dies tragische Folgen haben – wie im
August 2014. Ein Wärter der JVA Bruchsal fand einen Gefangenen tot in
seiner Zelle. Er litt an psychischen Störungen, die unbehandelt blieben,
und starb an den Folgen einer Unter- oder Mangelernährung.
Hätte sein Tod bei entsprechender medizinischer Betreuung verhindert werden
können? Der damalige Justizminister setzte eine Kommission zum „Umgang mit
psychisch auffälligen Gefangenen“ ein. Im Abschlussbericht stellten die
Expert:innen einen „dringenden Bedarf an Verbesserungen insbesondere in der
personellen Ausstattung des Justizvollzugs“ fest. Zwar wurden in der Folge
zahlreiche neue Stellen vom Justizministerium geschaffen, doch ist die
Folgekommission noch heute damit beschäftigt, ein Konzept vorzulegen.
## Überbelegte Zellen
Die JVAs erreichen weiterhin die Überlastungsgrenze. Im letzten Jahr waren
nach Angaben des Statistischen Bundesamts 101 Prozent der zur Verfügung
stehenden Plätze in Baden-Württemberg belegt. Das passiert, wenn Zellen mit
mehr Menschen belegt sind, als es eigentlich vorgesehen ist. „Wir sind in
jeder Hinsicht von Ressourcenknappheit geprägt“, sagt Matthias Weckerle,
Anstaltsleiter der JVA Rottenburg. Ganze Gefängnisetagen könnten teilweise
nur von einer Beamtin oder einem Beamten beaufsichtigt werden.
Um die begrenzten vorhandenen Zeit- und Personalressourcen gezielt
einsetzen zu können, wird seit 2019 in allen 17 JVAs Baden-Württembergs die
Telemedizin eingesetzt. Sie erlaubt, dass das Krankenpersonal zum
verlängerten Arm externer Fachmediziner:innen wird.
Die Rückmeldungen der Gefangenen sind oft positiv. Größtenteils
konsultierten sie die Telemediziner:innen wegen Angst- oder Schlafstörungen
sowie Fragen zur Medikation. Nordrhein-Westfalen hat im Mai angekündigt,
Telemedizin in zunächst sieben seiner Haftanstalten einzusetzen. Bewährt es
sich, wird das Vorhaben auch hier auf alle 36 JVAs ausgeweitet. Auch in
Sachsen wird derzeit die Möglichkeit geprüft.
Anstaltsleiter Weckerle hofft auf Lehren aus der Coronakrise. Einerseits
wurden dadurch die Haftbedingungen für viele Gefangene verschärft,
andererseits rund 800 Ersatzfreiheitsstrafen ausgesetzt oder aufgeschoben.
Das betrifft beispielsweise Menschen, die wegen nicht bezahlter Geldstrafen
inhaftiert werden. Auf einen Schlag waren also weniger Gefangene in Haft.
Die Personal- und Belegungssituation entspannte sich. Deshalb müsse ein
Zurück zur Überbelegung jetzt vermieden werden.
## Das Häftlingsstigma
Wenn man den Anstaltsarzt Karlheinz Keppler fragt, ob die
Gesundheitsversorgung in deutschen Gefängnissen flächendeckend mangelhaft
sei, antwortet dieser mit einem „Nein, aber“. Die Qualität der Versorgung
variiere von Bundesland zu Bundesland und von Arzt zu Arzt stark. Gefangene
mit Suchtproblemen und unter Substitution haben eigentlich das Recht,
einmal die Woche von einem:r Ärzt:in gecheckt zu werden.
Doch nicht immer wird das auch umgesetzt. „Es gibt Ärzte, die sagen: So
etwas wie Substitution gibt es bei mir nicht“, sagt Keppler. Insbesondere
Bayern habe sich lange Zeit dagegen gewehrt, überhaupt zu substituieren.
Erst ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem
Jahr 2016 änderte dies.
Keppler fordert daher eine Abschaffung des Betäubungsmittelgesetzes und
sagt, ein Problem wie Sucht könne man nicht gesetzlich, sondern nur
medizinisch regeln. Die Forderung deckt sich mit den Erfahrungen aus der
Coronakrise, dass Gefängnisse deutlich entlastet sind, wenn
Ersatzfreiheitsstrafen ausgesetzt werden: weniger Häftlinge, weniger
Überlastung des Personals. „Die Knäste wären halb leer, wenn man die
Suchtleute nicht einsperren würde.“
Auch die Dortmunder Expertin Christine Graebsch sagt, das Problem lasse
sich nicht etwa mit mehr Personal lösen. Den Gefangenen hafte ein Stigma
an, das sich auch auf die Gesundheitsversorgung auswirke. „Besonders unter
Anstaltsärzten ist die Haltung sehr verbreitet, dass Gefangene selbst
schuld sind an ihrer Situation oder gar simulieren“, sagt sie, insbesondere
hinsichtlich Personen mit Suchtproblematik. Ihr Vorschlag: eine unabhängige
Kommission, die die Versorgung in den Gefängnissen beobachtet und Fehler
untersucht.
## Fazit
Probleme gibt es also dreierlei: fehlende Regulierung und Kontrolle, zu
wenig Personal für zu viele Häftlinge und eine Ungleichbehandlung von
Gefangenen gegenüber Nichtgefangenen in der medizinischen Versorgung.
Peter Bögel ist inzwischen aus dem Gefängnis raus, arbeitet als Fahrer für
eine Spedition. Er wünscht sich, dass die Anstalt ihren Fehler eingesteht –
und daraus Konsequenzen zieht. Gemeinsam mit seinem Anwalt fordert er nun
Schmerzensgeld. Vor allem will er aber erreichen, dass die
Medikamentenausgabe in der JVA besser reguliert und von medizinischem
Fachpersonal ausgeführt wird.
Die strukturellen Probleme unterscheiden sich zwischen den Bundesländern,
sind jedoch in ganz Deutschland zu beobachten. Was es braucht, ist eine
bundesdeutsche Evaluation und Regelung, damit Zahlen vergleichbar,
Versorgung kontrollierbar und Mängel sichtbar werden.
Denn der Grundgedanke von Justizvollzugsanstalten liegt im Vollzug von
Haftstrafen, nicht in der Behandlung von Gefangenen als Patient:innen
zweiter Klasse.
Die Fotos: Die freie Fotografin Nora Börding fotografierte 2018 im
Justizvollzugskrankenhaus Fröndenberg in NRW, um zu zeigen, wie sich der
dortige Alltag von dem in einem normalen Krankenhaus unterscheidet. Diese
Fotoarbeit entstand unabhängig vom vorliegenden Text.
4 Aug 2020
## LINKS
[1] https://www.msdmanuals.com/de-de/profi/intensivmedizin/behandlung-von-inten…
## AUTOREN
Torben Becker
Aiko Kempen
Sarah Ulrich
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