# taz.de -- Gesundheitsversorgung in Gefängnissen: Krank im Knast | |
> In deutschen Gefängnissen fehlt es an Geld, Personal und Medikamenten – | |
> mit teils dramatischen Folgen für die Häftlinge. | |
Bild: Blick aus einem Fenster auf den Pausenhof des Krankenhauses in Fröndenbe… | |
Als Peter Bögel wie jeden Tag morgens um sieben von einem Justizbeamten der | |
JVA Gablingen die Tabletten gereicht bekommt, hinterfragt er nicht, dass er | |
eine Pille mehr als sonst erhält. Die Medikamente ähneln sich: in hellem | |
Pink, die gleiche Größe. Bögel denkt sich nicht viel dabei. | |
Das Prozedere ist schließlich immer das gleiche: Der Beamte nimmt die | |
Tabletten aus dem mit dem Namen des Häftlings beschrifteten Dispenser und | |
reicht sie ihm. Er macht den Mund auf, nimmt einen Schluck Wasser, macht | |
noch mal den Mund auf, um zu zeigen, dass er die Tabletten auch wirklich | |
geschluckt hat. Der JVA-Beamte kontrolliert und zieht weiter zum nächsten | |
Häftling. Ein Routinegang. | |
Doch an diesem Tag im August 2019 ist etwas anders. Ein Beamter holt ihn | |
knapp drei Stunden später aus seiner Zelle und schickt ihn zur | |
Krankenschwester der Anstalt. Bögel klagt über Schwäche, Herzstechen, | |
Gleichgewichtsverlust. Er habe die falschen Medikamente ausgehändigt | |
bekommen, sagt der Beamte. Die Schwester ruft den Notarzt. | |
Später notiert sie in einem Protokoll, das der taz vorliegt: „Der | |
Allgemeinzustand des Gefangenen verschlechterte sich rapide.“ Nur dunkel | |
erinnert sich Bögel an eine Person in orangefarbener Jacke, die sagt: „Herr | |
Bögel, bleiben Sie da.“ Im Universitätsklinikum Augsburg wird festgestellt, | |
dass die Sauerstoffsättigung des Patienten bei seiner Einlieferung bei nur | |
52 Prozent liegt. | |
Peter Bögel heißt eigentlich anders. Weil er seine Familie schützen will, | |
möchte er anonym bleiben. Bögel, 52, kurze Hose, blaue Turnschuhe, | |
blondgefärbte Spitzen und eine Goldkette um den Hals, ist ein freundlicher | |
Mann. Seine Schilderungen wirken glaubhaft, die Aussagen decken sich mit | |
den Schriftstücken des Rechtsanwalts. | |
Nach seiner Entlassung aus der JVA hat Bögel sich an den Rechtsanwalt | |
Thomas Galli gewandt, um gegen die JVA Gablingen vorzugehen. Sein Vorwurf: | |
Der Justizbeamte habe ihm an diesem Tag statt der normalen | |
Blutdruckmedikamente einen Blutverdünner, Krampfmittel, | |
Cholesterintabletten, Neuroleptika und das Methadon-Substitut L-Polaflux | |
gegeben. Das Substitut ist ein Medikament eines anderen Häftlings, das | |
eigentlich für Heroinabhängige oder bei schweren Schmerzen verwendet wird | |
und starke Nebenwirkungen haben kann. | |
Die Dokumente der JVA, die der taz vorliegen, bestätigen die Medikation des | |
anderen Häftlings. Durch den niedrigen Sauerstoffwert im Blut lässt sich | |
jedoch nicht feststellen, ob Bögel tatsächlich ein Substitut verabreicht | |
bekommen hat. Genauso gut kann es ein Zusammenspiel aus den fehlenden | |
Blutdruckmedikamenten und den Neuroleptika sein, das Bögel in Gefahr | |
gebracht hat. Er selbst erinnert sich an den Noteinsatz nur schemenhaft. | |
Der Oberarzt entlässt Bögel schon nach wenigen Stunden. Im Arztbrief steht, | |
er könne „in stabilem und gebessertem Allgemeinzustand“ in ambulante | |
Weiterversorgung entlassen werden. Von einer Anzeige sieht Bögel zunächst | |
ab. Er fürchtet, etwa seine Hafterleichterungen zu verlieren oder gar die | |
vorzeitige Entlassung zu riskieren. | |
Die JVA Gablingen räumt zwar ein, dass Bögel die falschen Medikamente | |
ausgehändigt bekommen hat, bestreitet jedoch, ihm das Heroinsubstitut | |
gegeben zu haben. Diese Medikamente würden in der JVA nur unter besonderen | |
Sicherheitsvorkehrungen ausgegeben. | |
Tatsächlich ist im Betäubungsmittelgesetz geregelt, dass nur medizinisch | |
geschultes Personal oder staatlich anerkannte Drogenhilfeeinrichtungen | |
Substitute ausgeben dürfen, nicht jedoch einfache JVA-Beamte. Bögel | |
hingegen sagt, die Häftlinge hätten während seiner Haftzeit alle | |
Medikamente regelmäßig von Beamten ohne Prüfung durch Fingerabdruck | |
bekommen, auch die Substitute. | |
Fragt man die JVA, wie es dazu kommen konnte, dass der Häftling ein | |
falsches Medikament verabreicht bekommen hat, spricht diese von einem | |
„bedauerlichen Versehen“. Aufgrund der Vielzahl an unterschiedlichen | |
Medikamenten könne leicht die Übersicht verloren gehen, sagt ein Sprecher. | |
Bögel habe sich „zu keiner Zeit in Lebensgefahr“ befunden. | |
Weiter heißt es: „Die normale, aber insgesamt niedrig-normale | |
Sauerstoffsättigung ist nach Einschätzung des ärztlichen Dienstes der | |
Justizvollzugsanstalt Augsburg-Gablingen eher auf den langjährigen schweren | |
Nikotinmissbrauch von Herrn Bögel zurückzuführen als auf die einmalige | |
falsche Medikamentengabe.“ | |
Ein Arzt des Leipziger Universitätsklinikums hingegen sagt der taz, der | |
Sauerstoffwert im Blut sollte zwischen 95 und 99 Prozent liegen. [1][So ist | |
es auch in medizinischer Fachliteratur nachzulesen.] Auch bei Raucher:innen | |
ist ein Wert von 52 Prozent kein Normalzustand – sondern lebensbedrohlich. | |
Wie kann es passieren, dass Häftlinge falsche Medikamente ausgehändigt | |
bekommen, die sie in Lebensgefahr bringen? Recherchen der taz zeigen, dass | |
solche Vorkommnisse kein Einzelfall sind. Immer wieder gibt es in deutschen | |
Gefängnissen Fälle, in denen Gefangene falsch oder unzulänglich medizinisch | |
versorgt werden; fehlende Hepatitisbehandlungen, falsche Tuberkulosetests, | |
Isolation gesunder Häftlinge aufgrund mangelnder Prüfung. | |
## Strafe statt Behandlung | |
Ein Blick auf die Gesundheitsausgaben der vergangenen zehn Jahre in allen | |
deutschen Bundesländern zeigt: Auch wenn die Ausgaben flächendeckend | |
gestiegen sind, liegen sie in den meisten Bundesländern dennoch weit unter | |
den durchschnittlichen Gesundheitsausgaben der gesetzlichen Krankenkassen, | |
obwohl der Bedarf in Gefängnissen oft weitaus höher ist. An vielen Stellen | |
fehlt es an Medikamenten und medizinischem Personal. Gefangene in | |
Deutschland sind Patient:innen zweiter Klasse. | |
Zum Stichtag 31. März 2019 waren laut Statistischem Bundesamt in | |
Deutschland 65.796 Personen in Haft, was 90 Prozent der gesamten | |
Belegungskapazität entspricht. Schon eine Auslastung von 85 bis 90 Prozent | |
gilt im Strafvollzug als übervoll. Und das bundesweit. Seit der | |
Föderalismusreform 2006 obliegt die Gesetzgebung des Strafvollzugs dem | |
jeweiligen Bundesland. | |
Demnach gibt es keine einheitliche Regelung zur Gesundheitsversorgung, | |
geschweige denn ein Gesetz zur Höhe der Gesundheitsausgaben oder des | |
Personalschlüssels. Dessen ungeachtet muss der Staat eine medizinische | |
Versorgung „nach dem allgemeinen Standard der gesetzlichen Krankenkassen“ | |
sicherstellen. Dieser „Äquivalenzgrundsatz“ ist in den | |
Strafvollzugsgesetzen der Länder klar formuliert. | |
Wenn ein Häftling krank wird, dann hat er im Gegensatz zu | |
Kassenpatient:innen das Recht, schnellstmöglich eine Ärztin oder einen Arzt | |
zu konsultieren, statt auf einen Termin zu warten. Die Ärztin untersucht, | |
sie verschreibt vielleicht ein Medikament oder veranlasst eine Überweisung | |
zu einem Facharzt. Eigentlich kein besonders schwieriges Verfahren. | |
Dennoch berichten Gefangene immer wieder von Mängeln in der | |
Gesundheitsversorgung. Auch, weil die Medikamente zwar von medizinischem | |
Fachpersonal in Dispenser gefüllt werden, die Ausgabe jedoch oftmals durch | |
ungeschulte Beamt:innen erfolgt wie im Fall Bögel. | |
Das Äquivalenzprinzip werde häufig nicht eingehalten, sagen Kritiker:innen | |
wie Christine Graebsch. Sie ist Professorin an der Fachhochschule Dortmund | |
und Expertin für Straf- und Migrationsrecht. Außerdem vertritt sie immer | |
wieder Gefangene als Verteidigerin. Als langjähriges Mitglied des | |
Strafvollzugsarchivs hat sie unzählige Geschichten von Häftlingen | |
begleitet. Sie sagt, die Gesundheitsversorgung in deutschen | |
Justizvollzugsanstalten entspreche nicht dem bundesdeutschen Standard. | |
„Das Hauptproblem ist, dass der Strafgedanke sehr stark ist“, sagt | |
Graebsch. „Das darf er aber bei der medizinischen Versorgung nicht sein.“ | |
Oftmals werde Häftlingen eine medizinische Betreuung sogar verwehrt. Im | |
Juni vertrat sie einen Gefangenen vor dem Amtsgericht Augsburg. Er hatte | |
den Anstaltsarzt in der JVA Kaisheim im August 2019 wegen „Körperverletzung | |
durch Unterlassen“ angezeigt und ihm vorgeworfen, eine | |
Hepatitis-C-Behandlung verweigert zu haben. | |
Der Arzt hatte Gegenanzeige gestellt, die Staatsanwaltschaft den Gefangenen | |
schließlich wegen falscher Verdächtigung und Verleumdung angeklagt. Der | |
Gefangene wurde freigesprochen. Gegen den Arzt hingegen wurde nie | |
ermittelt. | |
## Problem im System | |
Die durchschnittlichen Gesundheitsausgaben pro Gefangenen in den meisten | |
Bundesländern liegen deutlich unter den Werten der gesetzlichen | |
Krankenversicherung (GKV). Während die Ausgaben der GKV pro Kopf im Jahr | |
2019 bei 3.108 Euro lagen, waren es beispielsweise in Sachsen im | |
Justizvollzug nur 1.942 Euro pro Person. | |
Das sächsische Justizministerium sagt auf taz-Anfrage, dass „ein Vergleich | |
zwischen den Gesundheitskosten für Gefangene und den Gesundheitskosten der | |
Allgemeinbevölkerung aber kaum möglich“ sei, und verweist auf Unterschiede | |
in Alter, Geschlecht und Berechnung der Kosten. | |
Dennoch müssten die Zahlen bei Gefangenen deutlich höher sein. Denn die | |
Mehrheit der Inhaftierten ist zwar jünger als der deutsche Durchschnitt, | |
aber überdurchschnittlich vorbelastet. Viele sind substanzabhängig, haben | |
schwere psychische Krankheiten. | |
„Nach meiner Erfahrung haben Inhaftierte einen überdurchschnittlich hohen | |
medizinischen Behandlungsbedarf“, sagt der Rechtsanwalt Thomas Galli. „Die | |
Haft ist eine Belastung für Körper und Seele. Eine hauptamtliche ärztliche | |
Betreuung der Justizvollzugsanstalten ist daher dringend notwendig und | |
letztlich ein Gebot der Menschenwürde.“ Es sei jedoch kein ernsthafter | |
Wille da, das Problem zu lösen. | |
Galli, 47 Jahre, groß, graue Locken, schwarzes Hemd, weiß viel über | |
deutsche Justizvollzugsanstalten. Zahlreiche Bücher zum Thema und Akten | |
seiner Mandant:innen, vor allem Häftlinge und Ex-Häftlinge, stapeln sich in | |
seiner Augsburger Kanzlei. Er ist einer der größten Kritiker des Systems | |
Gefängnis. | |
Über mehrere Jahre war er Direktor der JVA Zeithain in Sachsen sowie für | |
einige Monate Leiter der JVA Torgau. 2016 legte er die Leitung nieder und | |
veröffentlichte seither mehrere Bücher, in denen er für eine Reform des | |
Strafvollzugs wirbt. Galli sagt, die notwendige medizinische Betreuung | |
werde in deutschen Gefängnissen zwar gewährleistet, dennoch gebe es ein | |
„massives strukturelles Problem“. | |
In Schleswig-Holstein lagen die Gesundheitsausgaben in den | |
Justizvollzugsanstalten zuletzt knapp 11 Prozent über dem GKV-Schnitt. Dass | |
sie nicht noch erheblich höher sind, wunderte sogar den Landesrechnungshof. | |
Gefangene hätten einen wegen der Lebensumstände und der Lebensführung | |
prinzipiell höheren Behandlungsbedarf, heißt es in einem Ergänzungsbericht | |
zum Landeshaushalt. | |
Schwierig wird es jedoch bei der gesamtdeutschen Vergleichbarkeit: Die | |
Daten werden unterschiedlich erhoben, in manchen Bundesländern gibt es erst | |
gar keine Dokumentation der Pro-Kopf-Ausgaben. Auch die Pro-Kopf-Ausgaben | |
für Medikamente variieren stark: Wurden beispielsweise in Hessen in den | |
letzten fünf Jahren im Durchschnitt 768 Euro pro Häftling für Medikamente | |
ausgegeben, waren es in Sachsen nur 343 Euro. | |
Das hat konkrete Folgen. In den Jahren 2014 bis 2019 wurde bei 282 | |
sächsischen Gefangenen eine Hepatitis-C-Erkrankung festgestellt – die | |
Infektionskrankheit ist eine der häufigsten Krankheiten von Menschen in | |
Haft. Doch nur 71 dieser Personen wurden auch während ihrer Haftzeit | |
entsprechend behandelt. | |
Eine Fachärztin für Infektionskrankheiten verweist auf Nachfrage der taz | |
auf sogenannte DAA-Therapien, die seit 2014 erfolgreich gegen Hepatitis C | |
eingesetzt werden. Jede:r gesetzlich Versicherte würde im Falle einer | |
Erkrankung eine solche Therapie erhalten, sagt die Expertin. | |
Die Kosten für eine DAA-Therapie fangen bei rund 30.000 Euro an. In Hessen | |
zum Beispiel ist seit 2019 im Koalitionsvertrag festgehalten, dass jede:r | |
erkrankte Inhaftierte eine moderne Hepatitis-C-Behandlung bekommen soll. | |
Offiziell sollen auch in Sachsen Gefangene bei Bedarf eine solche Therapie | |
erhalten, zugleich weist das zuständige Justizministerium darauf hin, nicht | |
jede Hepatitisinfektion sei behandlungsbedürftig. Die Ärztin widerspricht. | |
Die Zahl unbehandelter Infektionskrankheiten unter sächsischen Gefangenen | |
liegt sehr wahrscheinlich deutlich höher, wie aus den Antworten auf eine | |
Kleine Anfrage im Sächsischen Landtag vom Januar 2020 hervorgeht. Die | |
offizielle Zahl von 282 erfassten Hepatitis-C-Fällen stammt aus einer | |
äußerst lückenhaften Statistik. Vier von zehn sächsischen | |
Justizvollzugsanstalten liefern erst seit 2017 Zahlen. In zwei weiteren | |
Haftanstalten, darunter auch das einzige Haftkrankenhaus, wird laut | |
Justizministerium gar keine Statistik geführt. | |
Auch andere medizinische Leistungen, die für Kassenpatient:innen in | |
Freiheit üblich sind, sollen in sächsischen Gefängnissen mehrfach | |
ausgeblieben sein. Krankenunterlagen, die die taz einsehen konnte, | |
berichten von einem Gefangenen, der drei Jahre lang in Haft auf eine | |
Schulteroperation wartete, bis er schließlich ohne OP entlassen wurde. Ein | |
weiterer Gefangener der JVA Zeithain hätte physiotherapeutisch behandelt | |
werden müssen – und wurde dies trotz ärztlicher Anordnung nicht. | |
Noch gravierender ist der Fall des Frauengefängnisses Chemnitz: 2019 wurden | |
gesunde Frauen wegen Tuberkuloseverdachts präventiv in Einzelhaft isoliert | |
und teilweise mit Medikamenten behandelt. Sieben Frauen wurden bis zu 13 | |
Tage isoliert, fünf von ihnen erhielten zudem das Chemotherapeutikum | |
Isoniazid. | |
Häufige Nebenwirkungen des Medikaments sind Nervenentzündungen, | |
Sensibilitätsstörungen, Schwindel, Erbrechen und Muskelzittern. Weil | |
Tuberkulose hoch ansteckend ist, muss jede:r neue Gefangene bei Haftantritt | |
auf die Krankheit untersucht werden – entweder mit einem Bluttest oder | |
mittels Röntgenuntersuchung. Beides sei laut Aussage einer Betroffenen in | |
Chemnitz jedoch nicht passiert. Ein Röntgengerät gibt es in der Anstalt | |
nicht. | |
Ein Sprecher des sächsischen Justizministeriums erklärt auf Anfrage: „Falls | |
aus zwingenden Gründen die genannten Untersuchungen nicht durchgeführt | |
werden können, kann ersatzweise ein Tuberkulose-Schnelltest zur Anwendung | |
kommen.“ Die ergeben allerdings keine eindeutige Diagnose. | |
Auch aus anderen Gefängnissen in Sachsen berichten derzeitige und ehemalige | |
Gefangene von massiven Mängeln. Vorgeschriebene Tuberkulosetests seien | |
nicht erfolgt. Tests auf Hepatitis oder HIV seien nicht angeboten worden, | |
obwohl es gesetzlich vorgeschrieben ist. | |
Das Bundesjustizministerium will sich zur Gesundheitsversorgung im Vollzug | |
nicht äußern und verweist auf die Länderzuständigkeit. Doch nach Anfragen | |
bei mehreren Bundesländern bleiben die Antworten auch von dort wenig | |
detailliert. Konfrontiert man das sächsische Justizministerium, verweist | |
man lediglich auf die allgemeinen Vorschriften. | |
Ein Sprecher des Ministeriums sagt der taz, die medizinische Versorgung sei | |
„durchgängig gewährleistet“. Zwar gebe es Schwierigkeiten, Stellen im | |
medizinischen Dienst zu besetzen, die dadurch entstehenden Lücken würden | |
aber durch externe Ärzt:innen ausgeglichen. In fünf von zehn Haftanstalten | |
in Sachsen gibt es keine:n festangestellte:n Ärzt:in. | |
„Es ist ganz schwierig, überhaupt Ärzte für den Justizvollzug zu finden“, | |
sagt Karlheinz Keppler. Er gilt als einer der renommiertesten | |
Gefängnisärzte in Deutschland. Als die taz ihn zum Gespräch anruft, ist er | |
gerade 400 Kilometer von seinem Wohnort Berlin entfernt in der JVA Vechta | |
und wartet auf Patient:innen. Obwohl er bereits im Ruhestand ist, springt | |
er immer wieder als Honorararzt in diversen Gefängnissen ein. | |
Der Job wird etwa fünfmal schlechter bezahlt als eine Stelle im Krankenhaus | |
und genießt nur wenig Ansehen. Etwa 13 Prozent der Stellen sind nicht | |
besetzt oder müssen durch externe Honorarkräfte besetzt werden. Mit Folgen | |
für die Gefangenen: Weniger Ärzt:innen bedeuten auch weniger Zeit für | |
Patient:innen. | |
Falls ein Häftling ins Krankenhaus oder zu einer:m externen Ärzt:in muss, | |
braucht es sechs Beamte pro Tag, die ihn oder sie bewachen – Ressourcen, | |
die viele Anstalten schlicht nicht aufwenden können. Keppler sagt, dass in | |
Notfällen auf jeden Fall gehandelt werde. „Aber natürlich werden in Zeiten | |
von Personalmangel nicht zwingend notwendige Behandlungen verschoben.“ | |
Die größte Anzahl der Häftlinge findet sich in JVAs in Nordrhein-Westfalen, | |
gefolgt von Bayern und Baden-Württemberg. Letzteres Bundesland setzt in der | |
Gesundheitsversorgung seiner Gefangenen auf digitale Lösungen. | |
## Wie gut ist gut genug? | |
Seit 2018 ist Baden-Württemberg Vorreiter im Bereich Telemedizin. Dabei | |
werden externe Fachärzt:innen per Video zur Diagnose ins Gefängnis | |
zugeschaltet – rund um die Uhr. | |
Eine ressortübergreifende Kommission der Landesregierung arbeitet an einem | |
neuen Medizinkonzept für den Strafvollzug. Außerdem arbeitet das | |
Justizsystem eng mit freien Trägern des Netzwerks Straffälligenhilfe und | |
der Drogen- und Suchtberatung zusammen. „Baden-Württemberg steht dank | |
dieser einzigartigen Strukturen bundesweit gut da“, schreibt eine | |
Sprecherin des Justizministeriums auf Anfrage. Aber ist dieses „gut“ auch | |
gut genug? | |
Claudia Kircher verbringt ihre halbe Arbeitswoche in der JVA Rottenburg. | |
Sie ist Drogen- und Suchtberaterin seit mehr als 20 Jahren. In den | |
Beratungsgesprächen mit ihren aktuell 40 Klienten spielt das Thema | |
Gesundheit ständig eine Rolle. Krankheiten dominieren den Alltag von | |
Gefangenen. Wenn Kircher nicht in der JVA ist, arbeitet sie in einem | |
schmucklosen Büro in der Tübinger Weststadt. Ein großer Raum, Kunstteppich, | |
keine Bilder, keine Pflanzen. Kircher, blondes schulterlanges Haar, rotes | |
Shirt und blaue Jeans, redet langsam. | |
Grobe Mängel könne sie in der Gesundheitsversorgung der Gefangen zumindest | |
in Baden-Württemberg nicht beobachten. „Die Anstaltsärztinnen behandeln die | |
Häftlinge im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Sie geben ihr Bestes“, sagt | |
Kircher. Trotzdem bekomme sie als externe Beraterin auch manche Probleme | |
der Gefangenen mit. Das Vertrauensverhältnis zwischen Ärzt:in und | |
Patient:in sei zum Beispiel nicht immer gegeben. | |
## Komplexe Biografien, komplexe Anforderungen | |
Es gebe aber auch Gefangene, die ihr anvertrauten, dass der Strafvollzug | |
ihnen das Leben gerettet habe. Einige verwahrlosten durch jahrelangen | |
Alkohol- und Drogenkonsum und würden mit dem Besuch bei der Anstaltsärztin | |
oft zum ersten Mal seit Jahren durchgecheckt. Dann komme Routine, | |
regelmäßiges Essen, vielleicht ein Entzug oder Substitutionsprogramm. | |
Zudem haben viele der Gefangenen Traumata erlebt. Während die Rate der | |
psychischen Auffälligkeiten in der Gesamtbevölkerung bei rund 28 Prozent | |
liegt, ist dieser Wert hinter Gefängnismauern in ganz Deutschland meist | |
fast doppelt so hoch. Drogen- und Alkoholsucht, Traumata und psychische | |
Störungen, diese Krankheitsbilder machen die Anforderungen an den | |
Strafvollzug komplex. | |
Und die Zahl psychischer Auffälligkeiten steigt. Diese Entwicklung legt | |
auch die Häufigkeit der Belegung gesicherter Hafträume der JVAs nahe. | |
Gefangene werden in diesen Räumen eingesperrt, wenn Fremd- oder | |
Selbstgefährdungsrisiken drohen. Seit 2010 stieg die Zahl allein in | |
Baden-Württemberg um das beinah Vierfache auf 1.119 Belegungen im Jahr | |
2018. | |
In einem überlasteten System kann dies tragische Folgen haben – wie im | |
August 2014. Ein Wärter der JVA Bruchsal fand einen Gefangenen tot in | |
seiner Zelle. Er litt an psychischen Störungen, die unbehandelt blieben, | |
und starb an den Folgen einer Unter- oder Mangelernährung. | |
Hätte sein Tod bei entsprechender medizinischer Betreuung verhindert werden | |
können? Der damalige Justizminister setzte eine Kommission zum „Umgang mit | |
psychisch auffälligen Gefangenen“ ein. Im Abschlussbericht stellten die | |
Expert:innen einen „dringenden Bedarf an Verbesserungen insbesondere in der | |
personellen Ausstattung des Justizvollzugs“ fest. Zwar wurden in der Folge | |
zahlreiche neue Stellen vom Justizministerium geschaffen, doch ist die | |
Folgekommission noch heute damit beschäftigt, ein Konzept vorzulegen. | |
## Überbelegte Zellen | |
Die JVAs erreichen weiterhin die Überlastungsgrenze. Im letzten Jahr waren | |
nach Angaben des Statistischen Bundesamts 101 Prozent der zur Verfügung | |
stehenden Plätze in Baden-Württemberg belegt. Das passiert, wenn Zellen mit | |
mehr Menschen belegt sind, als es eigentlich vorgesehen ist. „Wir sind in | |
jeder Hinsicht von Ressourcenknappheit geprägt“, sagt Matthias Weckerle, | |
Anstaltsleiter der JVA Rottenburg. Ganze Gefängnisetagen könnten teilweise | |
nur von einer Beamtin oder einem Beamten beaufsichtigt werden. | |
Um die begrenzten vorhandenen Zeit- und Personalressourcen gezielt | |
einsetzen zu können, wird seit 2019 in allen 17 JVAs Baden-Württembergs die | |
Telemedizin eingesetzt. Sie erlaubt, dass das Krankenpersonal zum | |
verlängerten Arm externer Fachmediziner:innen wird. | |
Die Rückmeldungen der Gefangenen sind oft positiv. Größtenteils | |
konsultierten sie die Telemediziner:innen wegen Angst- oder Schlafstörungen | |
sowie Fragen zur Medikation. Nordrhein-Westfalen hat im Mai angekündigt, | |
Telemedizin in zunächst sieben seiner Haftanstalten einzusetzen. Bewährt es | |
sich, wird das Vorhaben auch hier auf alle 36 JVAs ausgeweitet. Auch in | |
Sachsen wird derzeit die Möglichkeit geprüft. | |
Anstaltsleiter Weckerle hofft auf Lehren aus der Coronakrise. Einerseits | |
wurden dadurch die Haftbedingungen für viele Gefangene verschärft, | |
andererseits rund 800 Ersatzfreiheitsstrafen ausgesetzt oder aufgeschoben. | |
Das betrifft beispielsweise Menschen, die wegen nicht bezahlter Geldstrafen | |
inhaftiert werden. Auf einen Schlag waren also weniger Gefangene in Haft. | |
Die Personal- und Belegungssituation entspannte sich. Deshalb müsse ein | |
Zurück zur Überbelegung jetzt vermieden werden. | |
## Das Häftlingsstigma | |
Wenn man den Anstaltsarzt Karlheinz Keppler fragt, ob die | |
Gesundheitsversorgung in deutschen Gefängnissen flächendeckend mangelhaft | |
sei, antwortet dieser mit einem „Nein, aber“. Die Qualität der Versorgung | |
variiere von Bundesland zu Bundesland und von Arzt zu Arzt stark. Gefangene | |
mit Suchtproblemen und unter Substitution haben eigentlich das Recht, | |
einmal die Woche von einem:r Ärzt:in gecheckt zu werden. | |
Doch nicht immer wird das auch umgesetzt. „Es gibt Ärzte, die sagen: So | |
etwas wie Substitution gibt es bei mir nicht“, sagt Keppler. Insbesondere | |
Bayern habe sich lange Zeit dagegen gewehrt, überhaupt zu substituieren. | |
Erst ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem | |
Jahr 2016 änderte dies. | |
Keppler fordert daher eine Abschaffung des Betäubungsmittelgesetzes und | |
sagt, ein Problem wie Sucht könne man nicht gesetzlich, sondern nur | |
medizinisch regeln. Die Forderung deckt sich mit den Erfahrungen aus der | |
Coronakrise, dass Gefängnisse deutlich entlastet sind, wenn | |
Ersatzfreiheitsstrafen ausgesetzt werden: weniger Häftlinge, weniger | |
Überlastung des Personals. „Die Knäste wären halb leer, wenn man die | |
Suchtleute nicht einsperren würde.“ | |
Auch die Dortmunder Expertin Christine Graebsch sagt, das Problem lasse | |
sich nicht etwa mit mehr Personal lösen. Den Gefangenen hafte ein Stigma | |
an, das sich auch auf die Gesundheitsversorgung auswirke. „Besonders unter | |
Anstaltsärzten ist die Haltung sehr verbreitet, dass Gefangene selbst | |
schuld sind an ihrer Situation oder gar simulieren“, sagt sie, insbesondere | |
hinsichtlich Personen mit Suchtproblematik. Ihr Vorschlag: eine unabhängige | |
Kommission, die die Versorgung in den Gefängnissen beobachtet und Fehler | |
untersucht. | |
## Fazit | |
Probleme gibt es also dreierlei: fehlende Regulierung und Kontrolle, zu | |
wenig Personal für zu viele Häftlinge und eine Ungleichbehandlung von | |
Gefangenen gegenüber Nichtgefangenen in der medizinischen Versorgung. | |
Peter Bögel ist inzwischen aus dem Gefängnis raus, arbeitet als Fahrer für | |
eine Spedition. Er wünscht sich, dass die Anstalt ihren Fehler eingesteht – | |
und daraus Konsequenzen zieht. Gemeinsam mit seinem Anwalt fordert er nun | |
Schmerzensgeld. Vor allem will er aber erreichen, dass die | |
Medikamentenausgabe in der JVA besser reguliert und von medizinischem | |
Fachpersonal ausgeführt wird. | |
Die strukturellen Probleme unterscheiden sich zwischen den Bundesländern, | |
sind jedoch in ganz Deutschland zu beobachten. Was es braucht, ist eine | |
bundesdeutsche Evaluation und Regelung, damit Zahlen vergleichbar, | |
Versorgung kontrollierbar und Mängel sichtbar werden. | |
Denn der Grundgedanke von Justizvollzugsanstalten liegt im Vollzug von | |
Haftstrafen, nicht in der Behandlung von Gefangenen als Patient:innen | |
zweiter Klasse. | |
Die Fotos: Die freie Fotografin Nora Börding fotografierte 2018 im | |
Justizvollzugskrankenhaus Fröndenberg in NRW, um zu zeigen, wie sich der | |
dortige Alltag von dem in einem normalen Krankenhaus unterscheidet. Diese | |
Fotoarbeit entstand unabhängig vom vorliegenden Text. | |
4 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.msdmanuals.com/de-de/profi/intensivmedizin/behandlung-von-inten… | |
## AUTOREN | |
Torben Becker | |
Aiko Kempen | |
Sarah Ulrich | |
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