| # taz.de -- Gesundheitsversorgung in Gefängnissen: Krank im Knast | |
| > In deutschen Gefängnissen fehlt es an Geld, Personal und Medikamenten – | |
| > mit teils dramatischen Folgen für die Häftlinge. | |
| Bild: Blick aus einem Fenster auf den Pausenhof des Krankenhauses in Fröndenbe… | |
| Als Peter Bögel wie jeden Tag morgens um sieben von einem Justizbeamten der | |
| JVA Gablingen die Tabletten gereicht bekommt, hinterfragt er nicht, dass er | |
| eine Pille mehr als sonst erhält. Die Medikamente ähneln sich: in hellem | |
| Pink, die gleiche Größe. Bögel denkt sich nicht viel dabei. | |
| Das Prozedere ist schließlich immer das gleiche: Der Beamte nimmt die | |
| Tabletten aus dem mit dem Namen des Häftlings beschrifteten Dispenser und | |
| reicht sie ihm. Er macht den Mund auf, nimmt einen Schluck Wasser, macht | |
| noch mal den Mund auf, um zu zeigen, dass er die Tabletten auch wirklich | |
| geschluckt hat. Der JVA-Beamte kontrolliert und zieht weiter zum nächsten | |
| Häftling. Ein Routinegang. | |
| Doch an diesem Tag im August 2019 ist etwas anders. Ein Beamter holt ihn | |
| knapp drei Stunden später aus seiner Zelle und schickt ihn zur | |
| Krankenschwester der Anstalt. Bögel klagt über Schwäche, Herzstechen, | |
| Gleichgewichtsverlust. Er habe die falschen Medikamente ausgehändigt | |
| bekommen, sagt der Beamte. Die Schwester ruft den Notarzt. | |
| Später notiert sie in einem Protokoll, das der taz vorliegt: „Der | |
| Allgemeinzustand des Gefangenen verschlechterte sich rapide.“ Nur dunkel | |
| erinnert sich Bögel an eine Person in orangefarbener Jacke, die sagt: „Herr | |
| Bögel, bleiben Sie da.“ Im Universitätsklinikum Augsburg wird festgestellt, | |
| dass die Sauerstoffsättigung des Patienten bei seiner Einlieferung bei nur | |
| 52 Prozent liegt. | |
| Peter Bögel heißt eigentlich anders. Weil er seine Familie schützen will, | |
| möchte er anonym bleiben. Bögel, 52, kurze Hose, blaue Turnschuhe, | |
| blondgefärbte Spitzen und eine Goldkette um den Hals, ist ein freundlicher | |
| Mann. Seine Schilderungen wirken glaubhaft, die Aussagen decken sich mit | |
| den Schriftstücken des Rechtsanwalts. | |
| Nach seiner Entlassung aus der JVA hat Bögel sich an den Rechtsanwalt | |
| Thomas Galli gewandt, um gegen die JVA Gablingen vorzugehen. Sein Vorwurf: | |
| Der Justizbeamte habe ihm an diesem Tag statt der normalen | |
| Blutdruckmedikamente einen Blutverdünner, Krampfmittel, | |
| Cholesterintabletten, Neuroleptika und das Methadon-Substitut L-Polaflux | |
| gegeben. Das Substitut ist ein Medikament eines anderen Häftlings, das | |
| eigentlich für Heroinabhängige oder bei schweren Schmerzen verwendet wird | |
| und starke Nebenwirkungen haben kann. | |
| Die Dokumente der JVA, die der taz vorliegen, bestätigen die Medikation des | |
| anderen Häftlings. Durch den niedrigen Sauerstoffwert im Blut lässt sich | |
| jedoch nicht feststellen, ob Bögel tatsächlich ein Substitut verabreicht | |
| bekommen hat. Genauso gut kann es ein Zusammenspiel aus den fehlenden | |
| Blutdruckmedikamenten und den Neuroleptika sein, das Bögel in Gefahr | |
| gebracht hat. Er selbst erinnert sich an den Noteinsatz nur schemenhaft. | |
| Der Oberarzt entlässt Bögel schon nach wenigen Stunden. Im Arztbrief steht, | |
| er könne „in stabilem und gebessertem Allgemeinzustand“ in ambulante | |
| Weiterversorgung entlassen werden. Von einer Anzeige sieht Bögel zunächst | |
| ab. Er fürchtet, etwa seine Hafterleichterungen zu verlieren oder gar die | |
| vorzeitige Entlassung zu riskieren. | |
| Die JVA Gablingen räumt zwar ein, dass Bögel die falschen Medikamente | |
| ausgehändigt bekommen hat, bestreitet jedoch, ihm das Heroinsubstitut | |
| gegeben zu haben. Diese Medikamente würden in der JVA nur unter besonderen | |
| Sicherheitsvorkehrungen ausgegeben. | |
| Tatsächlich ist im Betäubungsmittelgesetz geregelt, dass nur medizinisch | |
| geschultes Personal oder staatlich anerkannte Drogenhilfeeinrichtungen | |
| Substitute ausgeben dürfen, nicht jedoch einfache JVA-Beamte. Bögel | |
| hingegen sagt, die Häftlinge hätten während seiner Haftzeit alle | |
| Medikamente regelmäßig von Beamten ohne Prüfung durch Fingerabdruck | |
| bekommen, auch die Substitute. | |
| Fragt man die JVA, wie es dazu kommen konnte, dass der Häftling ein | |
| falsches Medikament verabreicht bekommen hat, spricht diese von einem | |
| „bedauerlichen Versehen“. Aufgrund der Vielzahl an unterschiedlichen | |
| Medikamenten könne leicht die Übersicht verloren gehen, sagt ein Sprecher. | |
| Bögel habe sich „zu keiner Zeit in Lebensgefahr“ befunden. | |
| Weiter heißt es: „Die normale, aber insgesamt niedrig-normale | |
| Sauerstoffsättigung ist nach Einschätzung des ärztlichen Dienstes der | |
| Justizvollzugsanstalt Augsburg-Gablingen eher auf den langjährigen schweren | |
| Nikotinmissbrauch von Herrn Bögel zurückzuführen als auf die einmalige | |
| falsche Medikamentengabe.“ | |
| Ein Arzt des Leipziger Universitätsklinikums hingegen sagt der taz, der | |
| Sauerstoffwert im Blut sollte zwischen 95 und 99 Prozent liegen. [1][So ist | |
| es auch in medizinischer Fachliteratur nachzulesen.] Auch bei Raucher:innen | |
| ist ein Wert von 52 Prozent kein Normalzustand – sondern lebensbedrohlich. | |
| Wie kann es passieren, dass Häftlinge falsche Medikamente ausgehändigt | |
| bekommen, die sie in Lebensgefahr bringen? Recherchen der taz zeigen, dass | |
| solche Vorkommnisse kein Einzelfall sind. Immer wieder gibt es in deutschen | |
| Gefängnissen Fälle, in denen Gefangene falsch oder unzulänglich medizinisch | |
| versorgt werden; fehlende Hepatitisbehandlungen, falsche Tuberkulosetests, | |
| Isolation gesunder Häftlinge aufgrund mangelnder Prüfung. | |
| ## Strafe statt Behandlung | |
| Ein Blick auf die Gesundheitsausgaben der vergangenen zehn Jahre in allen | |
| deutschen Bundesländern zeigt: Auch wenn die Ausgaben flächendeckend | |
| gestiegen sind, liegen sie in den meisten Bundesländern dennoch weit unter | |
| den durchschnittlichen Gesundheitsausgaben der gesetzlichen Krankenkassen, | |
| obwohl der Bedarf in Gefängnissen oft weitaus höher ist. An vielen Stellen | |
| fehlt es an Medikamenten und medizinischem Personal. Gefangene in | |
| Deutschland sind Patient:innen zweiter Klasse. | |
| Zum Stichtag 31. März 2019 waren laut Statistischem Bundesamt in | |
| Deutschland 65.796 Personen in Haft, was 90 Prozent der gesamten | |
| Belegungskapazität entspricht. Schon eine Auslastung von 85 bis 90 Prozent | |
| gilt im Strafvollzug als übervoll. Und das bundesweit. Seit der | |
| Föderalismusreform 2006 obliegt die Gesetzgebung des Strafvollzugs dem | |
| jeweiligen Bundesland. | |
| Demnach gibt es keine einheitliche Regelung zur Gesundheitsversorgung, | |
| geschweige denn ein Gesetz zur Höhe der Gesundheitsausgaben oder des | |
| Personalschlüssels. Dessen ungeachtet muss der Staat eine medizinische | |
| Versorgung „nach dem allgemeinen Standard der gesetzlichen Krankenkassen“ | |
| sicherstellen. Dieser „Äquivalenzgrundsatz“ ist in den | |
| Strafvollzugsgesetzen der Länder klar formuliert. | |
| Wenn ein Häftling krank wird, dann hat er im Gegensatz zu | |
| Kassenpatient:innen das Recht, schnellstmöglich eine Ärztin oder einen Arzt | |
| zu konsultieren, statt auf einen Termin zu warten. Die Ärztin untersucht, | |
| sie verschreibt vielleicht ein Medikament oder veranlasst eine Überweisung | |
| zu einem Facharzt. Eigentlich kein besonders schwieriges Verfahren. | |
| Dennoch berichten Gefangene immer wieder von Mängeln in der | |
| Gesundheitsversorgung. Auch, weil die Medikamente zwar von medizinischem | |
| Fachpersonal in Dispenser gefüllt werden, die Ausgabe jedoch oftmals durch | |
| ungeschulte Beamt:innen erfolgt wie im Fall Bögel. | |
| Das Äquivalenzprinzip werde häufig nicht eingehalten, sagen Kritiker:innen | |
| wie Christine Graebsch. Sie ist Professorin an der Fachhochschule Dortmund | |
| und Expertin für Straf- und Migrationsrecht. Außerdem vertritt sie immer | |
| wieder Gefangene als Verteidigerin. Als langjähriges Mitglied des | |
| Strafvollzugsarchivs hat sie unzählige Geschichten von Häftlingen | |
| begleitet. Sie sagt, die Gesundheitsversorgung in deutschen | |
| Justizvollzugsanstalten entspreche nicht dem bundesdeutschen Standard. | |
| „Das Hauptproblem ist, dass der Strafgedanke sehr stark ist“, sagt | |
| Graebsch. „Das darf er aber bei der medizinischen Versorgung nicht sein.“ | |
| Oftmals werde Häftlingen eine medizinische Betreuung sogar verwehrt. Im | |
| Juni vertrat sie einen Gefangenen vor dem Amtsgericht Augsburg. Er hatte | |
| den Anstaltsarzt in der JVA Kaisheim im August 2019 wegen „Körperverletzung | |
| durch Unterlassen“ angezeigt und ihm vorgeworfen, eine | |
| Hepatitis-C-Behandlung verweigert zu haben. | |
| Der Arzt hatte Gegenanzeige gestellt, die Staatsanwaltschaft den Gefangenen | |
| schließlich wegen falscher Verdächtigung und Verleumdung angeklagt. Der | |
| Gefangene wurde freigesprochen. Gegen den Arzt hingegen wurde nie | |
| ermittelt. | |
| ## Problem im System | |
| Die durchschnittlichen Gesundheitsausgaben pro Gefangenen in den meisten | |
| Bundesländern liegen deutlich unter den Werten der gesetzlichen | |
| Krankenversicherung (GKV). Während die Ausgaben der GKV pro Kopf im Jahr | |
| 2019 bei 3.108 Euro lagen, waren es beispielsweise in Sachsen im | |
| Justizvollzug nur 1.942 Euro pro Person. | |
| Das sächsische Justizministerium sagt auf taz-Anfrage, dass „ein Vergleich | |
| zwischen den Gesundheitskosten für Gefangene und den Gesundheitskosten der | |
| Allgemeinbevölkerung aber kaum möglich“ sei, und verweist auf Unterschiede | |
| in Alter, Geschlecht und Berechnung der Kosten. | |
| Dennoch müssten die Zahlen bei Gefangenen deutlich höher sein. Denn die | |
| Mehrheit der Inhaftierten ist zwar jünger als der deutsche Durchschnitt, | |
| aber überdurchschnittlich vorbelastet. Viele sind substanzabhängig, haben | |
| schwere psychische Krankheiten. | |
| „Nach meiner Erfahrung haben Inhaftierte einen überdurchschnittlich hohen | |
| medizinischen Behandlungsbedarf“, sagt der Rechtsanwalt Thomas Galli. „Die | |
| Haft ist eine Belastung für Körper und Seele. Eine hauptamtliche ärztliche | |
| Betreuung der Justizvollzugsanstalten ist daher dringend notwendig und | |
| letztlich ein Gebot der Menschenwürde.“ Es sei jedoch kein ernsthafter | |
| Wille da, das Problem zu lösen. | |
| Galli, 47 Jahre, groß, graue Locken, schwarzes Hemd, weiß viel über | |
| deutsche Justizvollzugsanstalten. Zahlreiche Bücher zum Thema und Akten | |
| seiner Mandant:innen, vor allem Häftlinge und Ex-Häftlinge, stapeln sich in | |
| seiner Augsburger Kanzlei. Er ist einer der größten Kritiker des Systems | |
| Gefängnis. | |
| Über mehrere Jahre war er Direktor der JVA Zeithain in Sachsen sowie für | |
| einige Monate Leiter der JVA Torgau. 2016 legte er die Leitung nieder und | |
| veröffentlichte seither mehrere Bücher, in denen er für eine Reform des | |
| Strafvollzugs wirbt. Galli sagt, die notwendige medizinische Betreuung | |
| werde in deutschen Gefängnissen zwar gewährleistet, dennoch gebe es ein | |
| „massives strukturelles Problem“. | |
| In Schleswig-Holstein lagen die Gesundheitsausgaben in den | |
| Justizvollzugsanstalten zuletzt knapp 11 Prozent über dem GKV-Schnitt. Dass | |
| sie nicht noch erheblich höher sind, wunderte sogar den Landesrechnungshof. | |
| Gefangene hätten einen wegen der Lebensumstände und der Lebensführung | |
| prinzipiell höheren Behandlungsbedarf, heißt es in einem Ergänzungsbericht | |
| zum Landeshaushalt. | |
| Schwierig wird es jedoch bei der gesamtdeutschen Vergleichbarkeit: Die | |
| Daten werden unterschiedlich erhoben, in manchen Bundesländern gibt es erst | |
| gar keine Dokumentation der Pro-Kopf-Ausgaben. Auch die Pro-Kopf-Ausgaben | |
| für Medikamente variieren stark: Wurden beispielsweise in Hessen in den | |
| letzten fünf Jahren im Durchschnitt 768 Euro pro Häftling für Medikamente | |
| ausgegeben, waren es in Sachsen nur 343 Euro. | |
| Das hat konkrete Folgen. In den Jahren 2014 bis 2019 wurde bei 282 | |
| sächsischen Gefangenen eine Hepatitis-C-Erkrankung festgestellt – die | |
| Infektionskrankheit ist eine der häufigsten Krankheiten von Menschen in | |
| Haft. Doch nur 71 dieser Personen wurden auch während ihrer Haftzeit | |
| entsprechend behandelt. | |
| Eine Fachärztin für Infektionskrankheiten verweist auf Nachfrage der taz | |
| auf sogenannte DAA-Therapien, die seit 2014 erfolgreich gegen Hepatitis C | |
| eingesetzt werden. Jede:r gesetzlich Versicherte würde im Falle einer | |
| Erkrankung eine solche Therapie erhalten, sagt die Expertin. | |
| Die Kosten für eine DAA-Therapie fangen bei rund 30.000 Euro an. In Hessen | |
| zum Beispiel ist seit 2019 im Koalitionsvertrag festgehalten, dass jede:r | |
| erkrankte Inhaftierte eine moderne Hepatitis-C-Behandlung bekommen soll. | |
| Offiziell sollen auch in Sachsen Gefangene bei Bedarf eine solche Therapie | |
| erhalten, zugleich weist das zuständige Justizministerium darauf hin, nicht | |
| jede Hepatitisinfektion sei behandlungsbedürftig. Die Ärztin widerspricht. | |
| Die Zahl unbehandelter Infektionskrankheiten unter sächsischen Gefangenen | |
| liegt sehr wahrscheinlich deutlich höher, wie aus den Antworten auf eine | |
| Kleine Anfrage im Sächsischen Landtag vom Januar 2020 hervorgeht. Die | |
| offizielle Zahl von 282 erfassten Hepatitis-C-Fällen stammt aus einer | |
| äußerst lückenhaften Statistik. Vier von zehn sächsischen | |
| Justizvollzugsanstalten liefern erst seit 2017 Zahlen. In zwei weiteren | |
| Haftanstalten, darunter auch das einzige Haftkrankenhaus, wird laut | |
| Justizministerium gar keine Statistik geführt. | |
| Auch andere medizinische Leistungen, die für Kassenpatient:innen in | |
| Freiheit üblich sind, sollen in sächsischen Gefängnissen mehrfach | |
| ausgeblieben sein. Krankenunterlagen, die die taz einsehen konnte, | |
| berichten von einem Gefangenen, der drei Jahre lang in Haft auf eine | |
| Schulteroperation wartete, bis er schließlich ohne OP entlassen wurde. Ein | |
| weiterer Gefangener der JVA Zeithain hätte physiotherapeutisch behandelt | |
| werden müssen – und wurde dies trotz ärztlicher Anordnung nicht. | |
| Noch gravierender ist der Fall des Frauengefängnisses Chemnitz: 2019 wurden | |
| gesunde Frauen wegen Tuberkuloseverdachts präventiv in Einzelhaft isoliert | |
| und teilweise mit Medikamenten behandelt. Sieben Frauen wurden bis zu 13 | |
| Tage isoliert, fünf von ihnen erhielten zudem das Chemotherapeutikum | |
| Isoniazid. | |
| Häufige Nebenwirkungen des Medikaments sind Nervenentzündungen, | |
| Sensibilitätsstörungen, Schwindel, Erbrechen und Muskelzittern. Weil | |
| Tuberkulose hoch ansteckend ist, muss jede:r neue Gefangene bei Haftantritt | |
| auf die Krankheit untersucht werden – entweder mit einem Bluttest oder | |
| mittels Röntgenuntersuchung. Beides sei laut Aussage einer Betroffenen in | |
| Chemnitz jedoch nicht passiert. Ein Röntgengerät gibt es in der Anstalt | |
| nicht. | |
| Ein Sprecher des sächsischen Justizministeriums erklärt auf Anfrage: „Falls | |
| aus zwingenden Gründen die genannten Untersuchungen nicht durchgeführt | |
| werden können, kann ersatzweise ein Tuberkulose-Schnelltest zur Anwendung | |
| kommen.“ Die ergeben allerdings keine eindeutige Diagnose. | |
| Auch aus anderen Gefängnissen in Sachsen berichten derzeitige und ehemalige | |
| Gefangene von massiven Mängeln. Vorgeschriebene Tuberkulosetests seien | |
| nicht erfolgt. Tests auf Hepatitis oder HIV seien nicht angeboten worden, | |
| obwohl es gesetzlich vorgeschrieben ist. | |
| Das Bundesjustizministerium will sich zur Gesundheitsversorgung im Vollzug | |
| nicht äußern und verweist auf die Länderzuständigkeit. Doch nach Anfragen | |
| bei mehreren Bundesländern bleiben die Antworten auch von dort wenig | |
| detailliert. Konfrontiert man das sächsische Justizministerium, verweist | |
| man lediglich auf die allgemeinen Vorschriften. | |
| Ein Sprecher des Ministeriums sagt der taz, die medizinische Versorgung sei | |
| „durchgängig gewährleistet“. Zwar gebe es Schwierigkeiten, Stellen im | |
| medizinischen Dienst zu besetzen, die dadurch entstehenden Lücken würden | |
| aber durch externe Ärzt:innen ausgeglichen. In fünf von zehn Haftanstalten | |
| in Sachsen gibt es keine:n festangestellte:n Ärzt:in. | |
| „Es ist ganz schwierig, überhaupt Ärzte für den Justizvollzug zu finden“, | |
| sagt Karlheinz Keppler. Er gilt als einer der renommiertesten | |
| Gefängnisärzte in Deutschland. Als die taz ihn zum Gespräch anruft, ist er | |
| gerade 400 Kilometer von seinem Wohnort Berlin entfernt in der JVA Vechta | |
| und wartet auf Patient:innen. Obwohl er bereits im Ruhestand ist, springt | |
| er immer wieder als Honorararzt in diversen Gefängnissen ein. | |
| Der Job wird etwa fünfmal schlechter bezahlt als eine Stelle im Krankenhaus | |
| und genießt nur wenig Ansehen. Etwa 13 Prozent der Stellen sind nicht | |
| besetzt oder müssen durch externe Honorarkräfte besetzt werden. Mit Folgen | |
| für die Gefangenen: Weniger Ärzt:innen bedeuten auch weniger Zeit für | |
| Patient:innen. | |
| Falls ein Häftling ins Krankenhaus oder zu einer:m externen Ärzt:in muss, | |
| braucht es sechs Beamte pro Tag, die ihn oder sie bewachen – Ressourcen, | |
| die viele Anstalten schlicht nicht aufwenden können. Keppler sagt, dass in | |
| Notfällen auf jeden Fall gehandelt werde. „Aber natürlich werden in Zeiten | |
| von Personalmangel nicht zwingend notwendige Behandlungen verschoben.“ | |
| Die größte Anzahl der Häftlinge findet sich in JVAs in Nordrhein-Westfalen, | |
| gefolgt von Bayern und Baden-Württemberg. Letzteres Bundesland setzt in der | |
| Gesundheitsversorgung seiner Gefangenen auf digitale Lösungen. | |
| ## Wie gut ist gut genug? | |
| Seit 2018 ist Baden-Württemberg Vorreiter im Bereich Telemedizin. Dabei | |
| werden externe Fachärzt:innen per Video zur Diagnose ins Gefängnis | |
| zugeschaltet – rund um die Uhr. | |
| Eine ressortübergreifende Kommission der Landesregierung arbeitet an einem | |
| neuen Medizinkonzept für den Strafvollzug. Außerdem arbeitet das | |
| Justizsystem eng mit freien Trägern des Netzwerks Straffälligenhilfe und | |
| der Drogen- und Suchtberatung zusammen. „Baden-Württemberg steht dank | |
| dieser einzigartigen Strukturen bundesweit gut da“, schreibt eine | |
| Sprecherin des Justizministeriums auf Anfrage. Aber ist dieses „gut“ auch | |
| gut genug? | |
| Claudia Kircher verbringt ihre halbe Arbeitswoche in der JVA Rottenburg. | |
| Sie ist Drogen- und Suchtberaterin seit mehr als 20 Jahren. In den | |
| Beratungsgesprächen mit ihren aktuell 40 Klienten spielt das Thema | |
| Gesundheit ständig eine Rolle. Krankheiten dominieren den Alltag von | |
| Gefangenen. Wenn Kircher nicht in der JVA ist, arbeitet sie in einem | |
| schmucklosen Büro in der Tübinger Weststadt. Ein großer Raum, Kunstteppich, | |
| keine Bilder, keine Pflanzen. Kircher, blondes schulterlanges Haar, rotes | |
| Shirt und blaue Jeans, redet langsam. | |
| Grobe Mängel könne sie in der Gesundheitsversorgung der Gefangen zumindest | |
| in Baden-Württemberg nicht beobachten. „Die Anstaltsärztinnen behandeln die | |
| Häftlinge im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Sie geben ihr Bestes“, sagt | |
| Kircher. Trotzdem bekomme sie als externe Beraterin auch manche Probleme | |
| der Gefangenen mit. Das Vertrauensverhältnis zwischen Ärzt:in und | |
| Patient:in sei zum Beispiel nicht immer gegeben. | |
| ## Komplexe Biografien, komplexe Anforderungen | |
| Es gebe aber auch Gefangene, die ihr anvertrauten, dass der Strafvollzug | |
| ihnen das Leben gerettet habe. Einige verwahrlosten durch jahrelangen | |
| Alkohol- und Drogenkonsum und würden mit dem Besuch bei der Anstaltsärztin | |
| oft zum ersten Mal seit Jahren durchgecheckt. Dann komme Routine, | |
| regelmäßiges Essen, vielleicht ein Entzug oder Substitutionsprogramm. | |
| Zudem haben viele der Gefangenen Traumata erlebt. Während die Rate der | |
| psychischen Auffälligkeiten in der Gesamtbevölkerung bei rund 28 Prozent | |
| liegt, ist dieser Wert hinter Gefängnismauern in ganz Deutschland meist | |
| fast doppelt so hoch. Drogen- und Alkoholsucht, Traumata und psychische | |
| Störungen, diese Krankheitsbilder machen die Anforderungen an den | |
| Strafvollzug komplex. | |
| Und die Zahl psychischer Auffälligkeiten steigt. Diese Entwicklung legt | |
| auch die Häufigkeit der Belegung gesicherter Hafträume der JVAs nahe. | |
| Gefangene werden in diesen Räumen eingesperrt, wenn Fremd- oder | |
| Selbstgefährdungsrisiken drohen. Seit 2010 stieg die Zahl allein in | |
| Baden-Württemberg um das beinah Vierfache auf 1.119 Belegungen im Jahr | |
| 2018. | |
| In einem überlasteten System kann dies tragische Folgen haben – wie im | |
| August 2014. Ein Wärter der JVA Bruchsal fand einen Gefangenen tot in | |
| seiner Zelle. Er litt an psychischen Störungen, die unbehandelt blieben, | |
| und starb an den Folgen einer Unter- oder Mangelernährung. | |
| Hätte sein Tod bei entsprechender medizinischer Betreuung verhindert werden | |
| können? Der damalige Justizminister setzte eine Kommission zum „Umgang mit | |
| psychisch auffälligen Gefangenen“ ein. Im Abschlussbericht stellten die | |
| Expert:innen einen „dringenden Bedarf an Verbesserungen insbesondere in der | |
| personellen Ausstattung des Justizvollzugs“ fest. Zwar wurden in der Folge | |
| zahlreiche neue Stellen vom Justizministerium geschaffen, doch ist die | |
| Folgekommission noch heute damit beschäftigt, ein Konzept vorzulegen. | |
| ## Überbelegte Zellen | |
| Die JVAs erreichen weiterhin die Überlastungsgrenze. Im letzten Jahr waren | |
| nach Angaben des Statistischen Bundesamts 101 Prozent der zur Verfügung | |
| stehenden Plätze in Baden-Württemberg belegt. Das passiert, wenn Zellen mit | |
| mehr Menschen belegt sind, als es eigentlich vorgesehen ist. „Wir sind in | |
| jeder Hinsicht von Ressourcenknappheit geprägt“, sagt Matthias Weckerle, | |
| Anstaltsleiter der JVA Rottenburg. Ganze Gefängnisetagen könnten teilweise | |
| nur von einer Beamtin oder einem Beamten beaufsichtigt werden. | |
| Um die begrenzten vorhandenen Zeit- und Personalressourcen gezielt | |
| einsetzen zu können, wird seit 2019 in allen 17 JVAs Baden-Württembergs die | |
| Telemedizin eingesetzt. Sie erlaubt, dass das Krankenpersonal zum | |
| verlängerten Arm externer Fachmediziner:innen wird. | |
| Die Rückmeldungen der Gefangenen sind oft positiv. Größtenteils | |
| konsultierten sie die Telemediziner:innen wegen Angst- oder Schlafstörungen | |
| sowie Fragen zur Medikation. Nordrhein-Westfalen hat im Mai angekündigt, | |
| Telemedizin in zunächst sieben seiner Haftanstalten einzusetzen. Bewährt es | |
| sich, wird das Vorhaben auch hier auf alle 36 JVAs ausgeweitet. Auch in | |
| Sachsen wird derzeit die Möglichkeit geprüft. | |
| Anstaltsleiter Weckerle hofft auf Lehren aus der Coronakrise. Einerseits | |
| wurden dadurch die Haftbedingungen für viele Gefangene verschärft, | |
| andererseits rund 800 Ersatzfreiheitsstrafen ausgesetzt oder aufgeschoben. | |
| Das betrifft beispielsweise Menschen, die wegen nicht bezahlter Geldstrafen | |
| inhaftiert werden. Auf einen Schlag waren also weniger Gefangene in Haft. | |
| Die Personal- und Belegungssituation entspannte sich. Deshalb müsse ein | |
| Zurück zur Überbelegung jetzt vermieden werden. | |
| ## Das Häftlingsstigma | |
| Wenn man den Anstaltsarzt Karlheinz Keppler fragt, ob die | |
| Gesundheitsversorgung in deutschen Gefängnissen flächendeckend mangelhaft | |
| sei, antwortet dieser mit einem „Nein, aber“. Die Qualität der Versorgung | |
| variiere von Bundesland zu Bundesland und von Arzt zu Arzt stark. Gefangene | |
| mit Suchtproblemen und unter Substitution haben eigentlich das Recht, | |
| einmal die Woche von einem:r Ärzt:in gecheckt zu werden. | |
| Doch nicht immer wird das auch umgesetzt. „Es gibt Ärzte, die sagen: So | |
| etwas wie Substitution gibt es bei mir nicht“, sagt Keppler. Insbesondere | |
| Bayern habe sich lange Zeit dagegen gewehrt, überhaupt zu substituieren. | |
| Erst ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem | |
| Jahr 2016 änderte dies. | |
| Keppler fordert daher eine Abschaffung des Betäubungsmittelgesetzes und | |
| sagt, ein Problem wie Sucht könne man nicht gesetzlich, sondern nur | |
| medizinisch regeln. Die Forderung deckt sich mit den Erfahrungen aus der | |
| Coronakrise, dass Gefängnisse deutlich entlastet sind, wenn | |
| Ersatzfreiheitsstrafen ausgesetzt werden: weniger Häftlinge, weniger | |
| Überlastung des Personals. „Die Knäste wären halb leer, wenn man die | |
| Suchtleute nicht einsperren würde.“ | |
| Auch die Dortmunder Expertin Christine Graebsch sagt, das Problem lasse | |
| sich nicht etwa mit mehr Personal lösen. Den Gefangenen hafte ein Stigma | |
| an, das sich auch auf die Gesundheitsversorgung auswirke. „Besonders unter | |
| Anstaltsärzten ist die Haltung sehr verbreitet, dass Gefangene selbst | |
| schuld sind an ihrer Situation oder gar simulieren“, sagt sie, insbesondere | |
| hinsichtlich Personen mit Suchtproblematik. Ihr Vorschlag: eine unabhängige | |
| Kommission, die die Versorgung in den Gefängnissen beobachtet und Fehler | |
| untersucht. | |
| ## Fazit | |
| Probleme gibt es also dreierlei: fehlende Regulierung und Kontrolle, zu | |
| wenig Personal für zu viele Häftlinge und eine Ungleichbehandlung von | |
| Gefangenen gegenüber Nichtgefangenen in der medizinischen Versorgung. | |
| Peter Bögel ist inzwischen aus dem Gefängnis raus, arbeitet als Fahrer für | |
| eine Spedition. Er wünscht sich, dass die Anstalt ihren Fehler eingesteht – | |
| und daraus Konsequenzen zieht. Gemeinsam mit seinem Anwalt fordert er nun | |
| Schmerzensgeld. Vor allem will er aber erreichen, dass die | |
| Medikamentenausgabe in der JVA besser reguliert und von medizinischem | |
| Fachpersonal ausgeführt wird. | |
| Die strukturellen Probleme unterscheiden sich zwischen den Bundesländern, | |
| sind jedoch in ganz Deutschland zu beobachten. Was es braucht, ist eine | |
| bundesdeutsche Evaluation und Regelung, damit Zahlen vergleichbar, | |
| Versorgung kontrollierbar und Mängel sichtbar werden. | |
| Denn der Grundgedanke von Justizvollzugsanstalten liegt im Vollzug von | |
| Haftstrafen, nicht in der Behandlung von Gefangenen als Patient:innen | |
| zweiter Klasse. | |
| Die Fotos: Die freie Fotografin Nora Börding fotografierte 2018 im | |
| Justizvollzugskrankenhaus Fröndenberg in NRW, um zu zeigen, wie sich der | |
| dortige Alltag von dem in einem normalen Krankenhaus unterscheidet. Diese | |
| Fotoarbeit entstand unabhängig vom vorliegenden Text. | |
| 4 Aug 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.msdmanuals.com/de-de/profi/intensivmedizin/behandlung-von-inten… | |
| ## AUTOREN | |
| Torben Becker | |
| Aiko Kempen | |
| Sarah Ulrich | |
| ## TAGS | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| psychische Gesundheit | |
| Bayern | |
| NRW | |
| Gesundheitspolitik | |
| Gesundheit | |
| Sachsen | |
| JVA | |
| Justiz | |
| deutsche Justiz | |
| Strafvollzug | |
| psychische Gesundheit | |
| Drogenhilfe | |
| Vechta | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Hausarzt | |
| Medizin | |
| Dirk Behrendt | |
| Pflegekräftemangel | |
| Niedersachsen | |
| Justizvollzug | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Gesundheitliche Versorgung im Gefängnis: Mit Psychopharmaka durch die Haft | |
| Hamburger Gefängnisse verabreichen ihren Insassen vermehrt Medikamente | |
| gegen psychische Störungen. Die Linksfraktion fordert eine Untersuchung. | |
| Substitutionsambulanz vor dem Aus: Drogenhilfe sucht neuen Vermieter | |
| Die Substitutionsambulanz in Kreuzberg verliert ihre Räume – und ruft mit | |
| einer Kundgebung um Hilfe. Ein erstes Angebot gibt es wohl bereits. | |
| JVA-Leiter über Traumatherapie: „Der Vollzug muss sich öffnen“ | |
| Die Vechtaer Justizvollzugsanstalt für Frauen bietet eine stationäre | |
| Traumatherapie an. JVA-Leiter Oliver Weßels erhofft sich davon weniger | |
| Rückfälle. | |
| Gefängnisse in der Coronakrise: Eingesperrt und isoliert | |
| Der Lockdown traf Inhaftierte in deutschen Justizvollzugsanstalten | |
| besonders hart. Droht jetzt die erneute Isolation? | |
| Hausärztin über Arbeit auf dem Land: „Eine andere Bindung zum Patienten“ | |
| Kristina Spöhrer ist Hausärztin in Winsen/Luhe. Der Ärzt*innenmangel auf | |
| dem Land habe verschiedene Gründe, sagt sie. | |
| Medizinnobelpreis für drei Virologen: Die Entdeckung von Hepatitis C | |
| Die US-Virologen Harvey Alter und Charles Rice sowie der Brite Michael | |
| Houghton erhalten den Medizinnobelpreis. Das Preisgeld liegt bei 950.000 | |
| Euro. | |
| Berichtspflicht in Berliner Gefängnissen: Gewappnet sein | |
| Demokratiefeindliche Tendenzen von Strafvollzugsmitarbeitern müssen fortan | |
| gemeldet werden. Justizsenator weist Kritik an der Maßnahme zurück | |
| Sars-CoV-2 in den USA, in Israel und Ägypten: Virus im Gefängnis und Krankenh… | |
| In Florida stecken sich täglich mehr als 10.000 Menschen an, in Ägyptens | |
| Gefängnissen grassiert das Virus. In Israel streiken PflegerInnen gegen den | |
| Notstand. | |
| Zellenfenster werden kleiner: Gesiebte Luft wird noch dünner | |
| Vor Fenster in Gefängnissen in Niedersachsen kommen künftig Lochbleche. | |
| Gefangene klagen über zu wenig Frischluft und eine Aufheizung der Zellen. | |
| Tod von Amad Ahmad in der JVA Kleve: Behördenversagen mit Todesfolge | |
| Amad Ahmad saß wegen einer Verwechslung zwei Monate lang unschuldig im | |
| Gefängnis. Dann brannte es in seiner Zelle – und er starb. Eine | |
| Rekonstruktion. |