# taz.de -- Gesundheitliche Versorgung im Gefängnis: Mit Psychopharmaka durch … | |
> Hamburger Gefängnisse verabreichen ihren Insassen vermehrt Medikamente | |
> gegen psychische Störungen. Die Linksfraktion fordert eine Untersuchung. | |
Bild: Neuroleptika, Benzos, Antidepressiva – im Knast werden immer mehr Psych… | |
BREMEN taz | Neuroleptika, Benzodiazepine, Antidepressiva – immer mehr | |
Medikamente gegen psychische Störungen werden in Hamburgs Haftanstalten | |
verschrieben. Das zeigt unter anderem eine Kleine Anfrage der Fraktion Die | |
Linke in der hamburgischen Bürgerschaft. Die Fraktion fordert nun ein | |
Expert*innen-Gremium, das die psychologische und psychiatrische Versorgung | |
von Gefangenen im Strafvollzug begutachten soll. | |
Ein paar Zahlen aus der Anstalt im Stadtteil Billwerder verdeutlichen die | |
Größenordnung: Von Neuroleptika (wirken antipsychotisch und sedierend) | |
wurden dort 2019 rund 13.500 Tagesdosen bestellt, 2021 waren es 31.700. | |
Ähnlich sieht es [1][bei Benzodiazepinen (angstlösend und sedierend)] und | |
bei Antidepressiva aus: Die Tagesdosen an Benzos stiegen von 500 auf 2.100, | |
die der Antidepressiva von 16.400 auf 46.600. In den meisten anderen | |
Anstalten ist der Trend der gleiche, wenn auch nicht überall ganz so | |
ausgeprägt. | |
Die Zeit hatte bereits im Januar in einem [2][großen Feature darauf | |
aufmerksam gemacht,] dass die Zahl der verschriebenen Medikamente in der | |
Hamburger U-Haft um ein Vielfaches über dem Schnitt für Menschen in | |
Freiheit liegen. | |
Das ist erst einmal nicht verwunderlich: Zum einen sind viele Straffällige | |
psychisch krank – nicht selten ist das in Kombination mit anderen Faktoren | |
der Grund, warum sie überhaupt straffällig werden. Zum anderen herrschen | |
auch in der Haft selbst [3][Umstände, die psychische Störungen befördern:] | |
Eingesperrt zu sein, wirkt nicht antidepressiv. | |
## Zahlen schwer zu interpretieren | |
Der Anstieg im Vergleich zu 2019 lässt sich zu großen Teilen wohl durch | |
Corona erklären: Besuchsmöglichkeiten und Freizeitangebote wurden reduziert | |
– alles also, was üblicherweise der Suizidprophylaxe dient. | |
Doch was heißt das alles? Werden Strafgefangene mit Medikamenten | |
ruhiggestellt? Oder muss man vielmehr froh sein, dass ein psychiatrisch | |
vorhandener Bedarf an Medikamenten erkannt und gedeckt wird? Die Daten | |
allein geben eine Erklärung nicht her; trotz einzelner Erklärungsfaktoren | |
stochert man im Dunkeln. | |
Die Behörde beantwortet einen Großteil der Fragen der Kleinen Anfrage | |
damit, dass es zu umständlich sei, von Hand Krankendaten aus den | |
Haftanstalten zusammenzutragen. Auch die taz-Anfrage kann nicht am | |
Donnerstag beantwortet werden. „Man hat es beim Vollzug mit einer | |
ziemlichen Blackbox zu tun“, sagt Nathalie Meyer, Referentin bei der | |
Linksfraktion. Mit einer genauen Interpretation der Zahlen tut auch sie | |
sich schwer. | |
Trotzdem steht zumindest die Befürchtung im Raum, dass zu viele Medikamente | |
verabreicht werden: „Bei solchen erheblichen Mengen an Psychopharmaka | |
stellt sich die Frage, ob die Medikation nicht häufig eine therapeutische | |
Behandlung ersetzen muss, statt sie lediglich zu ergänzen“, schreibt die | |
Linken-Abgeordnete Carola Ensslen. | |
## Wie viel Therapie bräuchte es? | |
Die Behörde hat ihr selbst gesetztes Soll an psychotherapeutischen Stellen | |
in den Haftanstalten jedenfalls in etwa erfüllt. In den regulären | |
Justizvollzugsanstalten (JVA) in Hamburg beträgt das Verhältnis von | |
Psychotherapeut*innen und Gefangenen zwischen 1 zu 144 und 1 zu 172. | |
Zum Vergleich: In der städtischen Gesamtbevölkerung kommt auf 3.000 | |
Menschen ein*e Therapeut*in. | |
Allerdings ist nicht klar, wie viel mehr psychisch Erkrankte es in den | |
Haftanstalten tatsächlich gibt: Schätzungen rangieren zwischen 60 und 80 | |
Prozent der Inhaftierten. Die Linke fordert deshalb für die Haftanstalten | |
ein Verhältnis zwischen Therapeut*in und Gefangenen von mindestens 1 zu | |
100. | |
Fragt man Akteure in der Stadt, die mit Strafgefangenen arbeiten, nach dem | |
zusätzlichen Therapiebedarf, fallen die Antworten ganz unterschiedlich aus: | |
[4][Forensiker Guntram Knecht] kann zwar von erhöhten Fallanfragen seit der | |
Pandemie in seiner forensischen Ambulanz in den Asklepios-Kliniken | |
berichten, lange Wartelisten für eine Psychotherapie gebe es dort aber | |
nicht. | |
Die Straffälligenhilfe Hamburg, die in erster Linie mit aus der Haft | |
Entlassenen konfrontiert wird, glaubt hingegen, ein Therapiedefizit | |
ausmachen zu können: „Wir sehen, dass psychische Störungen in der Haft | |
zugenommen haben“, sagt Geschäftsführerin Maren Michels. „Und wenn ich mir | |
etwa das Thema Drogensucht ansehe, bin ich beeindruckt, wie wenig | |
Therapieangebote es gibt.“ | |
## Expertengremium für mehr Klarheit | |
Fehlende Daten und widersprüchliche Aussagen machen eine Evaluation schwer. | |
Das Expertengremium, das die Linke fordert, soll Abhilfe schaffen. | |
Mediziner*innen und Psycholog*innen sollen sowohl die | |
psychologische als auch die psychiatrische Versorgung von Gefangenen | |
begutachten und der Bürgerschaft Handlungsempfehlungen für verbesserte | |
Bedingungen vorlegen. | |
Wie die von der grünen Senatorin Anna Galina geführte Justizbehörde dazu | |
steht, will am Donnerstag niemand mehr kommentieren; auch die | |
Grünen-Fraktion äußert sich nicht auf eine taz-Anfrage. Die Bürgerschaft | |
jedenfalls hat den Antrag der Linken zur Beratung an den Rechtsausschuss | |
verwiesen. | |
1 Apr 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Neue-Jugenddroge-Benzodiazepine/!5791470 | |
[2] https://www.zeit.de/2022/01/haeftlinge-psychische-krankheit-umgang-gefaengn… | |
[3] /Gesundheitsversorgung-in-Gefaengnissen/!5699817 | |
[4] /Forensiker-Guntram-Knecht-ueber-Therapie-und-Strafe/!5133836 | |
## AUTOREN | |
Lotta Drügemöller | |
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