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# taz.de -- Berliner Justiz in Zeiten von Corona: „Durch totale Isolation“
> Auch in der Justiz und den Knästen gibt es einen Shutdown.
> Strafverteidiger Hannes Honecker beschreibt die Folgen.
Bild: U-Haft in Zeiten von Corona: noch mehr allein als ohnehin schon
taz: Herr Honecker, Gründonnerstag haben 70 Strafverteidigerinnen und
Strafverteidiger bei einer Videotelefonie Bilanz gezogen. Was bedeutet der
Shutdown bei der Justiz und in den Knästen für die Anwaltsarbeit?
Hannes Honecker: Homeoffice für die Staatsanwälte heißt, dass sie nicht
erreichbar sind. Wir rufen an – und niemand nimmt ab. Die Strafjustiz lebt
in einer analogen Welt, sie kennt keine Rufumleitung. Das alles muss
dringend digitalisiert werden.
Können Sie Ihre Mandanten überhaupt noch verteidigen?
Was die Untersuchungsgefangenen betrifft, macht uns das große Sorge. Die
JVA Moabit schafft es zwar prima, den Virus aus der
Untersuchungshaftanstalt herauszuhalten …
… wie gelingt das denn?
Durch totale Isolation. Untersuchungshäftlinge dürfen überhaupt keinen
Besuch mehr erhalten. Alle Gemeinschaftsveranstaltungen wie Sport, Kirche,
selbst die Therapie – alles fällt aus. Nur telefonieren können die Insassen
noch. Aber die Gefangenen wollen mit ihren Angehörigen nicht nur sprechen,
sie wollen sie auch sehen. Das setzt voraus, dass es Videotelefonie mit
entsprechenden Geräten und Zugängen gibt. In der Untersuchungshaftanstalt
steckt das aber noch in den Kinderschuhen.
Ist das in den Strafanstalten denn anders?
In der JVA Heidering zumindest gibt es mittlerweile Skype und die
Möglichkeit zur Videotelefonie.
Wie steht mit Anwaltsbesuchen in der U-Haft?
Anfangs war das sehr schwierig. Gerade werden die Zugänge erleichtert.
Allerdings müssen wir durch eine Trennscheibe mit unseren Mandaten
sprechen. Bis Gründonnerstag gab es nur einen Raum mit Trennscheibe. Die
JVA Moabit hat jetzt das Besucherzentrum geöffnet, wo die
Untersuchungsgefangenen normalerweise Besuch von ihren Angehörigen bekommen
können. Dort sind jetzt vier Plätze mit Trennscheiben für Anwaltsbesuche
geschaffen worden. Die Justizbediensteten haben das in Eigenarbeit gemacht.
Sie sind selbst in den Baumarkt gefahren, um das Material zu holen.
Wie bitte?
Es ist verrückt. Die Justiz ist absolut unterausgestattet. Die
Justizbediensteten machen das, weil sie eine Heidenangst haben, was
vollkommen berechtigt ist. Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn in
Moabit das Virus Einzug hält. Viele Leute müssten dann aus der Haft
entlassen werden. Viele würden dann vermutlich in die Obdachlosigkeit
gehen.
Auch Gerichtsprozesse finden kaum noch statt. Was sind die Folgen?
Es entsteht ein Rückstau, die Rede ist von ein bis drei Monaten
Verfahrensverzögerung. Ich kann nicht beurteilen, ob das stimmt. Aber wir
haben Sorge, dass diese Verfahren künftig vermehrt im Wege sogenannter
In-Camera-Verfahren erledigt werden.
Das heißt im Wege von Strafbefehlsverfahren. Was würde das heißen?
Für den Beschuldigten gäbe es bei Gericht in Moabit keine mündliche
Anhörung mehr. Stattdessen bekommt er per Post ein Schreiben. Er denkt:
Halb so schlimm, vielleicht ist das so etwas wie ein Bußgeldbescheid. In
Wirklichkeit ist es aber ein Strafbefehl. Er ist verurteilt. Das hat
Konsequenzen und kann mitunter sogar in den Knast führen. Beigefügt ist
zwar eine Rechtsmittelbelehrung …
… das sogenannte Kleingedruckte.
Ja. Angenommen, einer wird wegen Ladendiebstahls oder Schwarzfahrens per
Strafbefehl zu einer Geldstrafe verurteilt. Da steht dann drin: Du kannst
zwar Einspruch einlegen, aber in so einem Fall könnte es auch schlimmer
werden.
Worauf wollen Sie hinaus?
Wir befürchten, dass eine Vielzahl von Betroffenen jetzt auf den Einspruch
verzichten wird, nach dem Motto: Wenn es schlimmer kommen kann, akzeptiere
ich das lieber.
War das nicht auch schon vor Corona so?
Die Menschen konnten aber zum Anwalt gehen und sich beraten lassen. Der
Unterschied ist, dass jetzt viele nicht mehr rausgehen.
Dabei sind Wege zum Anwalt von der Ausgangsbeschränkung explizit
ausgenommen.
Dennoch könnte der Shutdown dazu führen, dass sich noch mehr Menschen von
einem Strafbefehl einschüchtern lassen, als ohnehin schon.
Auch bei den Anwälten laufen die Geschäfte also schlechter?
Das ist unterschiedlich. Eines ist aber klar: Im Nachgang von Corona wird
es in allen Rechtsgebieten eine Fülle von Streitigkeiten geben.
11 Apr 2020
## AUTOREN
Plutonia Plarre
## TAGS
Dirk Behrendt
Strafvollzug
psychische Gesundheit
Strafvollzug
Lesestück Recherche und Reportage
Knast
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