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# taz.de -- Gefängnisse in der Coronakrise: Eingesperrt und isoliert
> Der Lockdown traf Inhaftierte in deutschen Justizvollzugsanstalten
> besonders hart. Droht jetzt die erneute Isolation?
Bild: Häftlinge leiden unter der Widersprüchlichkeiten bei der Umsetzung der …
Luckau-Duben taz | An seinem 20. Hochzeitstag sitzt Maik Fried [Name
geändert, d. Red.] alleine in seiner zehn Quadratmeter großen Zelle in der
Justizvollzugsanstalt (JVA) Luckau-Duben. Es ist Mitte April. Für Fried ist
es ein besonders bitterer Tag. Vor 20 Jahren heiratete er seine Frau auf
einem Segelboot in der Karibik. Jeden Hochzeitstag haben sie seitdem
gemeinsam verbracht. Jedes Jahr schauten sie ihren Hochzeitsfilm, lachten
darüber, wie sie sich auf dem schwankenden Deck des Schiffs durch ihren
Eröffnungstanz kämpften. Dieses Jahr verbringen sie den Tag getrennt.
Zu diesem Zeitpunkt gilt in der JVA in Brandenburg schon seit über einem
Monat ein absolutes Besuchsverbot. Bis Fried seine Frau wiedersehen darf,
werden noch zwei weitere Monate vergehen. Und bis heute heißt es beim
Besuch: Abstand, Trennscheibe, Maske und auf gar keinen Fall anfassen.
Die 2005 eröffnete JVA ist eines der modernsten und sichersten
[1][Gefängnisse Deutschlands]. Fried sitzt hier in Haft, weil er eine große
Menge Cannabis in seinem Auto schmuggelte. Er ist einer derjenigen, die
durch den deutschlandweiten Lockdown der JVAs besonders viel verloren
haben. Durch gute Führung hatte er sich für dieses Jahr Ausgänge
erarbeitet, auch ein vierstündiger Besuch seiner Frau zum Hochzeitstag war
bereits genehmigt. Durch die [2][Coronapandemie] fielen sie alle aus.
Zudem waren im Gefängnis zeitweise fast alle Angebote für die Gefangenen
gestrichen. Gottesdienst, Drogentherapie und Schulunterricht fielen weg.
Nur das Telefon auf dem Gang und Briefe blieben als Draht in die Außenwelt.
Mitgefangene berichteten Fried, dass ihre kleinen Kinder sich kaum noch an
sie erinnern konnten. Seit Ende Mai gibt es einen Anspruch auf zwei Stunden
Videotelefonie im Monat.
## Langeweile und Angst
Maik Fried, Ende fünfzig, stämmig, stahlblaue Augen, erzählt all dies
Anfang September in einem spärlich eingerichteten Besuchsraum. Im Wandregal
stehen Kinderbücher. Wo normalerweise Väter mit ihren Kindern spielen,
trennen nun eine Plexiglasscheibe und mehrere Holztische Besucher von
Insassen. Frieds Mimik ist unter seiner Maske kaum zu erkennen. Trotzdem
merkt man ihm seine Empörung an. Immer wieder rutscht er auf seinem Stuhl
herum.
„Depressiv-frustriert“ sei die Stimmung zu Beginn der Pandemie gewesen. Ein
Großteil des Alltags sei plötzlich weggefallen, Langeweile mischte sich mit
Angst. Trotzdem habe man Verständnis für die Maßnahmen gehabt, die
zunehmend eskalierende Situation sei über die Fernseher gebannt verfolgt
worden.
„Aber als dann der Lockerungstango losging, ist die Stimmung gekippt“,
sagt Fried. Der Grund für den Unmut unter den Gefangenen: Während draußen
schon wieder alles normal zu sein schien, blieb das Gefängnis noch bis in
den Sommer im Lockdown. Der Frust ging so weit, dass Fried gemeinsam mit
vier anderen Gefangenen bei seiner Abteilungsleitung mit einem Hungerstreik
drohte.
Die größte Wut löst bei Fried die Inkonsistenz der Maßnahmen aus. Während
Gefangene weder Ausgang noch Besuch bekamen, seien die Beamten unbekümmert
und ohne Maske durch die Anstalt gelaufen. „Dabei sind sie doch die
eigentliche Gefahr, können das Virus jederzeit von außen einschleppen.“
## Bisher erfolgreich – aus epidemologischer Sicht
Dass es in Haftanstalten Widersprüchlichkeiten bei der Umsetzung der
Hygienemaßnahmen gibt, bestätigen auch einige Anwälte. Den
Gefängnisseelsorger Simeon Reininger aus Niedersachsen besorgt zudem die
anhaltende Isolation. „Viele der Gefangenen kommen ohnehin aus sozial
schwierigen Verhältnissen“, sagt er. Die Besuchseinschränkung mache es für
sie noch schwerer, den sozialen Anschluss nicht zu verlieren.
Verantwortlich für die Sicherheit der rund 300 Gefangenen in Luckau-Duben
ist Anstaltsleiter Hanns Christian Hoff. Der Psychologe trägt ein blaues
Jacket und Sneaker. Er führt ohne Mund-Nasen-Schutz durch sein Gefängnis.
Neben dem Besuchsverbot verordnete Hoff der Anstalt gleich zu Beginn der
Pandemie ein strenges Clustersystem, teilte sie in vier Cluster. Alle
Gefangenen eines Clusters wohnen, arbeiten und essen zusammen. Mitinsassen
aus anderen begegnen sie nicht. So sollen Corona-Ausbrüche lokal begrenzt
bleiben.
Einige Gefangene mussten für die Clusterbildung ihren Haftraum wechseln.
Jene, die sich weigerten, verloren ihre Arbeit. Die vielen Einschränkungen
belasten die Psyche der Gefangenen, das weiß auch Anstaltsleiter Hoff.
Trotzdem gelte: „Einen Corona-Ausbruch zu verhindern hat Priorität.“
Bisher hat Hoff mit seiner Linie Erfolg. In der Anstalt gab es noch keinen
einzigen Coronafall, was sicher auch mit lange niedrigen Zahlen in
Brandenburg zusammenhing. Aber auch bundesweit hat sich die Sorge vor
Corona-Massenausbrüchen in Gefängnissen nicht bewahrheitet. Erst 65
Gefangene und 167 Vollzugsbeamt*innen haben sich deutschlandweit bisher
infiziert, die meisten davon in Bayern, Baden-Württemberg und
Nordrhein-Westfalen.
## Sorge vor der zweiten Welle
Ein Teil der Erklärung für den glimpflichen Verlauf der Pandemie in
Gefängnissen: Die Justizministerien reagierten flexibel und scheuten nicht
davor zurück, unbürokratisch Abhilfe zu leisten. So schufen fast alle
Bundesländer freie Kapazitäten in ihren Gefängnissen, indem sie den Vollzug
von Ersatzfreiheitsstrafen temporär aussetzten. Die schon lange in der
Kritik stehenden Strafen bringen jene hinter Gitter, die Geldstrafen nicht
bezahlen.
Gefängniskritiker wie der Ex-Anstaltsleiter Thomas Galli sehen hierin auch
eine Chance der Pandemie. „Die Erfahrungen aus der temporären Abschaffung
der Ersatzfreiheitsstrafen sollten wir jetzt nutzen, um die Möglichkeiten
auch für eine dauerhafte Abschaffung auszuloten“, sagt er.
Mittlerweile vollziehen die Justizministerien Ersatzfreiheitsstrafen
wieder, externe Therapeut*innen arbeiten im Gefängnis, und auch
Gottesdienste finden statt. Doch der Besuch bleibt eingeschränkt,
Berührungen sind weiterhin tabu. Bis die Gefangenen wieder Nähe zu ihren
Familien erfahren können, wird es angesichts steigender Infektionszahlen
noch dauern. „Wie es langfristig weitergehen soll, weiß im Moment niemand“,
sagt der Ex-Anstaltsleiter Thomas Galli.
Die Sorge, unvorbereitet in [3][die zweite Welle] zu laufen, teilt auch
René Müller. Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Strafvollzugsbediensteten
warnt: „Wenn in einem Bundesland viele Bedienstete auf einmal ausfallen,
wären wir schnell überfordert.“ Er regt für Notfälle einen bundesweiten
Plan an, mit dem kurzfristig Bedienstete aus anderen Bundesländern zur
Unterstützung herangezogen werden können. Bisher gibt es einen solchen Plan
nicht.
Die steigenden Infektionszahlen besorgen auch Anstaltsleiter Hanns
Christian Hoff. Er entscheidet gemeinsam mit dem Brandenburger
Justizministerium und den anderen Anstaltsleitern in einer wöchentlichen
Telefonkonferenz über erneute Einschränkungen. Derzeit seien noch keine
Verschärfungen geplant, Brandenburg stehe von den Infektionszahlen her gut
da. Die Entlassungsvorbereitung und Drogentherapien aussetzen zu müssen sei
für ihn nur die allerletzte Option.
23 Oct 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Mitsuo Iwamoto
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